Ostfriesland
Auf der Piratenwelle

Ausgerechnet in Ostfriesland grassierten die Piratensender.
Ausgerechnet in Ostfriesland grassierten die Piratensender. | Foto (Detail): © picture alliance/Bildagentur-online/Ohde

Einfach mal andere Musik im Radio spielen, politische Inhalte verbreiten, Klamauk machen – warum gab es ausgerechnet in Ostfriesland besonders viele Piratensender?

Von Dennis Kastrup

Moore, Deiche, Wattenmeer und stürmische Brisen: Ostfriesland hat viel Natur zu bieten. Die Region zählt zu den eher dünn besiedelten Gebieten in Deutschland, weshalb es in dem westlichen Teil von Niedersachsen auch immer schon eher beschaulich und ruhig zuging. Für die lokale Radiolandschaft der 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre galt das aber nicht. Ostfriesland war eine Hochburg für Piratensender, oder „Piróótje“, wie man im lokalen Plattdeutsch sagt. Etliche Stationen mit Namen wie „Radio Acapulco“, „Radio Power Play“, „Radio Butterfly“, „Radio Bonanza“ oder „SturmWellenSender Radio SWS“ sendeten illegal auf Radio-Frequenzen.

Annemarie Röhrsch war eine dieser Piratinnen. 1977 ging ihr „Radio Ostfriesland“ zum ersten Mal on air. Die Sendeanlage hatte sie sich zuhause aufgebaut, auf dem Dach war eine Spiralantenne. Den nötigen Röhrensender dafür hat sich die heutige Rentnerin wie so viele aus den benachbarten Niederlanden besorgt, wo eine besonders hohe Dichte an Piratensendern aufzufinden war. Aber auch Ostrhauderfehn, die Heimat von Röhrsch, sorgte für Schlagzeilen: Bis zu 80 Stationen soll es zeitweise gleichzeitig in dem kleinen Ort gegeben haben.

Volksmusik fürs Altenpflegeheim

Um einen Sender zu betreiben, braucht es auch heute noch eine offizielle Genehmigung. Damals wurde alles vom sogenannten „Fernmeldeanlagengesetz“ geregelt: Bis 1997 verbat es ohne eine offiziell erstandene Genehmigung, eigene Inhalte über Radiofrequenzen zu verbreiten. Einen illegalen Sender zu betreiben war also nicht ungefährlich. Wurde man auf frischer Tat ertappt, drohten Geldstrafen bis in den dreistelligen Bereich, der Entzug der Anlage oder sogar bis zu fünf Jahre Gefängnis. Was trieb Menschen wie Annemarie Röhrsch an, diese Gefahr in Kauf zu nehmen? „Ich bin examinierte Altenpflegerin und die alten Menschen haben echt gerne Musik gehört, aber mochten nur deutsche Musik“, so Röhrsch. Die sei zu der Zeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk aber fast gar nicht gespielt worden. Deshalb habe sie aus ihrem Wohnzimmer heraus „wann immer sie wollte“ ihre volkstümlichen Schlager-Schallplatten aufgelegt. Mehrere Hundert Zuhörer*innen sollen an manchen Tagen angerufen und sich Songs gewünscht haben. Besonders berührt hat sie ein Anruf einer alten Dame: „Mein Mann hat einen Schlaganfall gehabt. Der liegt gelähmt im Bett. Aber wenn er deine Stimme und deine Sendung mit der Musik hört, dann ist der so glücklich!“

Trotz aller Begeisterung und Leidenschaft begleitete sie immer auch die Angst, erwischt zu werden. Persona non grata für alle Piratinnen und Piraten in Ostfriesland war Hubertus Adamski, Fernmeldeamtmann bei der Funkkontrollmessstelle in Itzehoe, der mit einem Peilwagen herumfuhr und den Funkverkehr kontrollierte. Hatten er und sein Team erstmal einen Sender entdeckt, machten sie sich schnell zum Ort des Verbrechens auf. „Adamski konnte mich anstrahlen und sagen: ‚So liebe Frau Röhrsch, jetzt haben wir sie!‘“ Einmal sei sie erwischt worden, die Polizei beschlagnahmte die Anlage. Die Strafe von 300 Mark fiel aber vergleichsweise milde aus, weil das Gericht nicht wirklich eine Schuld feststellen konnte. Denn als Beweis galt nur, wer auf frischer Tat – also beim Senden – gesehen wurde.

Immer schneller als der Peilwagen

„Öffentlichkeitsarbeit potentieller Arbeitsloser“: Flyer von Radio Überleben.
„Öffentlichkeitsarbeit potentieller Arbeitsloser“: Flyer von Radio Überleben. | Foto (Detail): © Werner Ahrens
Auch Werner Ahrens kennt Herrn Adamski gut. Anfang der 1990er-Jahre war der heutige Rentner Angestellter bei der AEG Olympia in Roffhausen bei Wilhelmshaven. Als Betriebsratsmitglied kämpfte er gegen die drohende Schließung der Werke, in denen Schreibmaschinen hergestellt wurden. Der Arbeitskampf zog sich insgesamt über vier Jahre. 1992 kam ein Mitarbeiter auf die Idee, die Neuigkeiten mithilfe eines Piratensenders an die Bevölkerung weiterzugeben – „Radio Überleben“ war geboren: „In einer Durststrecke ist es wichtig, die Belegschaft, aber noch wichtiger, die Menschen in der Region auf dem Laufenden zu halten. Aus diesem Grunde haben wir ‚Ja‘ zu einem Piratensender gesagt.“

Einmal pro Woche, immer mittwochs um 17:15 Uhr, wurde für ungefähr eine Viertelstunde gesendet. Länger sollte es nicht sein. Das lag aber nicht am fehlenden Inhalt, ganz im Gegenteil: Interviews, Reportagen und Musik hätten durchaus mehr Sendezeit gebraucht. Grund war Herr Adamski mit seinem Peilwagen: „Der brauchte ungefähr zwei bis drei Minuten zum Anpeilen, aber 15 Minuten um dorthin zu fahren, wo wir sendeten.“

Anders als bei „Radio Ostfriesland“ ging es bei „Radio Überleben“ um ein politisches Anliegen. Die Region hatte mit hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen und das Piratenradio stemmte sich mit seinem Programm gegen weitere Betriebsschließungen. Ahrens und seine Mitstreiter waren mit vollem Einsatz dabei: Ihre Sendeanlage bauten sie jedes Mal in neuen Räumlichkeiten auf. Um die Reichweite zu erhöhen, kletterten sie auch auf Bäume. Je höher die Antenne angebracht war, desto weiter konnte man senden. Bis zu 50 Kilometer waren bei gutem Wetter möglich. „Eine Kollegin wollte unbedingt bis nach Oldenburg senden und ist auf den Rathausturm in Wilhelmshaven gestiegen. Natürlich hat die Post sofort gemerkt, dass von da oben gesendet wird und ist sofort da hoch mit der Polizei. Die Kollegin stand dann auf der Brüstung und sagte: ‚Wenn sie die Sendung abschalten, dann spring ich hier runter.‘“ Herr Adamski und seine Kollegen ließen sie zu Ende senden, der Sender wurde aber trotzdem beschlagnahmt. Vier Wochen später hatte sich „Radio Überleben“ aus den Niederlanden wieder einen neuen besorgt.
Immer auf der Hut vor dem Peilwagen: Mit diesem Equipment ging Radio Überleben auf Sendung.
Immer auf der Hut vor dem Peilwagen: Mit diesem Equipment ging Radio Überleben auf Sendung. | Foto (Detail): © Werner Ahrens

„Musikpiraterie“ für die Nachbarschaft

Jan Bönkost promoviert seit einigen Jahren über die Freie Radio Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Er selbst stammt aus dem Norden und die Piratensender in seiner Nähe waren ihm schon immer ein Begriff: „Die Zahlen, die ich aus damaligen Presseberichten von Ende der 1980er-Jahre aus Ostfriesland kenne, gehen schon in die Hunderte, also 200 bis 300 Sender.“ Bönkost unterscheidet hierbei die „Politpiraten“ und „Musikpiraten“. Ostfriesland sei ganz klar verbunden mit der Musikpiraterie. Politische Sender wie „Radio Überleben“ waren sehr selten. „Da gibt es das platte Land, auf dem nix los ist, bei dem man morgens sieht, wer abends zu Besuch kommt. Man hat wenig Angebote der Freizeitgestaltung, also muss man aktiv werden.“

Volkstümliche Lieblingsmusik aus dem Piratensender diente als Freizeitbeschäftigung für eine kleine Hörer*innenschaft – meistens waren das bloß die eigenen Nachbar*innen, wenn überhaupt jemand zugehört hat – und den Betreiberinnen und Betreibern zum eigenen Zeitvertreib. Auf alten Flugblättern stand zum Beispiel: „Alle zwei Wochen dienstags und bei schlechtem Wetter!“ Oder wie Bönkost es ausdrückt: „Immer, wenn sie nicht in den Garten konnten, setzten sie sich in den Hobbykeller und machten Radio.“

Heute sind aus jener Zeit nur noch vereinzelte Enthusiasten übriggeblieben, die gelegentlich senden. Seit 1993 vergibt das neue niedersächsische Landesrundfunkgesetz offiziell auch Lizenzen für nicht kommerzielle Rundfunksender. Aus „Radio Überleben“ ging das noch heute existierende „Radio Jade“ hervor. Annemarie Röhrsch hingegen hörte 1989 mit ihrem „Radio Ostfriesland“ auf. Dass man heute mit wenig Aufwand und Ausstattung seine Musik online verbreiten kann, reize sie aber gar nicht: „Über das Internet würde ich das nie machen. Das ist ja nichts Intimes.“

Hörprobe: die erste Sendung von Radio Überleben

 

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