Internationales Besucherprogramm
Kleine Tänze in Deutschland

In jüngster Zeit musste ich über die kleinen Begegnungen bei großen Veranstaltungen nachdenken. In diesem Sommer besuchte ich zwei große Tanz-Events in Deutschland. Das erste war das Festival tanz nrw, das verteilt in ganz Nordrhein-Westfalen stattfindet, und das zweite der Tanzkongress in Dresden. Bei beiden Großereignissen kommen viele Menschen zusammen – Künstler*innen, Vortragende, Autor*innen, Kurator*innen und Geldgeber*innen – und treffen einander in einer scheinbar endlosen Reihe von Veranstaltungen. In beiden Fällen allerdings blieben mir eher die intimen Begegnungen im kleinen Rahmen in Erinnerung.
Von Poorna Swami
An einem Tag Anfang Mai kam ich in Düsseldorf an, um am internationalen Besucherprogramm von tanz nrw teilzunehmen. Es war ein kühler und leicht regnerischer Morgen – und für mich ein ziemliches Kontrastbild zum indischen Sommer, den ich nur ein paar Stunden zuvor hinter mir gelassen hatte. In den folgenden Tagen war das Wetter in Nordrhein-Westfalen meistens ziemlich trist, die Gruppe der Teilnehmer am Besucherprogramm hingegen war ganz und gar das Gegenteil davon. Aus so weit entfernten Gegenden wie Brasilien und der Ukraine, Jordanien und Hong Kong kamen die Teilnehmer (die meisten von ihnen Organisatoren von Festivals und Residency-Programmen), die zusammen eine tolle Truppe bildeten. Die bunte Gesellschaft absolvierte ein dichtes Programm aus Aufführungsbesuchen, Atelierbesuchen, Treffen mit Künstlerinnen und Künstlern und tauschte sich nebenbei über alles und jenes aus – in Gesprächen über die gerade gesehenen Werke bis hin zu den herausfordernden Bedingungen für eigene Arbeit in den jeweils gegebenen Kontexten.
Wenn es das erklärte Ziel des Programms auch war, die künstlerischen Arbeiten aus Nordrhein-Westfalen und die dortigen Standortbedingungen zu bewerben, um sie idealerweise international bekannt zu machen, waren gerade die ungeplanten Begegnungen und Diskussionen innerhalb unserer Gruppe für mich so besonders wertvoll.
Unterwegs im Auftrag, durch Entdeckungen Netzwerke zu schaffen, wurde ich in der Gruppe daran erinnert, dass Kunst mehr als nur ein Produkt ist – nämlich ein Forum für Menschen, das sich immer weiterentwickelt.
Während der Tour durch NRW besuchten wir Düsseldorf, Köln, Essen und Bonn. Das deutsche Tanzarchiv in Köln, PACT Zollverein in Essen und das Weltkunstzimmer in Düsseldorf waren die Einrichtungen, die mich am meisten interessierten – wobei die letzten beiden wegen ihrer Ausrichtung auf unterstützende Arbeitsprozesse besonders spannend waren. Als Journalist und Künstler nutzte ich meinen Aufenthalt nicht nur, um Material zum Kuratieren zu suchen, sondern mehr über die Einrichtungen und solche Arbeitspraktiken vor Ort zu erfahren, die für meine eigene Community von Interesse sein könnten.
Auch wenn es nicht ganz leicht war, sich nur mit Englisch in ihnen zurechtzufinden, so offenbarten die Archive dennoch ihre Verfahren einer sorgfältigen Aufbereitung der Materialien, mit denen Tanz archiviert und dokumentiert werden kann und sollte. Die Offenheit, mit der die Mitarbeiter der Archive uns Besuchern aus aller Welt mit unseren Fragen begegneten, war herzerfrischend. Besonders beeindruckte mich die Ausstellung über Tanz-Kritiker, in der nachgezeichnet wurde, wie sehr die Tanzgeschichte in Deutschland von bestimmten Geschichten der Gewalt und der Zensur geprägt ist. PACT, gelegen in der ehemaligen Zeche Zollverein (eine UNESCO-Weltkulturerbestätte), war ein erstaunlich-wunderbarer Ort. Von der Architektur war ich begeistert und fand mich an jeder Ecke freudig erregt. So viele unterschiedliche Kunstprojekte in dem enormen Gebäudekomplex gleichzeitig wahrzunehmen, war einfach aufregend. Für viele Künstlerinnen und Künstler muss es ein Traum sein, an einem solchen Ort Arbeiten zu realisieren.
Trotz der vielen Ausflüge zu solchen großartigen Orten in schneller Folge waren für mich die Höhepunkte der Reise vielleicht die künstlerischen Begegnungen mit den in Düsseldorf ansässigen Künstlern Ben J. Riepe und Alexandra Waierstall. Ben trafen wir in seinem Atelier – einem behelfsmäßigen White Cube voller Tierköpfe und glänzender Kostüme. Eine kleine Küche, ein Arbeitszimmer und ein als Archiv dienender Flur vervollständigten sein kleines Unternehmen. Ben Riepes Arbeiten hatte ich vor Jahren einmal in Indien gesehen, so dass ich mich freute, mit Geister - Fragment XL eine wesentlich aktuellere Arbeit von ihm während des Festivals zu erleben. Sein Sinn für die Szeneographie war so kraftvoll wie ich ihn in Erinnerung hatte. Am Morgen nach der Aufführung erläuterte Ben uns in seinem Atelier die eigene Arbeit, seinen Zugang zur choreographischen Praxis und wie er sich selbst als gut-geförderter Künstler selbst sieht.
Auch wenn die Produktion hochklassig war und die Szenographie grandios, so schienen die Ideen doch irgendwie gewunden und diskursiv. Das Gespräch mit Alexandra, die wir am nächsten Tag trafen (nachdem wir am Vorabend ihr Stück Bodies and Structure gesehen hatten), war ebenso überraschend. Sie erläuterte uns, wie sie den menschlichen Körper versteht und wie sie versucht, ihre Performance ethischer zu gestalten. Von den tatsächlichen Anliegen der beiden Künstler zu erfahren, machte es möglich, ihre Arbeiten wirklich zu verorten und sie zu erfassen. Ohne diese stillen Konversationen wären ihre Arbeiten nur Produkte geblieben und nicht Teil eines austauschenden Gesprächs geworden.
Einen Monat später und einmal quer durchs Land begann der Tanzkongress in Dresden. Die Tage waren sonniger, die Luft wärmer und die Grassflächen in Hellerau (dem Veranstaltungsort des Kongresses) wurde zum beliebtesten Treffpunkt. Dieser Wechsel von Innen nach Außen, vom Beton zur Erde war bezeichnend.
Der Tanzkongress blickt auf eine beinahe 100-jährige Geschichte zurück. Mit den Jahren wurde der Tanzkongress zu einer ziemlich förmlichen Angelegenheit, die von Wissenschaftern und Kuratoren dominiert wird. Der Diskurs wurde nicht mehr in erster Linie von den Künstlern und Künstlerinnen bestimmt. In diesem Jahr versuchte sich der Tanzkongress neu als ein Treffpunkt zum Austausch zu erfinden. Kuratiert von Künstlerinnen und Künstlern in erster Linie für Künstler und Künstlerinnen verzichtet die „Konferenz“ weitgehend auf traditionelle Präsentationen und Panels. Stattdessen waren choreografierte Diskussionen, körperbetonte Praktiken und gemeinsame Mahlzeiten als alternative Angebote gedacht, mit einander in Austausch zu treten.
In den fünf Tagen nahm ich an zahlreichen Gesprächen, Diskussionsrunden und Sitzungen teil.
Eine Serie von Einzelgesprächen zwischen Künstlern, die sich teilweise kannten und teilweise auch nicht, bot die einmaliger Möglichkeit zum Austausch verschiedener Perspektiven.
Diese Gesprächsformate – ob auf einer Bühne oder unter einem Baum mit Zuschauern, die auf dem Boden lagen – erlaubten Begegnungen ganz ohne feste Vorgaben. Ich wünschte mir, bei solchen von Institutionen organsierten Veranstaltungen wäre dies öfter so.
Ein anderes Format – “The Future has Always been Black” von Thomas DeFrantz – ließ mich in vielerlei Hinsicht komplett erschöpft zurück. Es handelte sich um ein organisiertes Gesprächsformat, für das Thomas verschiedene Beiträger eingeladen hatte, um über unterschiedliche Themen zu sprechen, die alle etwas mit Blackness zu tun hatten. Die Zuhörer im “Publikum” konnten sich ebenso spontan einbringen. Von Zeit zu Zeit erklang ein Gong und jeder wurde aufgefordert, die im Raum verteilten Tische umzustellen, so dass man dem Gespräch immer wieder aus einer buchstäblich anderen Perspektive folgen konnte. In dem mehrzählig weißen Raum waren diese Stunden, in denen man die Stimmen hören konnte, die ansonsten oft nicht wahrgenommen oder vereinnahmt werden, etwas ganz Wichtiges. Sie halfen, das Projekt einer Diversifizierung von Kunstplattformen (wie den Tanzkongress) zu demontieren, die zugleich einerseits gut gemeinte Aktionen wie auch andererseits eine Tendenz zur Tokenisierung aufweisen. Diese besondere Session stach im Programm heraus, weil in ihr Choreographie und Diskurs, Körper und Geist zusammenkamen. Sie sorgte bei mir auch für viele weitere private Gespräche über Vielfalt, Gleichberechtigung und die Geschichte des Grasses vor der Tür.
Für den Tanzkongress waren die vielen Räume in Hellerau für verschiedenste Nutzungen eingerichtet. Es gab den Bastelraum (voller Papier, Schnipseln, Flitterzeug und Krimskrams), das Musikzimmer (mit Instrumenten und Musikern, um zu improvisieren), das Studio (natürlich mit einer Tanzfläche) und weitere. Im Leseraum, in dem es Exemplare des Tanzkongress-Readers und Schaumstoffmatrazen zum Hinlegen gab, leitete ich eine Lesegruppe, die sich einen der Texte aus dem Reader vornahm – ein Gedicht von CA Conrad, eine*r amerikanische*n Autor*in. Eine kleine Gruppe von fünf Personen nahm teil und wir sprachen über das Gedicht und über Gewalt in der Kunst. Einige Tage später leitete Mandeep Raikhy die Besprechung eines Textes mit dem Titel ‘Queer Love’ an. Seine Gruppe war noch kleiner, doch die Diskussion ebenso lebhaft. Es passiert nicht jeden Tag, dass Künstlerinnen und Künstler sich die Zeit zu lesen nehmen und Worte und Gedanken gemeinsam analysieren. Diese ungezwungenen Sessions, bei denen man sich auf Papier und Schaumstoff rekelte, machte eben dies möglich.
Obwohl der Tanzkongress das Ziel hatte, für mehr Nähe zwischen den Teilnehmern zu sorgen, war die Veranstaltung mit ihren rund 500 Teilnehmern dennoch exklusiv und großformatig; die meisten musste für ihre Teilnahme bezahlen. Einiges war durchaus zu bemängeln wie der unzulängliche Zugang für Behinderte und ein nicht ausreichender Fokus und fehlende Zwischentöne bei einigen der Diskussionen. Und doch gab es trotz der Größe der Veranstaltung und des allgemeinen Chaos viele besondere kleine Momente, die sehr inspirierten. Da sich alle an der Essensausgabe beteiligten und das Essen miteinander teilten, stellte sich bald eine Gemeinschaftsatmosphäre ein. Beim Mittagessen oder Tee diskutierten die Künstler über Bücher, Vorführungen und Politik. Es gab Raum für die Künstler, sich ihrem eigenen Diskurs hinzugeben. Am meisten bezauberte mich, weil ich es wenigsten erwartet hatte, dass ich Individuen kennenlernte statt auf Institutionen zu treffen. Ich denke oft, dass sich die Kunstpraxis nur dann konsequent, ethisch und transformierend weiterentwickeln kann, wenn wir gemeinschaftliche Räume zur kollektiven Reflexion schaffen. Innerhalb dieses großformatigen Treffens waren es die kleinen Momente, die man als Erinnerungen mit nach Hause nahm, und die noch lange unabgeschlossenen Gespräche werden uns wiederkehren lassen.
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