Von der Wahl des Textes bis zum einzelnen Wort
Die politischen Entscheidungen einer Übersetzerin
Lucie Lamy berichtet, wie wichtig die Liebe für einen Text ist, wenn sie für diesen als Übersetzerin selbst einen Verlag sucht. May Ayims politischen Gedichte und Essays sprechen sie an und forderten in der Übersetzung einiges an Recherche und kreativer Strategien.
Anna von Rath und Justine Coquel im Gespräch mit Lucie Lamy
„Unter allen Texten, die man übersetzen könnte, habe ich eine Richtung gebraucht. Ich glaube, das hat meinen Zugang zum Übersetzen sehr geprägt, die Idee, dass man nicht nur übersetzt, sondern, dass man auch als Vermittlerin fungiert,“ erklärt uns Lucie Lamy, als wir sie in einem Café in Berlin zum Gespräch treffen. Die Sozialwissenschaftlerin und Literaturübersetzerin Lamy hat bisher jedes Buch, das sie übersetzt hat, selbst einem Verlag gepitcht. Sie übersetzt Literatur, aber in der Wahl ihrer Texte erkennt sie auch eine politische Dimension – bei ihrer Suche nach literarisch spannenden Projekten denkt sie z.B. die Repräsentation von marginalisierten Stimmen mit. Daher überrascht es wenig, dass Lamy sich für die Bücher der einflussreichen afrodeutschen Dichterin und Aktivistin May Ayim interessiert. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Jean-Philippe Rossignol hat Lamy Ayims Gedichtband blues in schwarz weiß und den Essayband Grenzenlos und Unverschämt ins Französische übersetzt. Die Bücher sind im Verlag Ypsilon unter den Titeln blues en noir et blanc und Nouveau départ erschienen. Lamy betont: „Verlagen selbst Texte vorzuschlagen, bedeutet immer viel unbezahlte Vorarbeit, d.h. man muss die Texte lieben und das Gefühl haben, dass es notwendig ist, sie zu übersetzen.“
May Ayim schrieb explizit politische Texte. Und genau das macht laut Lamy Ayims Bücher spannend für ein französisches Publikum: In Bezug auf Rassismus und Sexismus gibt es viele Parallelen zwischen Deutschland und Frankreich. „Die Strukturen, die May Ayim analysiert oder ironisch betrachtet – es gibt viel Witz in ihren Gedichten – ähneln denen in Frankreich.“ Was Ayim in den 1990er-Jahren geschrieben hat, ist immer noch aktuell. Als politisierter Mensch fühlt Lamy sich von den Texten – von ihrer Form, ihrem Inhalt und ihrer Sprache – angesprochen.
Lamy erzählt uns, dass sie besonders die politischen Dimensionen von Sprache schon immer gespürt habe: „Ich bin eine Frau und in Frankreich gibt es ein generisches Maskulinum, das noch prominenter ist als im Deutschen. Auch schon bevor ich feministische Theorie gelesen hatte, wurde mir bewusst, dass das ein Problem und eine sprachliche Herausforderung ist. Davon ausgehend habe ich eine Sensibilität entwickelt, auch für Fälle, die mich persönlich weniger betreffen.“ Lamy interessiert sich für einen sprachlichen Ausdruck, der der Vielfalt der Menschen gerecht werden kann. Benennung ist ein ständiges Problem. Lamy fragt sich: „Wie kann ich verständlich bleiben, ohne zu essentialisieren? Wie schaffe ich Präzision, ohne zu umständlich zu werden?“ Sprache schafft Realität. Damit trägt sie einerseits zu ungerechten Verhältnissen bei und kann andererseits ebendiese in Frage stellen. May Ayim bemühte sich in ihrem Werk um letzteres, was in der Übersetzung ins Französische eine zentrale Herausforderung war.
Es gab einen intensiven Austausch zwischen Lamy, ihrem Co-Übersetzer Rossignol, der Lektorin von Ypsilon und Raphaëlle Efoui-Delplanque, die die Gedichte im Rahmen einer Art Sensitivity Reading gegengelesen und sich mit den beiden auch über sensible Begriffe ausgetauscht hat. Um ihre Begriffsentscheidungen zu untermauern, haben Lamy und Rossignol außerdem viel im Universitätsarchiv der Freien Universität zu Berlin recherchiert. Dort gibt es einen May Ayim Bestand, in dem sich u. a. ältere Versionen ihrer Veröffentlichungen, sowie Briefwechsel zwischen ihr und ihrem Verlag finden. May Ayim wählt häufig genderinklusive Formulierungen mit Binnen-I, so wie es in den 1990er-Jahren gemacht wurde, und schreibt Schwarz groß, wenn sie es als politische Bezeichnung für Menschen verwendet. Diese Schreibweisen sind in ihren Gedichten besonders auffällig, weil sie sonst auf Großbuchstaben verzichtet. Lamy erklärt: „Deshalb war es uns sehr wichtig, diese Art und Weise beizubehalten. Wir haben in der französischen Übersetzung mit großem E gegendert, was im Französischen eher unüblich ist. Im Französischen wird häufiger mit einem Punkt gegendert. Aber wir dachten, dass Ayims Schreibweisen ein wichtiger Bestandteil des Gedichtes sind und haben es dann so übernommen. Vor allem da Gedichte auch visuell funktionieren. Die Art und Weise, wie der Text auf der Seite steht, ist extrem wichtig.“ Da Lamy und Rossignol sich so stark an der originalen Schreibweise von Ayims Gedichten orientierten, kam es in einigen Fällen zu Neuschöpfungen.
die wenigen
rebellInnen
als terroristInnen
verbrannt
brûle
les quelques
rebellEs
comme des terroristEs
[Beispiel aus dem Gedicht Am anderen Ende der Revolution / à l’autre bout de la révolution: rebellInnen – rebellE; terroristInnen - terroristEs, Seite 146-147]
„Wir haben Vertrauen, dass die Leser*innen verstehen, dass wir hier das Femininum betonen wollen,“ sagt Lamy.
Hin und wieder verwendet Ayim genderneutrale Sprache – „besonders in Liebesgedichten“, bemerkt Lamy. Im Französischen ist es fast unmöglich genderneutrale Formulierungen zu finden. Lamy erzählt uns, wie sie und Rossignol diesbezüglich in ihrer Übersetzung verschiedenes ausprobieren mussten, bis sie zu ihrer endgültigen Version gelangten: Erst versuchten sie es mit gegenderten Varianten, aber Lamy stellt selbstkritisch fest: „das veränderte die Leseerfahrung zu sehr.“ Da sie sich bewusst vom generischen Maskulinum fernhalten wollten, formulierten sie den Text schließlich stärker um, um zu genderfreien Lösungen zu gelangen:
liebe
geben
ohne zu verlangen
nehmen
ohne zu besitzen
teilen
ohne warum
stark werden
für
die freiheit
amour
donner
sans exiger
prendre
sans posséder
partager
sans pourquoi
se donner de la force
pour
la liberté
[Beispiel aus blues en noir et blanc, “liebe” / “amour”, Seite 68-69]
Essays bieten aufgrund ihrer Form andere Möglichkeiten, dennoch gab es auch hier Herausforderungen. Ayims Essay Die Afrodeutsche Minderheit wurde 1995 in einem Lexikon über Minderheiten in Deutschland erstveröffentlicht. Aber sie hatte den Text schon 1992 für Studierende geschrieben. In dieser informell zirkulierenden ersten Fassung verwendete sie wie in den Gedichten das Binnen-I und das groß geschriebene Schwarz. Aber in der offiziellen Veröffentlichung des überarbeiteten Textes in einem universitären Verlag tauchen diese Schreibweisen nicht mehr auf. Auffällig ist auch, dass sie in dieser Version vermehrt genderneutrale Formulierungen gewählt hat, z.B. afrikanische Menschen statt AfrikanerInnen. Lamy erklärt: „Wir konnten keinen Briefwechsel zwischen ihr und den Herausgeber*innen finden, aber es ist so offensichtlich, dass sie am Anfang nach ihrer Art geschrieben hat und sich dann an Veröffentlichungsvorgaben halten musste.“ 2021 gab es eine Neuveröffentlichung von Ayims Essays im Unrast Verlag, in der wieder gegendert wird. Diese erneute Änderung, die nach Ayims Tod vom Verlag vorgenommen wurde, wird nicht erklärt. Bei der Übersetzung haben sich Lamy und Rossignol an die offizielle Erstveröffentlichung des Textes gehalten und die Entstehungsgeschichte in einer langen Fußnote erläutert/geschildert, um diesen Prozess der Standardisierung des Textes, der vieles über die damaligen Forschungsinstitutionen aussagt, zu dokumentieren. „Aber natürlich ist das frustrierend, denn jetzt steht überall „les Afro-Allemands“, also eigentlich Afrodeutsche Männer,“ kommentiert Lamy.
Sowohl in dem Gedichtband als auch in dem Essayband, haben sich Lamy und Rossignol entschieden nicht durchweg für einheitliche Lösungen zu verwenden. Von Fall zu Fall wählten sie andere Varianten und für alle Entscheidungen können sie gute Gründe nennen. Von der Wahl eines Textes, den sie Verlagen pitcht, bis hin zu jedem einzelnen Wort, ist Lucie Lamys Übersetzungspraxis politisch.