Dritte Generation Ostdeutschland
„Wir wollen sichtbarer werden“

Das Netzwerk Dritte Generation Ostdeutschland ging 2012 für Lesungen und Diskussionen auf Tour.
Das Netzwerk Dritte Generation Ostdeutschland ging 2012 für Lesungen und Diskussionen auf Tour. | Foto (Ausschnitt): © Wendekind gUG

Das Netzwerk Dritte Generation Ostdeutschland will den sogenannten Wendekindern eine Stimme geben. Mitgründerin Adriana Lettrari erklärt im Interview, warum das auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch nötig ist und was ihre Generation leisten kann.

Frau Lettrari, was ist die Dritte Generation Ostdeutschland?

Die Generation umfasst in etwa die Jahrgänge zwischen 1975 und 1985, mehr als 2,4 Millionen Menschen. Diese Wendekinder wurden in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) geboren und sind im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Unser Netzwerk soll nicht für die gesamte Generation sprechen, sondern vielmehr ein Dach bieten, unter dem sie Erfahrungen austauscht und für die Zukunft Pläne schmiedet. Wir wollen den Diskurs mitbestimmen und haben in einem Buch 30 Autoren dieser Generation eine Stimme gegeben. Viele Wendekinder machen spannende Sachen, das muss sichtbarer werden – auch um das Image der Ostdeutschen infrage zu stellen.

Warum, denken Sie, ist das nötig?

Ich hatte mich schon länger gefragt, warum ich so ein ungeklärtes Verhältnis zu dem Landstrich habe, aus dem ich komme. Ich wollte da weg. Vor fünf Jahren sah ich eine Talkshow im Fernsehen, es ging um die DDR. Da saßen fast nur ältere, westdeutsche Herren. Überhaupt waren Ostdeutsche kaum in den Medien präsent. Das hat mich wütend gemacht. Wenn es um uns ging, wurde immer ein bestimmtes Bild gezeichnet: Kevin aus Chemnitz, rechtsradikal, arbeitslos, drogenabhängig. Angesichts dessen, was meine Generation an Bildungsaufstieg und Mobilität geleistet hat, fand ich das nicht gerecht.

Die eigene Geschichte verstehen

Adriana Lettrari ist Mitgründerin des Netzwerks Dritte Generation Ostdeutschland. Adriana Lettrari ist Mitgründerin des Netzwerks Dritte Generation Ostdeutschland. | © Ronny Keller Was macht Ihre Generation aus?

Mein Eindruck ist, dass wir eine doppelte Sozialisierung durchgemacht haben. Nach dem Mauerfall 1989 haben wir uns relativ schnell an die Anforderungen eines neuen wirtschaftlichen und politischen Systems angepasst – vor dem Hintergrund einer Erziehung, die teilweise von anderen Werten geprägt war als die in Westdeutschland. Das Thema soziale Verantwortung ist uns zum Beispiel vertrauter als ein ausgeprägter Individualismus.

Sollte das Potenzial Ihrer Generation mehr genutzt werden?

Die Erfahrung, sich in einer Art Sandwich-Position zu befinden, ist unglaublich nützlich. In Biografie-Workshops erzählen wir unsere persönlichen Erlebnisse. Es gibt ein starkes Bedürfnis, die eigene Geschichte zu verstehen: Was mache ich aus der Besonderheit, in zwei Staaten aufgewachsen zu sein? Wie habe ich diesen Wandel bewältigt? Daraus kann Kompetenz entstehen. Ein ostdeutscher Unternehmer antwortete mir einmal auf die Frage, wie er diesen Umbruch erlebt habe: Ich habe immer nur von heute auf morgen gedacht und jeden Tag versucht, das Beste zu geben. Das ist schlicht, aber sehr nutzbar. Die Dritte Generation eignet sich hervorragend als Berater für Veränderungsprozesse.

Keine Renaissance des Ossi-Daseins

Wie kommen Ihre Projekte an?

Wir haben bereits verschiedene Preise gewonnen, zum Beispiel den Gustav-Heinemann-Preis für bürgerliches Engagement. Auch die Politik ist interessiert: Die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig ist Fördermitglied, und gerade hatten wir eine Podiumsdiskussion mit Matthias Platzeck, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg. Inzwischen kommen zu unseren Veranstaltungen auch immer mehr Menschen aus unserer Elterngeneration und aus Westdeutschland. Wir haben mittlerweile vier Regionalnetzwerke, unter anderem in der Schweiz und in den USA

Sind 25 Jahre nach dem Mauerfall die Unterschiede zwischen Ost und West nicht längst verwischt?

Wir müssen uns mit dem ostdeutschen Identitätsteil auseinandersetzen und uns damit versöhnen. Es geht dabei nicht um eine Renaissance des Ossi-Daseins. Wir wollen das Verständnis einer neuen gesamtdeutschen Dritten Generation entwickeln. Deswegen werden wir in diesem Jahr zum Generationstreffen – unserer Hauptveranstaltung – das erste Mal auch Westdeutsche und Migranten einladen. Denn wir alle bestimmen zusammen die Zukunft unseres Landes.
 

Adriana Lettrari, Jahrgang 1979, wurde in Neustrelitz geboren und wuchs in Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) auf. Die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin arbeitete unter anderem als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag und als Fraktionsgeschäftsführerin im Landtag Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist Mitgründerin des 2010 ins Leben gerufenen Netzwerks Dritte Generation Ostdeutschland.

 

Bibliografie

Michael Hacker et al. (Hrsg.): Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen, Berlin: Ch. Links 2012.