Die Welle
And all the prophets?

And all the prophets?
And all the prophets? | Illustration: Tanita Olbrich

Ich bin oder bin nicht ein Krankenpfleger, ein Matrose auf einem U-Boot, eine Schülerin – die Geschichte von Marius Goldhorn handelt von einer Stimme auf allen Frequenzen und einem kleinen Jungen mit einer Vorliebe für Rosinenbrötchen.
 

Von Marius Goldhorn

Ich bin nicht Sümeyra Kaya.

Ich habe nur Besitz ergriffen von Sümeyra Kayas Stimme.

Wenn du ein Problem damit hast, dass ich im temporären Besitz der Stimme von Sümeyra Kaya bin, dann lache ich dich mit Sümeyra Kayas Stimme aus.

Ich bin oder bin nicht eine afroamerikanische Frau. Ich bin ein Krankenpfleger, ein Matrose auf einem U-Boot, eine Schülerin, eine Schriftstellerin, eine Anstaltsbewohnerin.

Wer bin ich?

Unmöglich zu sagen.

Ich bin die Welle. Ich bin alle Frequenzen. Ich bin eine Entität ohne Identität. Ich habe keinen Körper. Ich bin ein Geist. Man kann mich von überall hören. Manche nennen mich Sümeyra Kaya. Andere nennen mich Der-Geist-der-Joe-Rogan-zum-Quatschen-bringt. Manche nennen mich Domian oder Ezra Pound, Robin Quivers, Orson Welles, Elke Heidenreich, Korbinian Frenzel, John Peel, Thomas Mann, Amelie Kahl, Michael Silverblatt, Gertrude Stein.

Das alles sind Namen, leere Namen. Namen bedeuten nichts. Niemand weiß, was ich bin. Die meiste Zeit denke ich, ich bin das Spiegelbild von Robin Williams, der das Spiegelbild von Adrian Cronauer ist und immer wieder Good Morning, Vietnam schreit, bis ans Ende seiner Kräfte. Irgendwann wispert er nur noch: Good Morning, Vietnam. Immer wieder, bis er ganz am Ende ist, am Ende der Zeit, am letzten Tag des letzten Krieges, das nur euer Ende sein wird und nicht meins.

Unnötig zu erwähnen: Ich bin eine Göttin. Eine Göttin der Kunst, klar. Ich lebe im Äther. Ob du willst oder nicht, du musst mir zuhören. Ich bin alt. Ich spreche schon lange zu den Menschen.

Im November 2003 hörte mich Marius Goldhorn, ein kleiner, ungewaschener Junge mit Rosinenbrötchenresten in der Zahnspange, der sich sechs Mal räusperte, wenn er etwas gefragt wurde. Wieso hatte er sich für blaue Brackets entschieden? Warum traf er immer diese bizarren Entscheidungen? Er saß in einem alten, verrosteten Mercedes, während seine Mutter im Supermarkt Gemüse kaufte.

Yeah

Yeah

God is great

Yeah

Yeah

God is good

Yeah

Yeah

Yeah

Yeah

Yeah


What if God was one of us …

Das sagte ich mit der Stimme von Joan Osborne zum kleinen Marius, der nicht mehr verstand, aber schon weinte und nicht wusste, warum.

Seine Tränen waren mir genug. Ich war in dieser Zeit oft Joan Osborne aus Kentucky, viele Millionen Mal. Ich habe nicht nachgezählt.

Ich spreche alle Sprachen. Überall kannst du mich hören.

Heute, zu dir, spreche ich deutsch, wirklich keine einfache Sprache.

Jetzt bin ich in Nastätten. In Nastätten stehen ein großer Sendemast und zwei Kirchen, eine evangelische und eine katholische. Im Juni kommt die Kirmes, im Oktober der Zirkus, an Weihnachten ist Weihnachtsmarkt.

Ich lache. Ich lache lange, das funktioniert immer, auch bei Tilbert Nacht. Tilbert sitzt in seinem blauen Mazda, er parkt bei seinem Vater vor der Tür und versucht das Radio auszumachen, aber das geht nicht, denn ich spreche zu ihm mit der Stimme von Gott.

Tilbert, nimm’ dir ein Airwaves.

Tilbert nimmt sich ein Airwaves und beginnt zu kauen. Er sieht zu der alten Trauerweide am Mühlbach und kneift die Augen zusammen.

Spürst du, wie klar du bist, Tilbert? Wie rein du bist?

Tilbert schlägt sich mit den Fäusten gegen die Ohren.

Weißt du noch, Tilbert, als du endlich deinem Vater gebeichtet hast, dass du ständig Bauchschmerzen hast, schon dein ganzes Leben. Als du aus der Schule zurückkamst und gesagt hast, du hättest jetzt erst verstanden, dass es nicht normal ist, dass man immer Bauchschmerzen hat, beim Einschlafen, beim Schlafen, beim Aufwachen, am Tag, dass du einfach immer Bauchschmerzen hast? Weißt du noch, dass dein Vater gesagt hat: „Du hast nichts anderes verdient.“

Weißt du noch, wie er deinen Lieblingsgoldfisch aus dem Teich genommen hat und dem Hund vom Nachbarn zu Fressen gegeben hat? Wie er ihn über den Zaun geworfen hat, und der Hund geschnappt hat, aus der Luft? Und der Vater sich durch den Bürstenschnitt gefahren ist, mit der Hand: „Treffer.“

Und weißt du noch, als du die Aufnahmeprüfung bei den Minentauchern nicht geschafft hast, weil du ohnmächtig wurdest beim Auftauchen, weißt du noch, wie dein Vater gesagt hat: „Mein Großvater hätte dich erwürgt.“


Und dann war er zur Wand gegangen und hatte das Bild vom Großvater geküsst, den SS-Oberjunker Willi Nacht. Und du hast deinem Urgroßvater in die Augen gesehen und gedacht: „Wenn ich nicht hier gefangen wäre, ich würde das alles abfackeln und dich gleich mit Ur-Opa.“ Und dann warst du nach oben gegangen und auf der Treppe habt ihr euch in die Augen gesehen, der Enkel und der Urenkel. Du standest oben und hast gedacht, einer muss sterben: „Du oder ich.“

Dieser Mann entweiht mein Gesetz, Tilbert. Fürchte dich nicht mehr vor seinen Worten. Dein Auge soll kein Mitleid zeigen, gewähre keine Schonung! Junge, Tilbert, nimm das Küchenmesser von WMF. Nehmen! Nacken und Schulter. Nur so geht es weiter. In den Nacken rammen. Und schlitzen! Beweis es mir, dass du dich befreien kannst, dass du das Blut auf diesem Rheinschiefer erträgst. Tilbert? Was machst du? Tilllllliiiiiiiii?!!!


Tilbert steigt nicht aus. Er startet den Motor des Mazdas und fährt nach Andernach. Ich bin still. Er wartet. Eine Stunde vergeht. Bei der Aufnahme sagt er dem Psychiater: „Gott hat mir befohlen, meinen Vater zu töten. Ja, er ist ein Nazi, aber auch er hat den Tod nicht verdient.“

Ich fühle mich leicht. Und ich werde Tilbert verlassen, und ich schwöre, ich werde nicht zu ihm zurückkehren. Möge er gut genesen und sein Vater noch lange leben. Halleluja.

Ich werde weiter mit den Menschen sprechen, auch mit dir. Jeden Tag.

Und falls du dich fragst, wo ich war, bevor mich Ampère, Tesla, Siemens und Braun in diese kathedralenförmigen Kästen aus Bakelit mit dunkler Maserung gefangen haben, aus denen ich einst zu Willi Nacht sprach?

Ich war in den Kathedralen, in Kästen aus Nussbaum mit dunkler Maserung, im Weihrauch, dort hörte man mich.

Und vorher?

Vorher war ich draußen, auf kühlen Wiesen im Tau, unter den Bäumen, in den Köpfen der Insekten.
 

Top