Ein Gespräch mit Alfredo Salazar-Caro
Die Erde mit neuen Augen sehen
Alfredo Salazar-Caro ist Künstler, Pädagoge, Gestalter und Creative Director am Virtual-Reality-Museum „Digital Museum of Digital Art“. Auf Einladung des Goethe-Instituts Montreal hat er an New Nature, einem Austausch immersiver Medien- und Klimawissenschaften teilgenommen. Im Anschluss hatten wir Gelegenheit, mit Alfredo Salazar-Caro ausführlicher über VR, neue Ideen für menschliche Lebensräume und autarke Lebensmittelversorgung zu sprechen.
Von Janna Frenzel
Vielen Dank, Herr Salazar-Caro, dass Sie sich die Zeit nehmen, um näher auf einige der Diskussionsthemen von „New Nature“ und ihre eigene Arbeit einzugehen. Sie beschäftigen sich mit den Themen Flucht, Migration und Grenzpolitik sowie Umweltzerstörung. Was ist Ihre Herangehensweise an die Schnittstellen dieser Bereiche?
Mein jüngstes Projekt – Dreams of the Jaguar’s Daughter, Chapter 1 – habe ich 2019 beim Tribeca Film Festival vorgestellt. Es handelt sich um einen dreiteiligen Dokumentarfilm, in dem Achik', der Geist einer jungen Immigrantin, den Zuschauer durch ihre Träume und ihre Erinnerungen an den Weg von Mittelamerika nach Norden begleitet.
Die Gründe hinter den Massenmigrationen sind sehr komplex, aber letzten Endes kann man, denke ich, eine Handvoll von Ursachen dafür ausmachen. Migration aus Mittelamerika hat viel mit der unvorstellbaren Dimension der Gewalt zu tun, die direkt mit der Einflussnahme durch die USA zusammenhängt, beispielsweise durch die Unterstützung und Finanzierung der Contras [rechtsextremistische Rebellen] während der Amtszeit von Präsident Reagan. So herrscht in diesen Ländern heute ein Klima der Gewalt, das durch die politischen Entscheidungen der letzten 40 Jahre hervorgebracht wurde. Das alles wird durch Umweltkatastrophen noch verstärkt, die teilweise mit dem Klimawandel zusammenhängen, teilweise aber auch nicht, wie zum Beispiel 2018 der Ausbruch des Volcán de Fuego in Guatemala. Die gesamte Bevölkerung der Arbeiterstadt am Fuße des Berges wurde heimatlos, die Menschen flohen in die Nachbarstädte oder nach Mexiko oder in die USA.
Durch Medien entwickeln wir Empathie
Aber unabhängig von den Herausforderungen individueller geographischer Regionen sehen wir auf der ganzen Welt, dass Menschen durch Klimawandel, soziale Unruhen und Kriege massenweise in die Flucht getrieben werden, ob in Mittelamerika, im Jemen, in Somalia oder anderswo. Die ökologischen Gegebenheiten gehen oft mit militärischen Konflikten und neoimperialistischen Machtstrategien einher und all diese Aspekte müssen gleichzeitig angegangen werden. Genau das versuche ich in meiner Arbeit.Nach welchen Kriterien suchen Sie als Künstler Ihre Mittel und Medien aus?
Ich sehe mich inzwischen mehr als Gestalter und weniger als Künstler. Ich denke nicht, dass man meine Projekte als Kunst einordnen muss – mir ist es wichtiger, meine schöpferische Kraft so einzusetzen, dass ich kreative Lösungen zu den Problemen anbiete, mit denen wir konfrontiert sind. Das neueste Medium, das mich fasziniert, ist die virtuelle Realität (VR). Filme und andere 2D-Medien hatten immer schon eine enorme Wirkung und wir haben erkannt, dass Bilder Emotionen wecken. Durch Medien entwickeln wir Empathie, verlieben uns oder hassen jemanden auf dem Bildschirm, es entstehen gesellschaftliche Normen und Erwartungen, die Einfluss darauf nehmen, wie wir aussehen, was wir essen, was wir anziehen.
Die virtuelle Realität nimmt auf ähnliche Weise Einfluss, ist aber exponentiell stärker, weil sie uns ein anderes Gefühl des Dabeiseins gibt. Wir sind nicht mehr nur Zeugen einer Dramatik, die sich vor uns auf dem Bildschirm oder der Leinwand abspielt, sondern wir stecken selbst mitten drin. Und das Unterbewusstsein unterscheidet nicht zwischen einem simulierten und einem echten Erlebnis. Daher ist die VR ein Medium, über das man stärker Einfluss nehmen kann als je zuvor und das besonders spannende und wirkungsvolle Möglichkeiten bietet. Dieses große Potential bedeutet naturgemäß auch eine große Verantwortung. Schon jetzt verlangt der Mainstream oft nach noch mehr hypermaskulinen, gewaltverherrlichenden Inhalten. Aber ich sehe auch die Chance, Inhalte zu verbreiten, die uns helfen, mehr Empathie für unsere Mitmenschen zu entwickeln. Darin sehe ich eine Menge Potential.
Aber da wir gerade über wirkungsstarke Medien sprechen – was mich auch total fasziniert, ist das Gegenteil der virtuellen Realität – die sogenannte „true reality“ und die Erde, und unser Verhältnis dazu. Wenn wir uns bemühen, mit der Erde im Einklang zu leben, bekommen wir so viel zurück: etwa kostenlose Nahrung und Medizin. Dieses Geben und Nehmen und das Aufeinander-Angewiesensein, das ist alles natürlich nichts Neues, aber ich denke, wir sollten uns dieses alte Medium einmal mit neuen Augen ansehen.
Möglichkeiten zur Demokratisierung von Technologie
Bislang haben nur wenige Leute die Gelegenheit zu VR-Erlebnissen. Was denken Sie über die Zugänglichkeit zu diesem Medium? Führt die Entwicklung zu einer Demokratisierung oder in eine andere Richtung?Zurzeit ist die virtuelle Realität ohne Frage ein exklusives Medium. Es ist nicht ganz leicht zu sagen, wo der Weg hinführt. Natürlich gibt es die kommerziellen Interessen einer Hi-Tech-Elite, die eine bestimmte Sichtweise hat und es begrüßen würde, wenn jeder ein VR-Headset besäße, wie ein ganz gewöhnliches Produkt. Aber das Ziel, alle Menschen mit VR-Headsets auszustatten, würde automatisch bedeuten, dass wir mit dem Verbraucherkapitalismus weitermachen. Das bedeutet in der Konsequenz: mehr Abbau von natürlichen Rohstoffen, mehr Abholzung, mehr Abbau von Mineralien und Seltenerdmetallen, mehr Ausbeutung von Menschen. Die Verfahren, die beim Abbau von Rohstoffen praktiziert werden, schaden der Umwelt und auch dem Menschen. Aber diese Vorgänge sind so weit aus unserem Blickfeld gerückt, dass wir nicht weiter darüber nachdenken, wie viel Umweltzerstörung und wie viel Vertreibung und Ausbeutung von Menschen in unseren Lieblingsspielzeugen stecken.
Daher halte ich es nicht unbedingt für eine gute Idee, diese Wirtschaft zu unterstützen, aber es gibt auch andere Möglichkeiten zur Demokratisierung von Technologie. Ich persönlich bin von der Praxis des Upcyclings überzeugt. Es sind schon jetzt so viele technische Geräte im Umlauf, die bereits die meisten der Komponenten enthalten, die man für ein VR-Headset benötigt. Ich fände es gut, wenn neue Gesetze verabschiedet würden, die das Upcycling für neue Technologien in viel größerem Umfang als bisher ermöglichen würden, so dass sich auch weniger Elektroschrott anhäufen würde. Im Zuge der Weiterentwicklung dieser Branche wird man hoffentlich immer mehr CO2-arme oder CO2-freie Lösungen einsetzen.
Neben dem Bereich VR engagieren Sie sich für die „Guild of Future Architects“ und beschäftigen sich mit der „Earthship“-Bewegung. Was interessiert Sie besonders an diesen Ansätzen, bei denen es um die Erneuerung der Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt geht, vor allem unter gestalterischen und städtebaulichen Gesichtspunkten?
Die Guild of Future Architects beschäftigt sich mit radikalen Gestaltungsideen. Sie ist ein Zusammenschluss ganz unterschiedlicher Fachleute, vergleichbar mit New Nature. Gemeinsam setzen wir unsere Kreativität dafür ein, bessere Zukunftsvisionen zu entwickeln und hierfür auch die Grundsteine zu legen. Earthships („Erdschiffe“) sind Gebäude, die vom Architekten Michael Reynolds inspiriert sind. Reynolds will erdverträglicher bauen als viele seiner Zeitgenossen, die mit CAD-Programmen, Stahl und Beton arbeiten. Im Kern erfüllen Earthships sechs Grundbedürfnisse des Menschen: sauberes Wasser, Strom, Wohnkomfort, eigene Abwasserentsorgung, eigene Abfallentsorgung, eigener Lebensmittelanbau.
Das Konzept fasziniert mich, besonders in Bezug auf den Umgang mit Abfall. Als Hauptbaumaterial werden in großer Menge Abfallstoffe wie alte Reifen, Flaschen und Dosen eingesetzt und dann wird alles in Erde eingepackt. Das ist eine phantastische Lösung, um unserer Müllberge Herr zu werden und die Abfälle sinnvoll einzusetzen. Vielleicht nicht perfekt, aber besser als immer mehr Wälder abzuholzen oder immer mehr Öl zu fördern, um Baustoffe aus Kunststoff herzustellen.
Eine Siedlung von Earthships
Angesichts der Herausforderungen der näheren Zukunft haben wir, glaube ich, keine andere Wahl als darüber nachdenken, wie wir unsere Wohngebäude möglichst umweltneutral und ressourcenautark gestalten können. Die Idee des Selbstversorgerhauses ist im Grunde schon sehr alt. Beispiele dafür findet man bereits im 14. Jahrhundert im zentralen Mexiko. Die „Mexica” waren Gebäude, die ohne die ganze Infrastruktur auskamen, die wir heute als Notwendigkeit betrachten, aber dennoch viele derselben Merkmale boten, etwa sauberes Wasser und ein Abwassersystem, das zum Bewässern und Düngen von Pflanzen genutzt wurde. Ich halte es für wichtig, heute in die Vergangenheit zu schauen und Beispiele dafür zu suchen, wo unseren Vorfahren etwas gut gelungen ist, und das dann mit unserem neuen Wissen und unseren neuen Technologien in die heutige Zeit zu übertragen. Und ich denke, Michael Reynolds hat hier mit seiner Earthship-Bewegung einen Schritt in die richtige Richtung getan.Womit ich mich zurzeit in der Guild of Future Architects in Anlehnung an diese Earthships beschäftige, ist ein Konzept für neue menschliche Lebensräume, die ich als „meadows“ („Weiden“) bezeichne. Mit einer Gruppe von Leuten versuchen wir herauszuarbeiten, wie eine Siedlung von Earthships aussehen könnte, die von einem Waldgarten („food forest“) umgeben ist. Ein Waldgarten ist ein gezielt angepflanzter Wald, der autark ist und in dem jede Menge Heilpflanzen und essbare Pflanzen wachsen. Wie wäre es, wenn wir anstelle unserer Vororte solche „Weiden“ hätten, die den Bewohnern Lebensmittel liefern und gleichzeitig ein CO2-neutrales Wohnen ermöglichen? Das ist zur Zeit eines meiner Lieblings-Gedankenexperimente: im Detail zu überlegen, wie so etwas in der Praxis aussehen könnte.
Welches Bild einer Utopie haben Sie Sie ausgehend von diesen Ideen vor Augen, wenn Sie an die Erneuerung der Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt denken?
Den Begriff der Utopie mag ich nicht, weil er an eine extreme Idealvorstellung denken lässt, die nie wahr wird. Es gibt keinen perfekten Zustand des Seins. Unseren Vorfahren stand das Land im ursprünglichsten denkbaren Zustand zur Verfügung und trotzdem wurde ihr Leben durch Vulkanausbrüche oder Hurrikane zerstört. Aus meiner Sicht kommt das Konzept der „Meadows“ der Vorstellung eines neuen Lebensraums am nächsten. Schauen Sie doch, ganz gleich wo man wohnt, ob im Upstate New York, in Mexiko oder im Schwarzwald – immer lassen sich diese Strukturen an die individuellen Klimabedingungen vor Ort anpassen. Man kann heimische Pflanzen anbauen und ernten, sich selbst mit Lebensmitteln versorgen, die CO2-intensiven und erdölabhängigen Systeme durchbrechen und klimaneutral leben.
Ich stelle mir Südamerika oft als guten Ausgangspunkt für das „Meadows“-Projekt vor, weil es dort in mancher Hinsicht viel mehr Freiheiten gibt als in den USA. Ich gehe davon aus, dass in den kommenden Jahren zahlreiche solcher Ideen aufkommen werden, zumal die Städte keine idealen Lebensbedingungen mehr bieten. Die Pandemie hat deutlich gezeigt, dass Großstädte in vielen Punkten besonders anfällig sind, nicht nur in Bezug auf die Ausbreitung einer Infektion, sondern auch auf unsere heutige Lebensmittelwirtschaft. Wenn Menschen aus Panik Hamsterkäufe tätigen, haben die, die zu spät kommen, auf einmal nichts mehr zu essen und wissen nicht, wie sie sich versorgen sollen. Dieses Problem könnte man durch neuartige Lebensräume lösen, die keine besondere Dichte erfordern und eine autarke Lebensmittelversorgung ermöglichen. Natürlich können auch Städte so umgestaltet werden, dass diese Ziele erreicht werden. Autonomie in der Lebensmittelversorgung lässt sich auf verschiedenen Ebenen realisieren: in den Städten, den „Weiden“ und den Vororten.
Letzten Endes sind Earthships und Waldgärten gar nichts Schwieriges – was daran schwierig ist, ist die politische Seite. Der Einfluss des großen Öl- und Gasgeschäft auf unser alltägliches Leben und Arbeiten ist enorm. Solange wir uns aus dieser Konzernherrschaft nicht befreien können, glaube ich nicht, dass diese Utopie wahr werden kann.
Alfredo Salazar-Caro
Alfredo Salazar-Caro ist in Mexico City, in New York und im Internet gestalterisch tätig. Seine Werke sind ein Amalgam aus Portraitkunst, Installationen/Skulpturen, Dokumentationen, Video und VR/AR. Salazar-Caro ist Co-Creator und Creative Director am Digital Museum of Digital Art (DiMoDA). Das DiMoDA ist ein innovatives Projekt, das als Institution und Ausstellungsplattform für VR konzipiert ist und sich der Weiterentwicklung der XR-Kunst widmet. Seine Arbeiten werden international präsentiert, unter anderem bei folgenden Veranstaltungen und Ausstellungen: Tribeca Film Festival, Dreamlands (Whitney Museum), The Wrong Biennale (São Paulo, Brasilien), New Normal (Beirut/Istanbul), Die Ungerahmte Welt (HeK, Basel, Schweiz), Siggraph Asia (Bangkok, Thailand) und 1Mes1Artista (Mexico City). Seine Arbeiten werden in Publikationen wie Leonardo, Cultured Magazine, Vice Magazine und Creators Project vorgestellt.