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Zwischen Sensibilität und Überzeugung
Sichtbarmachen von Absurdität und Kreativität im Übersetzungsprozess

Bunte Illustration mit verschiedenen Menschen, die lesen, in Büchern blättern, vorlesen, am Laptop arbeiten.
© Anna Meidert

Rose Labourie erzählt von ihrer wachsenden feministischen Sensibilität. Nach ihrer Rohübersetzung von Kim de l'Horizons „Blutbuch“ entwickelte sie feministische Sprachstrategien und profitierte dabei besonders von dem Austausch mit Kolleg*innen.

Justine Coquel und Anna von Rath im Gespräch mit Rose Labourie (Übersetzung: Katrin Segerer)

Die Liebe zur deutschen Sprache und später ganz konkret ein Verlagspraktikum führen Rose Labourie zum Literaturübersetzen. Schnell kristallisiert sich ein Ziel heraus: die deutschsprachige Literatur in Frankreich bekannter zu machen. Bei der Auswahl der Texte folgt sie ihrem Bauchgefühl, der drängenden Notwendigkeit, dass diese vom französischen Publikum gelesen werden sollen.

Obwohl Rose Labourie sich nicht als engagierte Übersetzerin im politischen Sinne begreift, entwickelt sie durch ihre private Lektüre eine feministische Sensibilität, sodass sie inzwischen eher Frauen als Männer übersetzt und Aufträge ablehnt, wenn sie ihren Überzeugungen widersprechen.

Im Co-Working-Space Fontaine O Livre, wo sie mehrere Jahre lang arbeitet, lernt sie unter anderem Karine Lanini kennen, Programmleiterin von Binge Audio Éditions, und die Lektorin und Korrektorin Sophie Hofnung, die auf inklusive Sprache spezialisiert und u. a. für die feministische Zeitschrift La Déferlante tätig ist. Über Weiterempfehlungen in feministischen Verlagskreisen gelangt Rose Labouries Name schließlich an Lisa Liautaud vom Verlag Éditions Julliard, die gerade eine französische Stimme für Kim de l’Horizons Blutbuch sucht. Mit den Themen des Romans ist Rose Labourie bereits vertraut, sie hat zuvor Vielen Dank für das Leben übertragen, das ebenfalls die Geschlechtsidentität in Frage stellt; Autor*in Sibylle Berg lebt wie Kim de l’Horizon in der Schweiz.

Gleich beim ersten Lesen überwältigt Rose Labourie die literarische Wucht von Blutbuch – dieser Roman muss unbedingt der französischen Leser*innenschaft zugänglich gemacht werden. Doch wie soll eine cis Frau die Übersetzung eines dezidiert queeren Textes angehen? Indem sie seine literarische Radikalität mit offenen Armen begrüßt und Gespräche, Texte und Erfahrungen anderer Stimmen aufsaugt. Deshalb vertieft Rose Labourie sich in Werke von Lexie, Paul B. Preciado oder auch Maggie Nelson, studiert Vokabular, Referenzen und Herausforderungen der Transidentität.

Auf die Frage, ob es legitim sei, dass cis Menschen Blutbuch übersetzen, hob Kim de l’Horizon hervor, wie deutlich allein diese Debatte die fehlende Sichtbarkeit und Repräsentation von trans* Personen im Kulturbereich herausstelle. Allerdings kam es für demm nicht in Frage, den facettenreichen Roman allein auf das Thema der Transidentität zu reduzieren. Deshalb hatte dey auch keine Einwände gegen cis Übersetzerinnen und Übersetzer.

Für Rose Labourie zeichnet sich bald eine Methode ab: die Rohübersetzung. Es drängt sie, Strecke zu machen, bestimmte Problematiken erst einmal auszusparen. „Ich musste vorankommen, übersetzen. Ich hatte das Gefühl, endgültige Entscheidungen erst am Ende treffen zu können.“ Für die Übertragung von „das Kind“ und dem zugehörigen neutralen Pronomen „es“, das im Französischen keine Entsprechung hat, wählt sie beispielsweise zunächst das genderneutrale Pronomen iel, das sie jedoch später wieder tilgt und stattdessen überall l’enfant verwendet, eine neutrale Lösung, die auch Kim de l’Horizon gefällt.

L’enfant ne laissait jamais grand-mer seule dans sa solitude affamée. Même si l’enfant ne supportait sa présence qu’à coups de pensées magiques. Abracadabra. Paillettes. Omelette. Hocus pocus. Dans son ventre, l’enfant comprenait même la couleur des croûtes dorées : ce jaune uniforme, le même que la colle qui faisait tenir le sucrier.

Das Kind liess Grossmeer nie allein in ihrer Hungereinsamkeit.Obwohl es sie nur ertrug, wenn es magische Dinge dachte. Heile, heile Segen. Glitzern. Verwachsen. Hex Hex. Es verstand in seinemBauch auch die Farbe der Fotzelschnitten: dieses glatte Gelb, das dasselbe Gelb war wie der Leim, der die Zuckerdose zusammenhielt.
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Andere Übersetzungsherausforderungen, wie die feministischen Sprachstrategien, werden in konstruktiver Zusammenarbeit mit der bereits erwähnten Sophie Hofnung und dem Team von Julliard gelöst; so enden beispielsweise die im Französischen eigentlich notwendigerweise männlich oder weiblich markierten Adjektive und Perfektformen auf ein umgedrehtes e oder die Ligatur æ:

Il était une fois je, je n’étais ni lui ni elle, je suis næ et j’ai grandi en étant humainə, je suis arrivæ à la majorité et je suis partiə pour la plus grande ville de mon pays, et comme à l’époque il n’y avait que deux genres, mon corps n’existait pas encore, et c’est ainsi que je me suis précipitæ, chaussures fluo aux pieds, dans la culture gay où mon corps – pensais-je – aurait le plus de chance d’exister enfin.

Es war einmal ein Ich, Ich war einmal ein Es, ich bin einmal als Mensch geboren worden und aufgewachsen, ich bin einmal volljährig geworden und in die grösste Stadt meines Landes gezogen, und damals gab es ja nur zwei Geschlechter, also meinen Körper gab es damals noch gar nicht, und so stürzte ich mich eben neonfarbenen Schuhes in die Schwulenkultur rein, wo mein Körper – dachte ich – am ehesten ins Dasein kommen könnte.
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Statt der Versuchung nachzugeben, den deutschen Text zu glätten, lässt Rose Labourie sich ganz auf seine Rätselhaftigkeit ein, um mit ihren Entscheidungen der stilistischen Schönheit des Originals gerecht zu werden. In ihrer Antwort auf die Frage „Muss Übersetzer*innen ihren Autor*innen ähneln, um sie zu übersetzen?“ greift sie das Konzept der „Affinitäten“ von Lektorin Émilie Lassus aus einem Artikel von Raphaëlle Leyris für Le Monde des Livres auf: „Diese Frage darf nicht einfach ausgeblendet werden mit der Behauptung, alle können – und sollten – alles übersetzen. In Frankreich gilt die Literatur als heilige Sphäre, die außerhalb politischer Machtbeziehungen steht. Das ist falsch. Natürlich müssen wir uns die Frage nach der Legitimität stellen. In diesem Kontext finde ich das Konzept der ‚Affinitäten‘ spannend, denn genau das habe ich bei der Beschäftigung mit Blutbuch empfunden. Kim de l’Horizons Weg ist logischerweise ein ganz anderer als meiner, aber wir haben durchaus Affinitäten, was Sensibilität, Interessen, Weltanschauung angeht.“

Die Zweifel, mit denen die Arbeit an der Übersetzung gespickt ist, können einmal mehr durch den Austausch mit anderen ausgeräumt werden. Zusammen mit den übrigen Übersetzer*innen von Blutbuch weltweit und Kim de l’Horizon selbst nimmt Rose Labourie an einem Workshop im Übersetzerhaus Looren teil – eine heilsame Woche. Denn auch wenn ein Brief von Kim de l’Horizon sie alle am Anfang der Arbeit zu poetischer Freiheit und dem Finden eigener Lösungen ermuntert, ist die Einsamkeit vor dem Text doch manchmal quälend.

„Die literarische Übersetzung ist ja per Definition ein unmöglicher Prozess: Es geht darum, etwas anders auszudrücken, das überhaupt nur existiert, weil es auf eine ganz bestimmte Art und Weise ausgedrückt wurde. In diesem speziellen Fall mussten wir Selbstvertrauen entwickeln und Kim de l’Horizons Rat folgen, den Geist zu übersetzen, nicht das Wort.“

Durch ein Vorwort kann Rose Labourie ihre Entscheidungen, aber auch ihre Arbeit sichtbar machen, nicht zuletzt für die Kritik, deren Begeisterung für den Roman auch aus der Übersetzung resultiert. Zudem nutzt Rose Labourie Fußnoten und erstellt einen angehängten Glossar für die „Meersprache“, eine vom Berndeutsch inspirierte, klangspielerische Kunstsprache.

Übersetzen bedeutet immer auch kompensieren. Im Deutschen verwendet Kim de l’Horizon anstelle von „man“ das dezidiert queere „mensch“, was durch die Übertragung mit dem französischen Pronomen on unsichtbar wird. Rose Labourie begründet ihre Entscheidung, die insbesondere durch die Lektüre von Eliane Viennot motiviert ist, wie folgt: „On zu tilgen, wäre ein schwerer Fehler gewesen, schließlich ist es eines der einzigen neutralen Pronomen im Französischen. Aber ich wollte diese Unsichtbarkeit durch andere, der französischen Version eigene sprachliche Innovationen ausgleichen, wie eine Art Echo auf das deutsche ‚mensch‘ und ‚jemensch‘.“

Darin liegt die große Kunst dieser Übersetzung, die durch kleine Details die Schönheit und Wirkmacht des beispiellosen, beinahe beängstigend intimen Textes nachzeichnet.

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