Pratyan Chakraborty
„Ich bin im Prinzip introvertiert aufgewachsen“
Pratyan Chakraborty ist Dichter*in, Model und Queer-Aktivist*in. Im Interview, geführt an einem heißen Tag in einem Park, spricht sie übers queer-Sein in New Delhi und darüber, wie sie zum Dichten und Modeln kam.
Von Katharina Holzmann
Nachmittags um fünf Uhr ist es endlich nicht mehr ganz so heiß, die gefühlten 39 Grad sinken auf vielleicht 37 Grad und vor allem steht die Sonne jetzt so tief, dass das magische Licht, das alle Farben leuchten lässt, gute Fotos verspricht. Wir treffen Pratyan Chakraborty, Dichter*in, Model und Queer-Aktivist*in im Deer Park in Süd-Delhi, der an manchen Stellen eher einem Dschungel gleicht und in dem nicht nur Rehe, sondern auch Pfauen, Flughunde, Affen, Streifenhörnchen, Hunde und Meerschweinchen (!) zwischen Ruinen aus der muslimischen Herrschaftszeit leben. Der Park liegt in einem der bessergestellten Bezirke Delhis: Er wird umrahmt von einem kleinen Partyviertel, in dem sich auch die zwei einzigen „richtigen“ Clubs (wenn man von den Hotel-Clubs absieht) und viele Bars der Stadt befinden. Das hier ist eine Nachbarschaft, die man recht grob als East-Asia-Town bezeichnen könnte (wobei Ostasien von hier aus gesehen in Nepal startet); was heißt, dass hier viele junge und irgendwie hippe Leute rumhängen. Zwei Freunde laufen mit Jointi durch den Park; ein paar Jungs und Mädchen machen ziemlich beeindruckende Dance-Videos (nicht für Tiktok, das ist hier nämlich gebannt), die Jugend hängt in den Cafés und trinkt Bubble-Tea, viele Frauen tragen kurze Röcke; alles in einem lässt einen hier wenig daran denken, dass man sich in einem Land befindet, in dem seit zehn Jahren eine rechtsextreme und hindunationalistische Partei, die Bharatiya Janata Party, an der Macht ist. Während wir in Indien sind, stehen die Wahlen kurz bevor, und sobald man die kleinen Inseln liberaler Bürgerlichkeit verlässt, wird einem zumindest in Ausschnitten der Ernst der Lage bewusst: Ganze Häuserblöcke und Dörfer sind mit der neon-orangenen Flagge der BJP gepflastert, der Fernseher im Restaurant berichtet von einer weiteren Festnahme eines Mitglieds der Opposition, in manchen Vierteln sind Häuser, in denen Muslime leben, mit einem roten X markiert, einmal zieht eine ziemlich aggressiv brüllende neonorangene Wahlkampftruppe auf Motorrädern an uns vorbei. Nur so viel Kontext, um verstehen zu können, dass die scheinbar entspannte Atmosphäre, durch die wir uns mit Pratyan bewegen, eine fragile ist. Amelie fotografiert Pratyan in ihrem schillernd schönen Saree und es dauert nicht lange, bis erst zwei, dann drei Männer stehen bleiben und darauf bestehen, mit mir und Amelie und auch mit Pratyan Selfies zu machen. Das machen wir zwar kurz mit, aber es wird uns allen dreien schnell zu viel und wir laufen weiter durch den Park, auf der Suche nach einem ruhigen Ort, um uns zu unterhalten.
P: Pratyan Chakraborty
K: Katharina Holzmann
A: Amelie Kahn-Ackermann
P: Wenn du weiß bist, sagen sie: „Oh mein Gott!“ Dumme Leute. Manchmal denken sie, dass ich weiß bin, deshalb haben sie mich gefragt. Einmal war ich sogar in meiner Heimatstadt, und da waren zwei bengalische Mädchen, die nicht merkten, dass ich Bengalin bin, und sie fragten: „Können wir ein Foto mit dir machen?“ Im ersten Moment ist das nicht negativ, weil sie sehr nett zu dir sind. Aber dann weiß man nicht, was diese Leute tun. Sie machen sich über dich lustig, machen Memes von dir und fangen an, über dich zu reden. Und dann wird es so chaotisch. Es ist wirklich seltsam. Und sie machen etwas aus den einfachsten Dingen, zum Beispiel aus der Kleidung, die du trägst. Sogar in der Uni: Wenn du ein Buch liest, machen sie auch etwas daraus. Ich lese viel von Sylvia Plath, ich liebe sie wirklich. Also machen sie diese Witze darüber, dass ich mental instabil bin. Sie machen etwas aus allem, was sie bekommen. Man muss ihnen nur etwas zeigen, und sie machen etwas daraus.
P: Ja, und sie wären nicht weggegangen. Und man weiß nie, manchmal werden sie sogar gewalttätig. Die sagen dann: Für wen hältst du dich? Einmal habe ich das zu einem Typen gesagt und er ist mir drei Tage lang mit seinem Auto gefolgt. So ist das in Delhi. Vor allem in Nord- und Zentralindien ist es wirklich beängstigend.
K: Aber ist Delhi nicht in manchen Bereichen toleranter?
P: Weil es die Hauptstadt ist, gibt es in Delhi queere Räume wo man sein kann, wie man ist. Aber ansonsten ist es ziemlich dasselbe. Außerdem ist Delhi bekannt als die Vergewaltigungshauptstadt des Landes. Das ist sehr, sehr erschreckend. Aber wo soll man in Indien hingehen? Die einzigen Optionen sind Bombay oder Delhi. Es ist also so ziemlich das Gleiche. Aber die Community hier ist wahrscheinlich sehr stark. Es gibt viel Widerstand, viel Bewegung, viel Protest und viele Demonstrationen.
Weil es die Hauptstadt ist, gibt es in Delhi queere Räume.
P: Nicht gut. Wenn es sich um eine Pride Parade handelt, sind es viele Leute. Letztes Mal waren es ungefähr 2.000 Leute. Aber wenn es nur eine Protestaktion ist, die von Studierenden organisiert wird, dann sind es nicht so viele. Aber es ist sehr reglementiert und unterdrückt. Ich erinnere mich, dass ich letztes Jahr an einer Demonstration teilgenommen habe und die Polizei eine Frist gesetzt hatte, dass man nur bis 17 Uhr auf der Straße sein durfte. Es war eine Minute nach 17 Uhr und ich wollte gerade gehen. Da kam dieser Polizist auf mich zu und schlug mich und einen Freund echt mit einem Stock.
K: Sie sagten also, es sei irgendwie legal, was man tut, aber sie warten, bis man etwas falsch macht ...
P: Ja, aber es war eine Minute. Eine Minute. Sie haben sich gesagt, wir haben genug von dir. Ja, das ist im Grunde die jetzige Regierung.
K: Aber hat es in den letzten zehn, zwanzig Jahren auch positive Veränderungen gegeben?
P: Ja, es hat positive Veränderungen gegeben. Wir leben im Zeitalter der Globalisierung, nicht wahr? Das gibt uns Zugang zu vielen Informationen, wir können uns besser kleiden und mehr ausgehen. Aber was die Menschenrechte betrifft, wird es immer schlimmer. Da war die Sache mit der Babri-Masjid-Moschee (eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert in Uttar Pradesh, die 1992 von Hindu-Nationalisten zerstört wurde, weil sie mutmaßlich an einem Ort stand, an dem sich vor der muslimischen Herrschaft über Indien ein Rama-Tempel befunden hatte. In Folge dessen kamen 2.000 Menschen bei Mob-Riots ums Leben, die Großzahl von ihnen Muslime; gerade wurde auf dem Grund der Moschee ein Hindu-Tempel eingeweiht, google it, Anm. d. Red.). Ich weiß nicht, ob ihr davon gehört habt. Das war ein Fall von kommunaler Gewalt. Die jetzige Regierung hat vor kurzem ein Gesetz über den Lehrplan verabschiedet und nennt das, was im Grunde Völkermord und Aufruhr war, eine politische Bewegung. Auf diese Weise können sie, die Mehrheiten, davon profitieren. So bringen sie den Kindern bei, dass es etwas Gutes war. Aber das war es nicht. Viele Dinge sind im Gange und die Wahlen stehen vor der Tür. Wir hoffen, dass diese Regierung bald weg ist. Aber sie ist momentan sehr korrupt.
Was die Menschenrechte betrifft, wird es immer schlimmer.
P: Ja, auf jeden Fall. Auch wenn eine andere Partei wie der Congress (der Indian National Congress, eine von derzeit acht nationalen Parteien Indiens, die als verhältnismäßig sozialliberal und säkular gilt, sowie lange von Indira Gandhi geleitet wurde, Anm. d. Red.) an die Macht kommt, wird es so ziemlich dasselbe sein, aber zumindest wäre die Congress-Regierung, die Minister*innen und die Leute, gebildet – sie wüssten, was sie tun. Das ist eine gute Sache. Naendra Modi, unser Premierminister, hat keinen Hochschulabschluss. Und ich denke, eine gute Ausbildung ist wirklich wichtig, um ein Land zu führen. Es ist nicht falsch, wenn ich von meinem Premierminister erwarte, dass er gebildet ist. Zumindest die Congress-Mitglieder haben studiert und sie stellen Programme für Bildung, Studenten und so weiter auf. Es gab früher viele Stipendien, aber diese Regierung hat sie gestrichen. Und jetzt geben sie nur noch fünf Prozent von dem aus, was sie früher für Bildung ausgegeben haben. Klar, wenn die Leute gebildet sind, verlangen sie auch etwas. Und als Trump kam, haben sie Milliarden Dollar ausgegeben, um die Slums zu abzusichern, anstatt Geld auszugeben, um das Leben der Menschen, die dort festsitzen, zu verbessern. Stattdessen haben sie Mauern um die Slums gebaut. Und beim G20-Gipfel in diesem Jahr war es nicht anders: Auf globalen Plattformen sagen sie all diese großen Dinge, gehen ins Ausland und sagen, „oh mein Gott, Entwicklung!“ Aber tatsächlich passiert nichts.
Es ist nicht falsch, wenn ich von meinem Premierminister erwarte, dass er gebildet ist.
K: Wir haben viel darüber gesprochen, weil auch in Deutschland die rechten Parteien größer werden und immer mehr Menschen sie wählen. Und das ist in ganz Europa so. Und in den USA ... Manchmal scheint es, als wolle die ganze Welt die Zeit zurückdrehen. Vor allem in Ländern wie Deutschland, aber auch in Italien und Frankreich hat man das Gefühl, dass die Politik zwar viel erreicht hat. Aber jetzt – zum Beispiel in Italien – hat man gerade gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht genommen, beide Eltern ihrer Kinder zu sein. Nur einer ist jetzt der „offizielle” Elternteil.
P: Letztes Jahr gab es eine große Petition und einen Fall vor dem Obersten Gerichtshof zur gleichgeschlechtlichen Ehe in Indien. Das Gericht hat den Fall buchstäblich auf Eis gelegt und gesagt, dass es sich sechs Monate Zeit nehmen wird, um die Sache zu klären. Dann werde es eine Entscheidung treffen. Später hat das Gericht gesagt, es könne so ein Urteil nicht fällen. Deshalb werde es das Parlament bitten, zu entscheiden. Ihr seid das höchste Gericht! Warum fragt ihr das Parlament, wenn ihr genau wisst, dass es nichts tun wird? Und natürlich haben sie es nicht legalisiert.
K: Möchtest du uns etwas über deine Poesie erzählen? Wie du angefangen hast, wo sie herkommt?
P: Also ich bin im Prinzip als introvertierte Person aufgewachsen. Ich meine, als Kind war ich dick und deshalb hatte ich nie wirklich Freunde in der Schule, und ich hatte nie wirklich Freunde, als ich aufgewachsen bin. Ich saß immer zu Hause und las stundenlang nur Gedichte und Literatur. Und da ich Bengali bin, haben mich Tagore (Rabindranath Tagore, bengalischer Schriftsteller, der als erster Nichteuropäer den Nobelpreis für Literatur erhielt, Anm. d. Red.) und andere Leute beeinflusst. Ja, so habe ich angefangen: viel gelesen. Ich liebe Literatur. Und eines Tages dachte ich: Warum nicht schreiben? Damals war ich vier Jahre alt. Und dann schrieb ich etwas ziemlich Dummes über einen Basilikumbaum, eine Basilikumpflanze. Wir hatten eine Pflanze und ich habe das Basilikum gegossen, ich gieße das Basilikum, wenn du nur kämst, so in der Art. Es war in Reimen.
Ich liebe Literatur.
K: Hast du noch alle deine Gedichte aus der Zeit, als du angefangen hast zu schreiben? Ich würde gerne das Gedicht über den Basilikumbaum lesen.
P: Nicht wirklich. Es ist etwas ganz Seltsames passiert. Am Anfang habe ich auf Bengali geschrieben, weil ich auf eine bengalische Middle School gegangen bin. Ich habe in der Schule nicht wirklich Englisch gelernt. Ich habe auf Bengali geschrieben und meine Mutter hat eines Tages meine Gedichte gefunden. Als ich in der Schule war, hat sie mein ganzes Tagebuch verbrannt und alle meine Gedichte vernichtet. Als ich zurückkam, fragte ich sie: „Warum hast du das gelesen?“ Sie sagte: „Ich habe es für dich getan, es war zu düster.“ Ich sagte: „Ja, du solltest so was nicht lesen.“ Ich war 13 und dachte dann: „Ich muss eine neue Sprache lernen, damit sie es nicht versteht.“ Und dann habe ich angefangen, mein Handy mit Aufklebern und bunten Farben zu bekleben und auf Englisch zu schreiben.
Meine Mutter hat eines Tages meine Gedichte gefunden.
P: Also, Nisar Gandhi, ein Fotograf, er ist wirklich sehr gut, hat eine Kampagne für Shreya gemacht. Ich stand zum ersten Mal vor der Kamera und er versuchte drei Stunden lang, mich zu fotografieren. Und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand einfach nur da. Und jetzt modle ich seit fast vier Jahren. Es ging ziemlich schnell mit so vielen verschiedenen Dingen. Früher war ich gegen Mode. Ich habe das gehasst. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal schön anziehen würde. Ich dachte: Warum musst du dich überhaupt stylen? Warum kannst du nicht einfach ein T-Shirt und einen Schlafanzug anziehen und ausgehen? Jetzt bekomme ich alles mit, was auf den Laufstegen passiert und so. Manchmal kommt es mir vor, als wären keine vier Jahre vergangen. Es hat sich so viel verändert. Von nichts zu Poesie zu Mode. Und jetzt werde ich einen Vertrag für einen Film bekommen, einen Spielfilm. Das wird mein Schauspieldebüt! Mein Genre wechselt also wieder. Aber Poesie und Schreiben, das werde ich immer machen.
P:Ja, die Sache ist die, dass ich mich in meiner Schule geoutet habe. Ich habe mich vor einem Mitschüler geoutet. Und er hat mich vor allen mit meiner Sexualität geoutet, da war ich 16.
K: Wie verletzend.
P: Und dann gab es viel Mobbing und so einen Scheiß, und ich dachte, ich kann hier nicht bleiben. Ich wollte auch nicht, dass meine Eltern das mitbekommen. Also dachte ich, ich sollte einfach irgendwo hingehen. Also bin ich mit 17 nach Delhi gegangen. Ich habe hier angefangen zu arbeiten und bekam zu Hause Unterricht. Ich zog einfach von einem Ort zum anderen. Ich habe eineinhalb Jahre mit all diesen Dingen gekämpft. Aber als ich nach Delhi kam, begann ich öffentlich zu performen. Eines Tages interviewte mich eine der führenden indischen Zeitungen, der New Indian Express, und es wurde veröffentlicht. Ich dachte, meine Eltern lesen keine englischen Zeitungen, also würden sie es nicht erfahren. Die Zeitung veröffentlichte es und stellte auch einen Artikel auf ihre Website. Irgendwie landete es auf der Facebook-Seite meines Onkels und wurde dann an die WhatsApp-Gruppe geschickt. Ich war also froh, dass ich in Delhi war. Und jetzt ist es irgendwie komisch, weil meine Eltern das nicht so gut aufnehmen. Mein Vater blockt das Thema ab, er redet nicht wirklich darüber. Er tut nur so, aber er spricht es nicht wirklich an. Er tut einfach so, als wüsste er nichts davon und als wäre alles in Ordnung. Und meine Mutter sagt: „Sei, wie du bist, aber geh mit niemandem aus. Zeig es nicht herum. Ich habe kein Problem damit, dass du queer bist, aber sei für dich selbst queer.“
A: Warum sind Mütter immer ein bisschen besser? Jedes Mal, wenn ich diese Geschichten höre, habe ich das Gefühl, dass Mütter oft zumindest versuchen, irgendwie zu verstehen, was los ist.
P: Sie ist schließlich eine Frau. Es gibt so ein Gefühl der Solidarität. Auch wenn sie manchmal schrecklich war, ich verstehe, warum sie so war. Weil sie mit 16 geheiratet hat. Sie konnte die Schule nicht beenden. Sie wollte Anwältin werden, konnte es aber nicht. Mit 17 ist sie Mutter geworden. Sie hat viel durchgemacht. Jetzt finde ich, dass sie zwar manchmal streng ist oder so, aber ich habe neulich auf Instagram ein Zitat gelesen, das ungefähr so ging: „Als Tochter bin ich sehr wütend auf meine Mutter, aber als Frau empfinde ich nur Liebe für sie.“ Ich bin ihr nicht wirklich böse. Wenn man Leiden in irgendeiner Form verstehen kann, hat man mehr Verständnis für andere.