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 © Jens Harder (detail)

Jens Wiesner über „Cités - Lima“
Das Schöne im Flüchtigen

Fünf Stunden lief Jens Harder durch Lima, ohne Plan, ohne Ziel. Herausgekommen sind flüchtige Beobachtungen am Rande, die zeigen: Es müssen nicht immer lange Recherchen sein.

Manchmal ist es zum Mäusemelken! Da besucht man zum ersten Mal einen fremden Ort, da besteht die Chance, eine neue Kultur, ihre Menschen und ihre Bräuche zu erkunden – und dann fesselt einen eben jene Arbeit, die einen erst an diesen Ort gebracht hat, die ganze Zeit an Konferenzräume und Hotelzimmer.

Comic-Kurzgeschichten über indigene Mythen und Sagen

So passierte es 2009 auch Jens Harder, als er auf Initiative des Goethe-Instituts zum ersten Mal in Südamerika unterwegs war. Ein Workshop zur Erstellung von Comic-Kurzgeschichten über indigene Mythen und Sagen hatte den Zeichner in die peruanische Hauptstadt Lima geführt. Doch aus der Hoffnung, zwischendurch selbst auf intensive Erkundungstour gehen zu können, wurde nichts.

Vielleicht hatte Harder so etwas bereits geahnt, als er mit dem Flugzeug von Brasilien aus kommend in Lima landete. „Ich wollte meinen einzigen freien Tag nutzen und bin direkt vom Hotel aus losgelaufen, ohne Plan und Ziel“, erinnert er sich.

Vier Schlaglichter auf Lima

Der Spaziergang führte Harder durch die gesamte Stadt, von den wohlhabenden Küstenbezirken bis zu den Ausläufern der Slums am im Landesinnern gelegenen Rimac-Fluss. In vier Zeichnungen, die in seinem Comicband „Cities – empty places, crowded streets“, abgedruckt sind, und die auf Fotos basieren, die unterwegs entstanden, gehen wir diesen Weg mit ihm.

Die Reduktion auf vier Impressionen, vier Schlaglichter, lässt beim Betrachtenden zunächst ein wenig Enttäuschung aufflackern – gerade, weil die anderen im Buch behandelten Städte deutlich mehr Raum und Zeichnungen erhalten haben: Wie, das war es schon? Dabei wurde unsere Neugierde doch gerade erst geweckt! Doch aus der Not heraus wandelt sich der flüchtige Blick, intensiviert sich, fokussiert. Und der Mangel gerät zum Vorteil und aktiviert unsere Fantasie.

Die Geschichten hinter den Zeichnungen

Das junge Pärchen im Hintergrund der ersten Straßenszene: Worüber mögen sich die beiden wohl unterhalten? Wohin schleppt der Möbeltransporteur seine Waren? Hat er sie bereits verkauft, oder läuft er täglich durch die Straßen, in der Hoffnung, dass er einen Abnehmer findet? Wie leben die Menschen in den mit wenigen Strichen nur angedeuteten Armensiedlungen, die sich in den Berg am Rimac-Ufer hineinfressen? Haben sie Glasfenster oder nur Öffnungen, durch die der Wind pfeift? Wer hat sie gebaut, aus welchem Material bestehen sie?

In unserem Kopf reisen wir weiter, in die Vergangenheit der Stadt, als in den Tempelanlagen noch Tiere und Menschen geopfert und Stammeshäuptlinge begraben wurden. Die lebensgroßen Statuen, die Harder skizziert hat, geben unserer Fantasie Zunder: War die Stadt auch damals – zwischen 200 und 700 v. Chr. – schon so häufig in dichte Nebelschwaden getaucht wie heute? Welche Fähigkeiten und Talente brauchte es, um zu einem Priestergehilfen zu werden? Wie bewältigte der Rest der Bevölkerung ihren Alltag?

Freilich, all diese Fragen könnte ein Blick in Wikipedia oder eine tiefergehende Recherche in der nächsten Bibliothek sicher befriedigen. Aber warum nicht einmal im Ungewissen bleiben und es bei der eigenen Fantasie belassen? Harders vier Zeichnungen können der Startpunkt werden für so viele Bilder mehr. Bilder, die nur in unseren Köpfen entstehen.
 

Cités: Lieux vides, rues passantes (Französisch) – 28. August 2019. Verlag: ACTES SUD. Ab 23 EUR.

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