Dokumentarfilm
Mehr als Heilige Flüsse

Hatha Yogi Baba mit seinem Kind am Ganges
Hatha Yogi Baba mit seinem Kind am Ganges | Foto: © 2013 Cité Films – Jungle Book Entertainment – Virginie Films

Es überrascht nicht, dass sich Pan Nalin, der in seinem Spielfilm Samsara (2001) und in dem Dokumentarfilm Ayurveda: Art of Being (2001) spirituelle Betätigungen und kulturelle Traditionen erkundet hatte, zu einem 55-Tage dauernden Aufenthalt an der Hindu-Wallfahrtsstätte Kumbh Mela aufmachte.

Es ist die größte religiöse Feier weltweit, die von Hunderten von Millionen Hindus alle drei Jahre in einem Zeitlauf von zwölf Jahren besucht wird. Die Pilger versammeln sich, um im heiligen Wasser des Ganges, wo die Sünden fortgewaschen werden können, zu baden und verrichten spirituelle Rituale.

Nalin filmte hauptsächlich in Allahabad nahe der Stelle, wo Ganges und Yamuna zusammenfließen, und er konnte spektakuläre Bilder der Pilgerrituale, farbenfroher Ornamente und bemalter Menschen- und Elefanten-Körper aufnehmen. Mit einem überaus humanistischen Blick werden einige individuelle Gesichter und Körper, deren Stimmen normalerweise in der Masse untergehen, ins Zentrum der Dokumentation gerückt.

Wir lernen den halbsesshaften Kishan Tiwari kennen, der behauptet, Waise zu sein, und zum besten Führer durch seinen Alltag in der Mela, der Zusammenkunft der Gläubigen, wird. Der für sein Alter außerordentlich gewiefte und für sich selbst sorgende Junge freundet sich mit zwei Polizisten an, einem Dreiradfahrer, einigen Gläubigen und Vagabundenkollegen, die ihn durchfüttern und mit ihm spielen, ohne seinen Lebensstil in Abrede zu stellen.

Wenn er seine nur wenigen Besitzstände zählt und von seinen Plänen erzählt, ein Mafiaboss zu werden, der Morde in Auftrag gibt, gibt Kishan Tiwari unwissentlich eine tiefe Melancholie preis, in der sich Jugendhaftigkeit und ein verborgener Hass auf die Welt mischen.

Parallel wird die Geschichte eines zweiten obdachlosen Jungen erzählt, der von dem Hatha-Yogi Baba adoptiert und liebend angenommen wurde, und dies trotz aller fortgesetzter Versuche der Kinderfürsorge, ihm das Kind wieder weg zu nehmen. Auf der anderen Seite der Mela bekommen wir Familien zu sehen, die am Fundbüro verzweifelt und ratlos nach ihren in der Masse verloren gegangenen Kindern suchen.

Was diese Folge aus Einstellungen, die uns von oben auf die Massen blicken lassen, aus Großaufnahmen menschlicher Gesichter und aus halbtotalen Einstellungen von Tableau Vivants verschiedener Pilgergruppen eigentlich zeigt, ist nicht nur die Mela, der Heilige Fluss, sondern auch das Leben, den Kampf und das Leiden all der Seienden – ein Netzwerk von Familien, von Freunden oder in gar keinem Zusammenhang stehender Einzelner, deren Wege sich einfach kreuzen. Es ist der Ort, an dem Spiritualität, menschliche Körper, Glauben und Meditation einander begegnen. Während sich das beobachtende Kameraauge durch die Menge bewegt, wird der Bildrahmen gefüllt, Farben werden bunt gemischt und die Bewegung irgendwie hektisch. Gebadet in orange-braunem Licht leuchten der Ganges und der Sand entlang der Uferbänke in der gleichen Farbe.

In Nalins filmischer Feier von Masse und Individuum lässt das Miteinander von unbedeutend winzigen menschlichen Körpern und der Größe der Flusskulisse eine erhabene Schönheit von Vielfalt entstehen.