Erinnern und Vergessen
Andere kultivieren die Erinnerung, wir das Vergessen

Holocaust Mahnmal
Foto: © Colourbox.de


Als ich neulich durch Deutschland reiste, fielen mir die emotionalen und politischen Veränderungen auf, die sich seit der Wiedervereinigung vollzogen hatten.

Vor der Wende hatte man kaum über den Krieg gesprochen, bzw. darüber, wer in den Kriegsjahren und davor wem was angetan hatte. In den 60er- und 70er-Jahren setzten sich in Westdeutschland Filmemacher wie Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Werner Herzog in filmischen Metaphern mit dem Nationalsozialismus und seinem repressiven demokratischen Staatsapparat auseinander. Schriftsteller wie Günther Grass und Heinrich Böll taten dasselbe auf dem Gebiet der Literatur. Aber die beiden deutschen Staaten schwiegen sich aus über ihre Vorgeschichte und machten einen Bogen um die Vergangenheit. Stattdessen erfanden sie ein neues nationales Narrativ um das schwarze Loch, das der Krieg in ihre Geschichte und kulturelle Identität gerissen hatte.

Die Wiedervereinigung des geteilten Landes nach dem Fall der Mauer im Jahr 1989 scheint der Bundesrepublik ein neues öffentliches Gesicht und eine neue Sensibilität verliehen zu haben. Es handelt sich hier um einen Staat, der sich bewusst dafür entschieden hat, sich an die Greuel, an denen er beteiligt war, zu erinnern – auch an diejenigen, die er nicht alleine zu verantworten hat. Die deutsche Geschichte läuft seit 1945 parallel zur russischen Geschichte, und beide laufen zusammen in einer Stadt und in einem Land, das man auf brutalste (man könnte auch sagen, lächerlichste) Art und Weise entzweit hat. Erinnerungen an die dunkle Vergangenheit sind physisch greifbar: In der Nähe des Reichstags in Berlin sind über die Jahre diverse Gedenksteine für die Opfer des Nationalsozialismus entstanden. Der Größte davon ist eine unheimliche Ansammlung von Beton-Särgen und erinnert an den Völkermord an den Juden.
Kleinere Gedenktafeln in naheliegenden Parks erinnern an all die anderen Menschen, die in der Nazi-Zeit getötet wurden: die Roma, Homosexuellen und körperlich und geistig Behinderten, die in diesen Zeiten der ethnischen Säuberung ihr Leben lassen mussten. Der ehemalige Verlauf der Mauer ist in ganz Berlin mit weißen Steinen sichtbar gemacht.
 
In Deutschland existiert eine Bereitschaft zur Erinnerung, die vom Staat selbst institutionell gefördert und umgesetzt wird. Das brachte mich dazu, an unseren eigenen Umgang mit der Vergangenheit zu denken, bzw. an unsere Bereitschaft, zu vergessen, die ebenfalls vom Staat unterstützt und institutionalisiert wird. Wo sind unsere Gedenksteine für die zivilen Opfer, diejenigen, die bei Aufständen von ihren Mitbürgern umgebracht wurden, oder diejenigen, die von der Polizei getötet wurden, deren eigentliche Aufgabe es ja ist, uns in unseren Häusern und Städten zu beschützen? Wo sind unsere Räume, an denen wir innehalten und uns unserem Schatten stellen können? Und vielleicht noch wichtiger: Wo gesteht sich der Staat seine eigenen Momente der Ungerechtigkeit und Unterdrückung ein?

Wir stehen mit stolzgeschwellter Brust an Ruhmestafeln, aber haben nichts, das uns an unsere Schandtaten erinnert, an die Gewalt, die wir einander willentlich angetan haben. Ach was, vergessen wir die Gedenksteine, es gibt nicht einmal einen Diskurs über die Schrecken der Vergangenheit, seien es Teilung, Operation Blue Star oder Godhra. Wenn wir über diese schrecklichen Ereignisse sprechen, dann nur, um den Anderen die Schuld zu geben oder uns von Schuld freizusprechen, nicht aber um in uns zu gehen und unsere Taten zu reflektieren. Es ist so viel einfacher zu vergessen, um dann ein ums andere Mal die Leute wieder ins Amt zu wählen, die erst die Fackeln anzünden und dann wie Nero auf der Geige spielen, während Menschen auf der Straße verbrennen.