VR:RV
Soziale, mentale und physische Grenzen überschreiten
Welche Perspektiven bieten Virtual Reality Formate für Journalismus und Dokumentation? Wie wird VR unser Denken und Handeln in Zukunft beeinflussen und welche Rolle spielen Künstlerinnen und Künstler sowie internationale Kooperationen? Das Austauschprojekt VR:RV bot 25 deutschen sowie kanadischen KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, ProduzentInnen und MedienreferentInnen die Möglichkeit, Ideen für gemeinsame internationale Projekte zu finden und aktuelle Fragestellungen, die in Zusammenhang mit immersiven Technologien auftauchen, zu diskutieren.
Virtual Reality eröffnet neue Dimensionen für Dokumentation und Journalismus: Die AnwenderInnen setzen eine VR-Brille auf und tauchen direkt in die Tiefsee ein, durchlaufen virtuelle Museen oder betreten Gebiete, zu denen ihnen der Zugang normalerweise versperrt bleibt.
360°-Videos bieten die Möglichkeit, sich in Flüchtlingslagern umzusehen und Tiefseebohrungen aus der Sicht eines Wals zu erleben. Das virtuelle Erlebnis ergänzt photographische Dokumentationen um Soundeffekte und Rundblick und lässt die AnwenderInnen Teil des Geschehens werden. Sie können selbst entscheiden, ob sie ihre Aufmerksamkeit auf das Opfer eines Anschlags richten oder die Reaktionen der Passanten verfolgen. Immersive Technologien ermöglichen eine authentischere Berichterstattung als herkömmliche Medienformate.
Doch was passiert, wenn diese Technologien in die falschen Hände geraten? Wer übernimmt die Verantwortung für die Gewährleistung von Persönlichkeitsrechten, wenn die AnwenderInnen beliebig nah an Personen im Film herantreten können? Wer hat Einfluss auf die rechtlichen Strukturen, die einen Missbrauch des Mediums verhindern?
Im Rahmen der VR:RV - Podiumsdiskussionen in Montreal setzten sich Expertinnen und Experten mit diesen Fragestellungen auseinander und gaben ihre Statements zur Entwicklung der Virtuellen Realität ab.
Hier ein paar Ausschnitte aus den Diskussionsrunden:
Wie wird mit Nähe und Distanz zu den Darstellern in VR-Filmen umgegangen?
Die Dokumentarfilmregisseurin Sandra Rodriguez erklärt, dass es vor allem wichtig sei, dass die Personen im Film andere Menschen in ihre Lebenswelt einladen möchten. „Es geht nicht darum, beliebig nah an ein Kind in einem Flüchtlingscamp heran zu zoomen. Es geht darum, dass das Kind zeigen möchte, in welcher Realität es lebt und andere dazu einlädt, seine/ihre Perspektive zu verstehen“, erklärt sie. Bei schwierigen psychologischen Themen sei hierzu die Konsultation von Fachleuten unbedingt notwendig, um sicherzustellen, dass VR-Erlebnisse nicht falsch interpretiert werdenWelche Machtstrukturen entwickeln sich und wo stehen Künstlerinnen und Künstler in diesem Gefüge?
Annina Zwettler, Referentin des deutsch-französischen Senders Arte, kommentiert die Entwicklung des VR-Formats so: „VR erweitert unseren sozialen, mentalen und physischen Horizont. Es beeinflusst unsere Denkprozesse, Gefühle und Emotionen. Einerseits ist es großartig und unterhaltsam, andererseits ist es gruselig – womit wir wunderschöne Kunstwerke kreieren, kann auch zur Manipulation benutzt werden.“Dieser Kommentar wirft die Frage auf, welche Rolle Künstlerinnen und Künstler in der Kommerzialisierung des Mediums spielen. „KünstlerInnen können nicht beeinflussen, wie sich Technologien entwickeln. Wir sollten uns stattdessen auf die Geschichten konzentrieren, die wir erzählen“, kommentiert Ana Serrano, Chief Digital Officer des CFC Media-Labs in Montreal dieses Problem. Es bleibt offen, an welcher Stelle die Verantwortung der Kunstschaffenden in Distribution und Gebrauch der Technik liegen sollte.
Derzeit dominieren vor allem Unternehmen wie Google und Facebook den VR-Markt. Wie sich diese Machtgefüge entwickeln, kann keiner der PanelteilnehmerInnen vorhersagen. Einig sind sie sich jedoch in einem Punkt: Machtstrukturen müssen demokratisch definiert werden. Hierzu sind Diskussionen über VR auf globaler Ebene unbedingt notwendig. Am besten in Form eines Global VR Summits.
Louis-Richard Tremblay, Produzent bei Radio Canada und ONF, ruft außerdem dazu auf, HistorikerInnen in die Diskussionen mit einzubeziehen. „Wichtige Erkenntnisse aus der Vergangenheit sollten einfließen“, sagt er mit Bezug auf Versäumnisse im Umgang mit Big Data. Außerdem funktioniert eine Demokratisierung des Mediums nur, wenn auch Menschen mit kleinem Geldbeutel Zugriff darauf haben. „Es sollte mehr Orte wie das Phi Center geben, um den Zugang zu dem Medium weiter zu demokratisieren “, appelliert Myriam Achard, Direktorin der Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation des Phi Centers in Montreal an die Öffentlichkeit.
Darüber hinaus setzt die globale Demokratisierung der Technik internationalen Austausch voraus. „Wir müssen uns mit der Auffassung von VR in unterschiedlichen Ländern auseinandersetzen und herausfinden, was diese Technologie für andere Gesellschaften auf diesem Planeten bedeutet“, argumentiert Annina Zwettler und eröffnet damit ein neues Thema für zukünftige Diskussionen.
VR:RV ist ein erster Schritt zu mehr interkultureller Zusammenarbeit, indem es eine Diskussions- sowie Arbeitsplattform für deutsche und kanadische VR-ExpertInnen bietet.
Neben den Podiumsdiskussionen bot VR:RV den Teilnehmenden die Möglichkeit, in Workshops gemeinsame Ideen für neue, kooperative Projekte zu finden. Entstanden sind daraus folgende fünf Entwürfe:
Mindf**k
Die Idee hinter dem Projekt ist, neurologische Reaktionen auf Musik zu nutzen, um so eine Bewusstseinssteuerung möglich zu machen. Die Projektgruppe präsentiert ihre Idee in folgender Storyline:
Kriegsdokumentation ohne Photographien
Dokumentarfotograph Liam Maloney beklagt, dass unsere Gesellschaft durch die Flut der Bilder aus Krisengebieten abstumpft. Um die Menschen wieder emotional zu erreichen, will er animierte Bilder, Licht- und Soundeffekte in VR nutzen und so die Geschichten derjenigen erzählen, die tagtäglich mit Krieg und Terror konfrontiert werden.
The Deep
Deep ist eine Serie über unsere Suche nach Antworten lautet der Slogan für das Projekt, das Museen, wissenschaftliche Zentren, Aquarien und Planetarien in Zukunft nutzen könnten, um Menschen in die Tiefen des Universums oder der Unterwasserwelt zu transportieren.
Die erste Projektidee soll Tiefseebohrungen nach Edelmetallen unter Wasser veranschaulichen. So könnte die Storyline für den VR-Anwender aussehen:
Der interdisziplinäre Austausch mit ExpertInnen für Grafik und Sound aus Deutschland und Kanada inspirierte die Teilnehmenden zu einem kooperativen Videospiel, in dem sich die SpielerInnen über ihren Hör- und Tastsinn in einer dunklen VR-Umgebung finden müssen. Hierzu wollen sie Sound- und Vibrationstechnik gezielt einsetzen, um die Spielenden dazu anzuregen, auf ihre Sinne zu hören.
Kooperative Meditation über abstrakte Bilder
Neben Videospielen wollen die Workshop-TeilnehmerInnen VR auch als Medium für angeleitete Meditationen nutzen. Damit die AnwenderInnen anonym bleiben, sollen sie sich nicht in menschlichen Körpern gegenübertreten. Stattdessen sollen Punkte, Formen und abstrakte Bewegungen genutzt werden, um ihre Stimmung zu spiegeln und die Meditation anzuleiten.
Das erste Treffen im Rahmen des VR:RV-Austauschprojekts in Montreal inspirierte die Expertinnen und Experten zu neuen Ideen, förderte den interkulturellen Austausch und bot eine Plattform, deutsche sowie kanadische Perspektiven in VR zu diskutieren und mit der Öffentlichkeit zu teilen. Die weiteren Veranstaltungen in Berlin und Montreal werden zeigen, wohin sich diese Ideen entwickeln und mit welchen zusätzlichen Fragestellungen sich die ExpertInnen auseinandersetzen.