Herzlich willkommen: Prager Ochsereien
Es gibt sie, die Museumsstadt. Die Postkartenidylle mit den 180 Brücken. Aber Martin Becker weiß, wo ihr Geist lebendig wird: in unspektakulären Spelunken und nieselnassen Nächten, in ehemaligen Arbeitervierteln, die zum Szenetreff mutiert sind, und in Fahrradwerkstätten, die gleichzeitig als Café fungieren. Und er weiß auch: Da ist ein Tschechien jenseits der Hauptstadt. Er nimmt uns mit nach Brünn und Karlsbad, nach Ostrava und ins Altvatergebirge. Macht uns vertraut mit der bittersüßen Schwermut der tschechischen Seele, aber auch mit dem „český humor“. Und er zeigt uns, wo heutzutage noch tschechische Wunder geschehen.
Mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlags präsentieren wir als Leseprobe das erste Kapitel von Martin Beckers Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien. Ebenfalls auf jádu: Ein Interview mit dem Autor, dem Scharlatan mit rosaroter Brille.
Bei meinem allerersten Mal wusste ich überhaupt nichts über Tschechien. Ich hatte keinen Reiseführer gelesen, mich nicht mit der Sprache beschäftigt, geschweige denn mit der Geschichte des Landes. Ich hatte also absolut keinen blassen Schimmer. Aber das war vielleicht sogar ganz gut so. Denn mal ehrlich, wie sonst verlieren wir unser Herz im Flug? Wir stehen morgens auf und haben nicht die Spur einer Ahnung, dass wir noch am selben Tag, sagen wir, in der Kneipe oder sonstwo, vom Blitz getroffen werden, dass wir nach Hause torkeln, ohne betrunken zu sein, dass wir uns verliebt haben, dass danach nichts mehr so sein wird wie vorher.
Ich gebe zu, ich schweife jetzt schon ab im mäandernden Stil der tschechischen Kneipengeschichte, aber Hand aufs aufgeregt schlagende Herz, das geht ja auch gar nicht anders. Denn wenn ich von Tschechien spreche, dann muss ich von Liebe sprechen. Und verliebt war ich tatsächlich sofort. Als ich zum ersten Mal die ungewohnten Häkchen der Sprache auf den Anzeigetafeln in der Metro sah, als mir die unverwechselbaren Küchengerüche in die Nase stiegen – und als ich gleich an meinem ersten Abend in dem Prager Krankenhaus landete, in dem einst der Nationaldichter Bohumil Hrabal beim Taubenfüttern aus dem Fenster und in den Tod stürzte, woraufhin die Eisenbahner ihm zu Ehren streikten. Aber da sind wir schon mitten in den unglaublichen Geschichten, die man zwangsläufig erlebt, die zur Stadt und zum Land gehören wie das Bier und der frittierte Käse, um gleich mal einige Klischees zu bedienen, die so falsch gar nicht sind.
Prag ist, das muss man wissen, wenn man dem Charme der Stadt erliegen will, mehr als die Summe seiner Türme und Brücken über die Moldau. Die gibt es auch. Und die haben natürlich ihren Reiz. Aber eigentlich ist die Stadt immer dort wirklich überwältigend, wo man es nicht gleich erwartet. In unspektakulären Spelunken und in nieselnassen Nächten. In schmutzigen Seitengassen und abgerockten Straßenbahnwagen.
Ich kenne keine Stadt in Mitteleuropa, in der Geschichte und Literatur so permanent präsent sind. Man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt, beispielsweise den Erinnerungen an die großen Geister der Stadt, nehmen wir nur Franz Kafka oder Jaroslav Hašek. Und ich kenne keine andere Metropole in Europa, die sich derart radikal verändert: Neue Cafés schießen wie Pilze aus dem Boden, die kulturelle Szene blüht – wenn man sich auch nicht die Illusion machen muss, von seinem Schreiben oder von seinen Songs nur annähernd leben zu können.
Gehen wir zu den Orten, die man ohne tschechischen Beistand nicht sieht, verlassen wir die ausgetretenen Pfade der touristischen Massen, verlieren wir uns an die Tage und Nächte in einer der aufregendsten Metropolen. Klar sollte man unten an Kafkas Grab und oben auf der Prager Burg gewesen sein. Klar muss man mal Knödel und Schweinebraten essen, das ist ja mittlerweile sogar vegan möglich, und sich danach vom freundlichen Ober freundlich übers Ohr hauen lassen. Klar kann man sich ein Mal im Leben eine touristische Erkältung holen, weil man sich von einem frierenden Touristenzeichner im Schatten ebenso frierender Jazzcombos auf der Karlsbrücke verewigen lässt – aber was kommt dann?
Dann fängt Prag erst richtig an. Dann beginnt die Stadt, mit uns zu reden. Und wenn Sie direkt nach dem Ausstieg aus dem Zug sofort antworten wollen: Ahoj heißt „Hallo“. Ahoj heißt „Auf Wiedersehen“. Pivo heißt „Bier“. Láska heißt „Liebe“. Und Ty vole! ist stets Ausdruck von Erstaunen, Empörung oder auch reinem Glück. Wörtlich übersetzt heißt die Floskel »Du Ochse!«, aber man kann sie wirklich jederzeit immer wieder einstreuen und damit mächtig ironischen Eindruck schinden, besonders, wenn es die einzigen tschechischen Worte sind, die man benutzt – zumindest in Prag, wo solcherlei Ochserei verstanden wird.
Diese Gebrauchsanweisung soll eine Anleitung geben zur sachgerechten Benutzung der Stadt und ihrer weiteren Umgebung – inklusive umfassender Würdigung der Tschechinnen und Tschechen und ihrer Eigenarten. Der unsterbliche Václav Havel, die jungen Pragerinnen und Prager, die der Stadt ein frisches Gesicht geben, die schlecht gelaunten Kellner und die wunderliche Dame, die tagtäglich Blumen verkauft auf dem Karlsplatz: Sie werden uns begleiten bei unseren Touren durch die tschechische Hauptstadt. Und jenseits der Stadtgrenze können wir in Zügen von betörender Langsamkeit auch den Rest des Landes erkunden. Wir werden allerlei Kafkareien erleben, wir werden Bekanntschaft mit der tschechischen Sprache machen und uns erzählen lassen, warum man in Ostrava manchmal besser die Klappe hält, wir werden uns wie James Bond im Karlsbader Kasino fühlen und am Ende des Abends keine Krone mehr in der Tasche haben und nur noch tschechischen Blues hören. Wir werden über zwei Stunden am Stück in der Straßenbahn sitzen und mindestens anderthalb Minuten Rolltreppe fahren, wir werden Fahrdienstleiter in pikanten Situationen beobachten und im Altvatergebirge an der tschechisch-polnischen Grenze nur noch dem Wind lauschen, bis der absolute Stillstand erreicht ist. Und mit etwas Glück hat im Wald die einzige Kneipe weit und breit noch geöffnet und wir können auf ein kleines Bier gehen, was aber durchaus eine ganze Nacht in Anspruch nehmen kann.
Man merkt es gleich: Viele Wege führen zur tschechischen Seele. Und alles ist im Grunde von Prag aus nur ein Katzensprung. Denn das Land ist klein, und die Züge sind zwar oftmals langsam, aber zuverlässig. Und auf den český humor, den tschechischen Humor, von dem die ganze Welt noch etwas lernen kann, kann man sich eh überall verlassen. Ist ja auch das Lebenselixier, neben dem Bier. Muss ja, sonst kommt man nicht durch. To není vtip. Ohne Witz.
P.S.: Das mit dem Ty vole! nehme ich lieber gleich zurück. Damit macht man sich möglicherweise doch zu sehr zum Ochsen. Eine gebürtige Pragerin erzählte mir nämlich gerade brühwarm, und dies gebe ich als wertvollen Expertenhinweis gern mit auf den Weg durch Tschechien und durch diese Gebrauchsanweisung: „Es gibt nichts Peinlicheres als Nicht-Muttersprachler, die dauernd ‚Ty vole!‘ rufen. Egal, ob sie dabei einen Akzent haben oder nicht.“ Was für ein wichtiger Ratschlag. Ty vole!
Martin Becker: „Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien“
Piper Verlag 2016
224 Seiten
15 € [DE], 15,50 € [AT]
© Piper Verlag GmbH 2016