Deutschland @ Kanada 2017
Oral History Projekt: Deutsche in der Waterloo-Region

Weihnachtseinkäufe, King Street, December 20, 1952
University of Waterloo Library. Special Collections & Archives. Kitchener-Waterloo Record Photographic Negative Collection

Die kanadische und die deutsch(sprachig)e Kultur sind seit Langem eng miteinander verwoben. Nicht erst in den letzten Jahren ist Kanada mit seiner geographischen Weite und seiner liberalen, Zuwanderung gegenüber aufgeschlossenen Haltung zum Sehnsuchtsort vieler Deutscher geworden. Deutsche Zuwanderung nach Kanada kann bis weit vor der Gründung der Konföderation vor 150 Jahren zurückverfolgt werden. Eine bedeutende Zuwanderungswelle lässt sich vor allem in der Nachkriegszeit beobachten. Viele Deutsche zog es in die Waterloo-Region. In der Stadt Kitchener (ehemals Berlin) konzentriert sich schon seit langem deutsches Erbe – hier wird z.B. das größte Oktoberfest Nordamerikas veranstaltet.

Im Jahr 2013 kamen Mitglieder der deutsch-kanadischen Gemeinde in Waterloo auf das Centre for German Studies der Universität Waterloo mit der Idee zu, der deutschen Zuwanderung ein Forschungsprojekt zu widmen. Daraus entstand das Oral History Projekt, das es zum Ziel hat, die Lebensgeschichten deutschsprachiger Einwanderer nach Kanada, insbesondere in die Waterloo-Region, in Form biographischer Interviews zu dokumentieren.

Im Zuge dieses Projekts sind von Oktober 2013 bis März 2015 insgesamt 129 Personen mit deutschen Wurzeln für ein Buch und ein für Forschende zugängliches Webarchiv interviewt worden. Das Projekt konzentriert sich auf Zuwanderer erster und zweiter Generation und umfasst einen Zeitraum von den 1930er Jahren bis in die frühen 2010er Jahre, mit einem Schwerpunkt auf der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren. Die Beweggründe der Auswanderung sind, wie aus den Interviews hervorgeht, äußerst vielfältig.

Wir hatten die Gelegenheit, mit Mat Schulze, dem Leiter des Projekts, zu sprechen und ihm einige Fragen zu stellen:

Herr Schulze, warum wurde die sehr aufwendige Methode der Oral History für das Projekt gewählt?
Zunächst würde ich die Oral History nicht als Methode bezeichnen. Wir haben den Begriff eher als Etikett gewählt. Als die Community-Members auf uns zukamen und uns baten, ein Buch über die Einwanderungsgeschichte der Deutschen in die Waterloo-Region zu schreiben, haben wir sofort an Interviews als Methode gedacht. Biographische Interviews haben am besten zu unserem Vorhaben gepasst, möglichst breit gefächerte Informationen über die Lebensgeschichten der einzelnen Menschen zu erhalten. Wir wollten, dass die Menschen möglichst frei aus ihrem Leben berichten. Dabei hatten wir uns verschiedene Themen überlegt, die ein Interview abdecken sollte, wie z.B. Kindheit und Herkunft, Bildung, Arbeit etc. Ganz konkrete Fragen wurden jedoch nicht gestellt, das wäre zu einschränkend gewesen und passte nicht zu unserem Konzept.

Was war das Ziel des Projekts, gab es Ergebnisse bzw. eine zentrale Erkenntnis?
Die Initiative für das Projekt kam aus der Community. Die Menschen kamen auf uns als Professoren zu und baten uns, ein Buch zu schreiben. Die Geschichte der Einwanderung in die Region sei doch sehr interessant und es bestand die Befürchtung, dass viele der wertvollen Informationen verloren gehen würden, da die in der Nachkriegszeit Zugezogenen immer älter würden. Daraus ist das Forschungsprojekt entstanden. Das Buch sollte nicht primär einen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs leisten, sondern auf dem Stand der aktuellen Forschung ein Dokument für die Community sein, für die Menschen, die bereit waren, uns ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Eine zentrale Erkenntnis war für mich – und dabei hat sich eine Vermutung, die ich schon länger hatte, bestätigt – dass die Gruppe der deutschsprachigen Einwanderer sehr heterogen ist. Sie sind zu unterschiedlichen Zeiten eingewandert, gehören verschiedenen sozialen Schichten an, übten die unterschiedlichsten Berufe aus.

60. Hochzeitstag Eheleute Leinweber
© Germanic Department University of Waterloo
Die meisten deutschsprachigen Einwanderer kamen in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus Bevölkerungsgruppen in Europa, die von Flucht und Vertreibung als Folge des Krieges betroffen waren. Als „displaced persons“ gab es für sie ab 1947 die Möglichkeit, nach Kanada zu kommen. Viele Deutschsprachige wanderten also nicht aus dem „Deutschen Reich“ aus, sondern kamen aus deutschen Sprachinseln aus dem heutigen Rumänien, Polen, dem Balkan.  Viele dieser Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen, Sudetendeutschen und ähnliche Gruppen hatten zuerst in Deutschland Zuflucht gesucht. Sie kamen häufig aus ländlichen Regionen und landeten auch in Deutschland in ländlichen Gegenden. Viele berichteten, dass sie sich später in Kanada willkommener und besser aufgenommen gefühlt haben.

Wie würden Sie das erklären? Warum ist Ihnen die Integration in Kanada so gut gelungen?
Oh, das ist sehr komplex. Dass sich die deutschen Zuwanderer in Kanada häufig wohler fühlten als im Deutschland der Nachkriegszeit, lässt sich sicher so erklären, dass die wirtschaftliche Situation nach dem Krieg für alle in Deutschland sehr prekär war. Und wenn es einem selbst nicht gut geht, ist man weniger bereit, Fremde aufzunehmen und willkommen zu heißen. Kanada und insbesondere die Waterloo-Region hat eine lange Einwanderungsgeschichte. Um 1800 kamen die ersten deutschsprechenden Mennoniten in die Region, ab 1830 kamen sie dann direkt aus Europa. Die Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg kamen und traumatische Erfahrungen gemacht hatten, waren sehr bereitwillig, Englisch zu lernen. Ich würde fast sagen, dass es Dankbarkeit gegenüber Kanada war, die viele dazu bewegte, Englisch zu lernen. In vielen Familien wird das Deutsche zwar auch noch gepflegt, aber Englisch gewinnt mit fortschreitender Zeit immer mehr die Überhand. Das Bedürfnis, nach den traumatischen Erlebnissen, auch wenn man sie gar nicht mehr selbst erlebt hat, dazuzugehören und Teil der kanadischen Gesellschaft zu werden, ist oft sehr groß.

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