Virtuelle Realität in der Arktis
»Polar Sea 360°«
Einmal quer durch die Arktis und zurück, Wale und Eisbären beobachten, ewiges Eis ins Meer stürzen sehen, uralten Inuits begegnen – und das alles vom Wohnzimmer aus, aber so, als sei man selbst vor Ort. Virtuelle Realität (VR) macht es möglich.
Arte produzierte im Rahmen des Crossmedia-Formats POLAR SEA 360°(2014) eine VR-Erfahrung, die sich wie das Fernsehen der Zukunft anfühlte. Das Projekt ist eine multimediale Forschungsreise durch Wasser, Eis und Schnee. Im Dokumentarfilm „Polar Sea – Die Eroberung der Nordwestpassage“ begeben sich Tanja Dammertz und Kevin McMahon auf die Spuren der katastrophalen Polarexpedition des Admirals John Franklin im 19. Jahrhundert. Eine zehnteilige Dokumentationsreihe „Per Anhalter durch die Arktis“, ebenfalls von Kevin McMahon, zeigt die Folgen des Klimawandels in der Region heute.
Das traditionelle TV-Angebot wird von einer interaktiven Komponente ergänzt: einen 360-Grad-Rundumblick, der den Zuschauer quasi in die Arktis beamt und ihm die Möglichkeit gibt, sich dort selbst umzuschauen. Das optimale Erlebnis bietet die stereoskopische Brille Oculus Rift. Nachdem zur Zeit der Produktion Oculus Rift noch nicht im Handel war, konnte man mithilfe eines einfachen Pappgestells fürs Smartphone, auch „Cardboard“ genannt, in die fremde Welt eintauchen.
„Arte wollte die Menschen auf eine besondere Weise für den Klimawandel sensibilisieren“, erklärt Filmemacher Thomas Wallner, der den 360-Grad-Film gestaltete. „Sie sollten die Veränderungen des Klimas selbst erleben können, statt sie nur erzählt zu bekommen.“Was ist VR und wie wird es gemacht? Im Zentrum steht die Fähigkeit, die Welt in alle Richtungen zu filmen. Das daraus hervorgehende 360-Grad-Video wirkt zunächst wie ein klassischer Film mit Bewegtbild und Ton, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Statt vor einer begrenzten Leinwand befindet sich man in einer nahtlosen Sphäre. Der Mediennutzer kann in alle Richtungen schauen und die VR-Welt selbstständig erkunden. „Jeder, der die Erfahrung macht, erkennt sofort das kreative Potenzial dieser neuen Art, die Wirklichkeit abzubilden“, sagt Wallner.
Als Wallner im Jahr 2011 mit dem Arte-Projekt anfing, hatte die Fernsehredaktion noch die Idee, 360-Grad-Panoramen für Web-Browser zu gestalten. Als kurz danach die ersten Prototypen von Oculus Rift vor- gestellt wurden, entstand der Wunsch, mit VR zu arbeiten. Es gab aber nur wenige Dienstleister für die Herstellung von sphärischen Bilderwelten. Equipment, Dreh und Postproduktion waren unbezahlbar. Wallner beschloss daher, selbst zu experimentieren und Wege zu suchen, 360-Grad-Videos schnell und kostengünstig zu produzieren.
Zwei technologische Innovationen brachten den Durchbruch: der 3D-Drucker und die kleine GoPro-Kamera. Mit einem 3D-Drucker ließen sich spezielle Halterungen herstellen, an denen rundum mehrere GoPros montiert werden konnten. Der geringe Gewicht der Kameras und ihre Fähigkeit, ohne direkten Anschluss an einen Computer Bilder aufzuzeichnen, machten es möglich, sphärisch ausgerichtete Kamerasets an Drohnen zu montieren und im Flug HD-Panoramen zu filmen.
Die Dreharbeiten fanden in Pond Inlet in der kanadischen Arktis statt. Bald stellte sich heraus, dass die GoPros ziemlich empfindlich waren. „Fällt bei einer Panorama-Aufnahme eine der sechs Kameras aus, ist der ganze Take unbrauchbar“, erklärt Wallner. Es gab weitere Schwierigkeiten zu bewältigen. Da die Kameras in alle Richtungen filmen, musste die Filmcrew versuchen, sich möglichst unsichtbar zu machen. Um in der kargen Eislandschaft nicht aufzufallen, trug das Team Camouflage-Anzüge oder versteckte sich an geeigneten Stellen, wenn sich diese in der arktischen Welt boten. „Wir hatten bald eine neue Routine drauf“, grinst Wallner, „Kamera läuft, wegducken!“ Da es noch kein drahtloses Monitorsystem gab, erfolgte die Arbeit im Blindflug. Auch nach Drehschluss konnte das Team die Aufnahmen nicht sofort sehen, weil die Ausspielung der Bilder in sphärischer Form zu lange dauerte.
Für den Mediennutzer gestaltet sich die fertige Erfahrung wie folgt: Die Datenbrille und der Kopfhörer blenden die Wahrnehmung seiner realen Umgebung fast vollständig aus. Stattdessen findet sich der User in einer anderen Welt wieder. Der virtuelle Raum passt sich automatisch an seine Bewegungen und an sein Verhalten an. Ist ebenfalls ein Motion Controller eingebunden, kann der Nutzer noch stärker mit der digitalen Welt interagieren. Ihm vermittelt sich auf diese Weise die Illusion, er sei wirklich woanders. Diese Illusion nennt sich „Präsenz“.
Das VR-Angebot zu POLAR SEA 360° sollte die Arktis nicht nur zeigen, sondern auch eine Botschaft vermitteln. Damit stellte sich die Frage nach der passenden Filmsprache. Wie lässt sich die Aufmerksamkeit des Zuschauers steuern? Wie kann man Kamerafahrten, Schnitte, Szenenwechsel gestalten? Wie erfolgt die Fokussierung auf Figuren oder Protagonisten?
„Es funktioniert ganz anders als Kino“, erklärt Wallner. „VR durchbricht die vierte Wand.“ Der User befindet sich mitten im Geschehen und betrachtet die Welt von innen nach außen. Wo der Zuschauer eines 2D- oder 3D-Films auf die Figuren schaut und seine eigenen Wünsche und Gefühle in sie hineinprojizieren kann, ist das in VR so nicht möglich. Denn was stellt der Mensch im Zentrum der Sphäre dar, welche Rolle spielt er? Die Gegenüberstellung von kontrastierenden Bildern, die seit der Erfindung des Filmschnitts zur Grammatik des Kinos gehört, würde in VR nur Verwirrung auslösen. Entsteht die Bedeutung einer montierten Filmerzählung erst im Kopf des interpretierenden Zuschauers, spricht das neue Medium die Sinne unmittelbar an. Statt sich einer symbolischen Formsprache zu bedienen, wie es alle anderen Medien tun, bietet VR ein unmittelbares Erlebnis, das weder einer vorübergehenden Aussetzung der Ungläubigkeit noch einer Interpretationsleistung vonseiten des Mediennutzers bedarf.
Künstlich hergestellte Präsenz kann schnell Schwindelgefühle oder Übelkeit hervorrufen. POLAR SEA 360° umgeht dieses Problem, indem der User die virtuelle Welt entweder von einem festen Standpunkt aus erkundet oder sich bei Kamerafahrten an einem festen Objekt, beispielsweise einem Hubschrauber, orientieren kann. An der Stelle von Filmschnitten arbeitet POLAR SEA 360° mit sanften Überblendungen. So kann der User innerhalb von wenigen Minuten Tag und Nacht sowie verschiedene Jahreszeiten in der Arktis erleben. Die Tonspur lenkt die Aufmerksamkeit auf Protagonisten, die wie im Traum erscheinen und eine Geschichte erzählen. Eine spezielle Software machte die Einbettung von dokumentarischen Sequenzen innerhalb der 360-Grad-Panoramen möglich.
Seit Facebook im Jahr 2014 Oculus Rift erwarb, ist ein wahrer Hype um VR entstanden. Auch Sony, Microsoft und Apple wollen Datenbrillen auf den Markt bringen. In den Bereichen Games, Bildung und Medizin – um nur einige zu nennen – wird unter Hochdruck an Inhalten für das neue Medium gearbeitet. Doch wie sieht die Zukunft des Erzählens im VR aus? Thomas Wallner sieht das narrative Fundament in der kohärenten Handhabung von räumlichen Erfahrungen: „Virtuelle Welten erinnern an das Theater, wo das Auge frei durch den Raum schweifen kann, und auch an Träume, mit ihren intuitiven, assoziativen Übergängen.“ Wie man in VR Geschichten erzählt, wie interaktiv diese sind, welche Rolle der Mediennutzer darin spielt und wie lange diese Erfahrungen praktischerweise sein können – all das werden wir in einem langen Prozess von Versuch und Irrtum lernen müssen. Richard Wagners Gesamtkunstwerk, André Bazins Cinéma Total, sogar das Holodeck aus der Science-Fiction-Serie „Startrek“ scheinen heute zum Greifen nah zu sein. „Was auch immer die Zukunft von VR sein wird“, sagt Waller, „sie wird nicht sein, was wir heute denken. Und das ist gerade das Spannende daran.“