„Man hatte nichts zu sagen“
Bertolt Brecht und der Rundfunk

Porträt von Bertolt Brecht (1898–1956)
Porträt von Bertolt Brecht (1898–1956) | © picture alliance / Photo12/Archives Snark

Wenn das Radio in Deutschland einhundertsten Geburtstag feiert, darf an der Geburtstagstafel dieser Gast nicht fehlen: Bertolt Brecht. Welche Bedeutung Brecht bei der Gestaltung des Rundfunks, wie wir ihn heute kennen, zukommt, hat Andreas Ströhl aufgeschrieben.
 

Von Andreas Ströhl

In seiner Rede über „die Funktion des Rundfunks“ 1932 stellte Bertolt Brecht die Forderung auf: „Kunst und Radio sind pädagogischen Absichten zur Verfügung zu stellen“ [1]. Er behauptete,

„daß etwa eine Anwendung der theoretischen Erkenntnisse der modernen Dramatik, nämlich der epischen Dramatik, auf das Gebiet des Rundfunks außerordentlich fruchtbare Ergebnisse zeitigen könnte. […] Auch eine direkte Zusammenarbeit zwischen theatralischen und funkischen Veranstaltungen wäre organisierbar“. [2]

Bei Brechts sogenannter Radiotheorie handelt es sich um ein paar zwischen 1927 und 1932 entstandene Notizen, Zeitungsartikel und Reden, in denen Brecht seine Kritik am gegenwärtigen Radio und seine Hoffnungen auf und Forderungen für ein künftiges skizziert. Erstmals stellte hier jemand politische Forderungen, die sich weniger auf die Inhalte von Medien bezogen als vielmehr auf die Schaltung ihrer Kanäle.

Radio als Gegensprechanlage

Das Radio, so Brecht, wäre technisch in der Lage, eine Gegensprechanlage zu sein. Stattdessen ist es eine Einbahnstraße, die nur passive Rezeption zulässt, Distribution also statt Kommunikation. Und eben dies, fordert Brecht, muss geändert werden, um den Rundfunk in den Dienst einer vernünftigen gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen. Sein Vorschlag „für den Intendanten des Rundfunks“: „Meiner Ansicht nach sollten Sie aus dem Radio eine wirklich demokratische Sache zu machen versuchen.“ [3]

„Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. […] Der Rundfunk muß den Austausch ermöglichen.“ [4]

Doch niemand außer den bislang vom öffentlichen Leben, von politischen Entscheidungen und wirtschaftlicher Teilhabe ausgegrenzten Bevölkerungsteilen konnte ja daran Interesse haben, dass der Rundfunk half, das herrschende System infrage zu stellen.

„Die Resultate des Radios sind beschämend, seine Möglichkeiten sind ‚unbegrenzt‘. […] Würde ich glauben, daß diese Bourgeoisie noch hundert Jahre lebte, so wäre ich überzeugt, daß sie noch Hunderte Jahre von den ungeheuren ‚Möglichkeiten‘ faselte, die zum Beispiel im Radio stecken.“ [5]

Provokativ fragt Brecht, weshalb seine Forderungen an den Rundfunk eigentlich als so utopisch belächelt werden: „Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.“ [6]

Rundfunk und Kaffeemusik

Allerdings gibt Brecht keinerlei Hinweise darauf, wie sich dieses bessere, dialogische Radio gesellschaftlich verwirklichen lassen könnte. Die Katze beißt sich in den Schwanz, denn ein besserer Rundfunk könnte zwar zu einer besseren Gesellschaft führen. Aber nur andere gesellschaftliche Voraussetzungen könnten einen solchen verbesserten Rundfunk ermöglichen.

Im Gegensatz etwa zu den einkanaligen Medien Zeitung, konventionelles Radio und Fernsehen sind dialogische Medien wie der Brief, das Telefon, die E-Mail, rückkanalfähig. Sender und Empfänger tauschen hier ständig die Rollen, steuern den Fortgang der Kommunikation gemeinsam und tragen auch gemeinsam Verantwortung für ihre Beziehung zueinander. Genau dies ist es, was Brecht mit seiner Radiotheorie einforderte.

Doch der Rundfunk „als Stellvertreter […] des Theaters, der Oper, des Konzerts, der Vorträge, der Kaffeemusik, des lokalen Teils der Presse und so weiter […] hat […] nahezu alle bestehenden Institutionen, die irgend etwas mit der Verbreitung von Sprech- und Singbarem zu tun hatten, imitiert“ [7], aber nichts Eigenes geschaffen.

„Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal vom Radio hörte. Es waren ironische Zeitungsnotizen über einen förmlichen Radio-Hurrikan, der an der Arbeit war, Amerika zu verwüsten. Man hatte aber trotzdem den Eindruck einer nicht nur modischen, sondern wirklich modernen Angelegenheit. Dieser Eindruck verflüchtigte sich sehr rasch, als man dann auch bei uns Radio zu hören bekam. […] Es war ein kolossaler Triumph der Technik, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt zugänglich machen zu können.“ [8]

Radio – wer hat’s bestellt?

Der Grund, weshalb das Radio nur als Distributionsapparat und gerade nicht, wie eigentlich wünschenswert, als Zweibahnstraße, als Kommunikationsapparat, eingesetzt wird, ist keineswegs technischer Natur. Das Radio ist eine Erfindung, „die nicht bestellt“ war, „die sich ihren Markt erst erobern“ [9] musste. „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.“ [10] Der Bedarf für die neue Technologie musste erst künstlich geschaffen werden; die „technische Entwicklung“ trieb die gesellschaftliche vor sich her. „Nicht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit“. [11]

Radio am Lagerfeuer

Wie jede medientechnische Entwicklung ist auch das Radio zunächst einmal eine kriegstechnische Erfindung des Ersten Weltkriegs zur Koordination von Panzern, Flugzeugen und U-Booten gewesen. Nur gegen zähe Widerstände der Wehrmacht wurde es, erst 1923, für zivile Nutzung freigegeben.

Bereits im Jahr 1929, als er noch Gouverneur von New York war, entdeckte Franklin D. Roosevelt das Radio als Möglichkeit, seinen Bürgern auf gleichermaßen eindringliche wie intime Weise zuzureden. Zwischen 1933 und 1944, dann als Präsident der Vereinigten Staaten, systematisierte und perfektionierte er dieses Format in 30 sogenannten Fireside Chats (Lagerfeuer-Gespräche), die seine sympathische Stimme zur Geltung brachten, aber die Symptome seiner Kinderlähmung verbergen halfen. Die Technik hatte die Trennung von öffentlichem und privatem Raum aufgehoben.

Radio im Nationalsozialismus

Die Nationalsozialisten in Deutschland hatten zur selben Zeit andere, aber mindestens ebenso effektive Ideen zum Radio. Im August 1933, nur ein Jahr nachdem Brecht im Juli 1932 seine Rede über die Funktion des Rundfunks veröffentlicht hatte, wurde der im Auftrag des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels entwickelte „Volksempfänger“ vorgestellt. Von nun an sollte das Volk empfangen, weiter nichts. Wer Radio empfängt, und zwar am besten nur einen einzigen Sender, der ist empfänglich für Befehle von oben – so das Kalkül der Nationalsozialisten. „Die Nationalsozialisten […] wussten, dass der Rundfunk ihrer Sache Gestalt verlieh wie die Druckerpresse der Reformation.“ [12] Die Anzahl der Rundfunkempfänger im „Dritten Reich“ stieg von Jahr zu Jahr.

Bertolt Brechts Stimme und die Stimmen seiner zahlreichen politischen Mitstreiter*innen waren dagegen nun nicht mehr zu hören. Brecht konnte sich mit seinen Vorstellungen von der partizipativen Nutzung der Radiotechnik nicht durchsetzen. Im Jahr der Einführung des Volksempfängers rettete er sein nacktes Leben aus Deutschland.

Gonna keep my radio on
Till I know just what went wrong
The answer’s out there somewhere on the dial [13]
 

Fussnoten

[1] Bertolt Brecht: „Über Verwertungen.“ in: Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst I 1920–1932. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967, 127.

[2] Brecht: „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“. in: Brecht: Schriften, 138 f.

[3] Brecht: „Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks.“ in: Brecht Schriften, 124.

[4] Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, 134 f.

[5] Brecht: „Radio – eine vorsintflutliche Erfindung?“ in: Brecht: Schriften, 122.

[6] Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, 135.

[7] ibid., 133.

[8] Brecht: Radio – eine vorsintflutliche Erfindung?, 121.

[9] Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, 132.

[10] ibid.

[11] ibid.

[12] Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 2008 (Ersterscheinung: 1969), 168.

[13] Ray Davies: Around the Dial, 198

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