Improvisations-Theater
Der indische Karl Marx

Ein bärtiger Mann steht auf einer Theaterbühne. Er hält ein Buch in die Luft, als wäre es eine heilige Schrift. Doch es sind weder Bibel, noch Koran und auch nicht die hinduistischen Veden. Es ist Das Kapital, welches er vor seinem Publikum lobt. Nicht nur unter Marxisten gilt es als herausragendes Werk der Weltgeschichte. Das Kapital ist eines der Hauptwerke des deutschen Philosophen und Soziologen Karl Marx, der 1818 in Trier geboren wurde und jetzt in dem Impro-Theaterstück Karl Marx in Kalbadevi durch den indischstämmigen Schauspieler Satchit Puranik verkörpert wird.
Von Natalie Mayroth
Im westindischen Gujarat, wo Puranik aufwuchs, galt der Marxismus als utopisch und gegenstandslos. Dennoch befasste er sich in seiner Schulzeit intensiv mit Marx, der als Erster definiert hat, was Kapitalismus im Kern ausmacht. Im College las Puranik das Kommunistische Manifest. Lange Zeit hielt er seinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften für Zeitverschwendung, da er eigentlich viel mehr für Literatur, Theater und Film übrig hatte. Aber seine Bemühungen sollten ihm später noch nützlich sein, als er nämlich für die Rolle als indischer Karl Marx gecastet wurde. Seit mehr als fünf Jahren spielt Satchit Puranik nun schon den deutschen Gelehrten. Wir haben den Schauspieler zum Gespräch getroffen und mit ihm über die Bedeutung von Kommunismus gesprochen und darüber, was er in seiner Zeit als Marx über Kapitalismus, Gandhi und Deutschland gelernt hat.
Können Sie sich erinnern, wie oft Sie in die Rolle von Marx in den vergangenen Jahren geschlüpft sind?
Im Februar 2013 habe ich angefangen. Seitdem waren es mindestens hundert Shows, und ich werde so lange weitermachen, wie Marx relevant ist. Und das sind mindestens zweihundert weitere Jahre.
Woher kommt das Stück?
Es gab eine Vorlage des US-amerikanischen Schriftstellers Howard Zinn, der das Theaterstück Marx in Soho 1999 inszenierte. Zinn wollte damit die menschliche Seite hinter dem Philosophen, der politischen Figur und dem Journalisten herausstellen. Der indischer Dramatiker Uttam Gadal hatte das Stück gesehen, was ihn dazu veranlasste, es ins heutige Indien zu überführen. Damit hat er sich wahrscheinlich einen der am meist gehassten Männer auf diesem Planeten ausgesucht.
Wie wurden Sie zum indischen Karl Marx?
Uttam Gadal schloss sich mit dem indischen Regisseur Manoj Shah zusammen. Sie waren an Marx als Denker interessiert und kamen auf die Idee, ihn ins Finanzzentrum Indiens, genauer gesagt auf den Marktplatz Kalbadevi der Metropole Mumbais zu holen. Ich hatte bereits mit Manoj Shah zusammengearbeitet, und er wusste, wenn er einen Schauspieler sucht, der aussieht wie Marx, sich für Politik und Wirtschaft interessiert und dazu noch Gujarati spricht, muss er nicht lange suchen.
Warum gerade Mumbai?
Jeder Inder hat eine besondere Beziehung zu seinem lokalen Marktplatz. Die Geschäftstätigkeit, die Bargeld abhängigen Abwicklungen von Geschäften, die sozialen Klassen und die spürbaren Kastenunterschiede machen sie zu einem Ort, an dem Wirtschaft, Politik und Soziologie aufeinandertreffen. Gadal und Shah wollten vor allem ein Gujarati sprechendes Publikum ansprechen, um mit ihnen in einen Diskurs über Geld zu treten. (In Indien sind Gujaratis besonders als Händler bekannt.) Historisch gesehen liegt der Marktplatz von Kalbadevi auch ganz in der Nähe von Mani Bhavan, dem ehemaligen Wohnsitz Gandhis in Mumbai. Mani Bhavan war ein wichtiges Epizentrum seiner Politik von 1917 bis 1934.
Erst Marx, jetzt Gandhi – wie passt das zusammen?
Gandhi ist Indiens interessanteste und polarisierendste Figur. Also haben wir ein Stück geschaffen, in dem Marx Gandhi im Jenseits konfrontiert. Gandhi, wie auch der indische Premierminister Narendra Modi stammen übrigens aus Gujarat. Aber noch interessanter ist es, diesen Stoff einer Gesellschaft zu präsentieren, die ziemlich am Konsum orientiert ist.
In dem Stück sprechen Sie auch den amtierenden Premierminister an. Was ist der Grund?
Damit Theater am Leben bleiben kann, muss es sich mit dem Heute befassen. Als wir das Stück 2013 auf die Bühne brachten, war eine andere Regierung an der Macht, als es heute der Fall ist. Damals griff ich als Marx die Regierung zu Recht für ihre Herzlosigkeit an. Seit 2015 hat sich Indien jedoch drastisch verändert, deshalb werde ich in meiner Rolle als Marx immer konkreter. Religiöser Fundamentalismus, Angriffe auf Minderheiten, das Leiden der Bauern, sowie Kasten- und Klassenkonflikte sind weiter verbreitet als zuvor. Die Währungsreform von 2017 stellte sich als verhängnisvoll heraus, wovon sich das Land noch immer erholt. In solchen Zeiten stehen die Forderungen und Versprechen unseres Premierministers unter besonderer Beobachtung. Marx ist im indischen Kontext quasi gezwungen, auch die politische Situation infrage zu stellen.
Welche Bedeutung hat der Ökonom Marx im heutigen Indien?
Glücklicherweise oder unglücklicherweise ist Marx hier, um zu bleiben und dass so lange bis Privateigentum, Patriarchat, privater Grundbesitz und die Ausbeutung der Arbeiterklasse andauern. Solange wie der Kapitalismus die Welt weiter vorantreibt, wird Marx bis an seine Grenzen gehen. Dennoch ist Marxismus eine Diskussion wert.
Wo sehen Sie die Gemeinsamkeiten zwischen Marx und Gandhi?
Beide sind Denker, die man als 'utopische Träumer' bezeichnen kann. Und beide werden weitgehend für ihre Arbeit missverstanden. Sie bekämpften Ungerechtigkeiten mit unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie eine Revolution stattfinden könnte. Und sie lebten in ärmlichen Verhältnissen. Gandhi nutzte Armut als politisches Instrument. Bei Marx waren es seine eigenen Entscheidungen, die zu prekären Bedingungen führten. Sie verbindet der Traum von einer idealen Welt, auch wenn ihre Ansätze grundlegend andere sind.
Wir haben über Marx gesprochen, aber was war der Traum Gandhis?
Ein unabhängiges Indien mit intelligenten Menschen, die nicht in Dreck und Dunkelheit leben. Männer und Frauen, die frei und in der Lage sind, gegen jeden aufzustehen. „Keine Seuche, keine Cholera, keine kleinen Pocken, niemand wird müßig sein und niemand wird sich in Luxus wälzen." Das scheint dem 'Geist' des Kommunismus in Europa, von dem Marx sprach, ziemlich nahe zu kommen.
Das klingt in der Tat nicht zu weit vom Konzept des Kommunismus entfernt. Sehen Sie das als Grund, sich als Inder mehr mit Marx auseinandersetzen?
Jeder sollte das tun. Dies gilt insbesondere für ein Land, das sich seit unserer Unabhängigkeit vor 70 Jahren mit seiner halbfeudalen und halbkolonialen Identität auseinandersetzt.
Wir sind heute an einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Eines ist sicher: Die Idee von begrenzten Ressourcen und unbegrenztem Wachstum ist an ein Preisschild geknüpft. Egal wo oder wann wir über dezentrale Machtstrukturen, Arbeiter- und Eigentumsrechte sprechen, erweisen wir damit Marx Ehre, da es auf seinen Gedanken aufbaut. Der Kapitalismus hat zur Konzentration des Reichtums in den Händen weniger geführt. Für jeden, der wissen möchte, wie die Dynamik Macht funktioniert, ist Marx unausweichlich.
Hat sich ihr Blick auf die Gesellschaft verändert, seitdem Sie Marx spielen?
Marx hat mir geholfen, die Gesellschaft zu entschlüsseln und zu verstehen, wie Geschichte geschrieben, wiedergegeben und angeeignet wird. Marx sagte: "Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift." Ich habe das Glück, die Gelegenheit zu haben, mich mit der komplexen Beschaffenheit von Klasse, Kaste und wirtschaftlichen Unterschieden auseinanderzusetzen.
Ihr Publikum ist sehr unterschiedlich – von Schulklassen bis zu Militärangehörigen. Wie kommt das Stück an?
Es gibt eine Neugier gegenüber Marx. Das Menschliche an ihm, an seiner Geschichte bewegt die meisten. Das liegt sicher daran, dass viele mehr über Marxismus als über Marx selbst gehört haben.
Sie haben von Marx gelernt, was können Deutsche von Ihnen lernen?
Ohne unbescheiden zu klingen, kann ich auch hier Marx zitieren. Ich habe am meisten über ‚Arbeit' von ihm gelernt. Nach Marx ist das Problem der Philosophie, dass Philosophen nur versuchen, die Welt zu interpretieren. Das Ziel sollte es jedoch sein, sie zu ändern. Ich versuche, die Welt mit jeder einzelnen Show zu verändern. Und was könnten da Deutsche von mir lernen? Vielleicht wie Gandhi und Marx friedlich nebeneinander bestehen können. Gandhi soll gesagt haben: "Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst." Diese Denker sagen uns, dass wir mehr als unsere Indianness oder Germanness sind, mehr als unsere Hautfarbe und unsere Geschichte. Wir sind alle internationale Bürger und das viel mehr in einer post-globalisierten Welt. Wir haben wirklich nichts zu verlieren außer unseren Fesseln. Und ja, es ist höchste Zeit, die Geschichte zu betrachten und die Wiederholung alter Fehler zu verhindern.
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