Lernende können durch visuelle und motorische Immersion in eine computergenerierte Umgebung – eine Virtuelle Realität – eintauchen und dort in der Fremdsprache kommunizieren. Die Erfahrung in der digitalen Welt bleibt jedoch stark subjektiv. Daher muss sie den Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer entsprechen und didaktisch fundiert sein.
Die schon gegen Ende der 1980er-Jahre entwickelte Technologie der Virtuellen Realität wird gern mit technischem Fortschritt, sogar mit Science‑Fiction assoziiert. In den letzten Jahren haben sich tragbare Geräte mit immersiven 3D-Bildern und Bewegungserkennung durchgesetzt. In der Werbung werden diese als Höhepunkt des multimedialen Erlebnisses präsentiert. Ein erfolgreiches virtuelles Erlebnis hängt jedoch eher von Nutzerinnen und Nutzern und deren Bereitschaft ab, sich auf das Spiel in der Virtuellen Realität einzulassen.
Außerhalb der physischen Realität
Ziel der Virtuellen Realität ist es, dass Nutzerinnen und Nutzer in der digitalen Umgebung sensomotorisch und kognitiv aktiv werden. Sie verabschieden sich aus der physischen Realität, um virtuell in einen anderen Raum und/oder eine andere Zeit einzutauchen (Fuchs et al. 2006: 7). Im Oxymoron
Virtuelle Realität steht
virtuell nicht für
nicht real, sondern für
digital, denn die programmierte Umgebung besteht ganz aus digitalen Objekten.
Interaktion und Immersion
Die Virtuelle Realität basiert auf einem Informationsaustausch: Mit Tastatur, Maus oder Trackingsystem greifen die Nutzerinnen und Nutzer in die digitale Umgebung ein. Je nachdem welche VR-Vorrichtung (unter anderem Controller, Trackingsystem, Spracherkennung) genutzt wird, werden die Position, die Bewegung und das Sprechen der Nutzerin oder des Nutzers erfasst und dem Computer übermittelt. Der Computer passt die Umgebung entsprechend der Aktionen der Nutzerin oder des Nutzers an. Die angepasste Umgebung wird durch einen Bildschirm, eine 3D-Brille oder ein
Head-Mounted Display an die Nutzerinnen und Nutzer übermittelt. Je nachdem welche Geräte eingesetzt werden, sind die motorische Interaktion und die sensorische Immersion unterschiedlich stark.
Subjektive Erfahrung
Durch das sinnliche und motorische Eintauchen sollen sich die Nutzerinnen und Nutzer fühlen, als wenn sie in der Situation präsent wären. Dadurch lassen sie sich auf die Situation ein und nehmen die digitale Umgebung als Referenz für ihre sensomotorische Handlung wahr (Reeves in Steuer 1992: 6). Wie die Nutzerinnen und Nutzer die programmierten Stimuli empfangen und verarbeiten, hängt von ihnen ab und ist von Simulation zu Simulation unterschiedlich (Slater 2003).
Online- oder Offline-Ausstattung
Eine
Virtuelle Welt ist eine Online-Umgebung, die sich auch mit einem klassischen Desktop-Rechner erleben lässt. Jedoch bietet sie nur ein oberflächliches Eintauchen in die digitale Umgebung. Durch das Internet können mehrere Nutzerinnen und Nutzer dieselbe Welt betreten, die Umgebung beeinflussen und miteinander verbal oder nonverbal durch Avatare kommunizieren. Virtuelle Welten können sehr gut für Schüleraustausche genutzt werden (siehe das Projekt
„Eine andere Welt“).
Andere VR-Vorrichtungen funktionieren offline und können nur von einer einzigen Person betreten werden. Sie haben den Vorteil, dass die Nutzerin oder der Nutzer stärker sensorisch und körperlich eingebunden ist.
Ein Klassenzimmer kann sehr flexibel für das Lernen in der Virtuellen Realität genutzt werden: Schon über einen Desktop-Rechner mit Internetanschluss können Schülerinnen und Schüler virtuelle Welten betreten. Einige berufsbildenden Schulen haben das Know-how der Lernenden genutzt, um eine immersive Plattform selbst zu erbauen. Der Erwerb der entsprechenden Geräte stellt dabei nur ein kleines Hindernis für den Einsatz der Virtuellen Realität im Unterricht dar, nicht zuletzt wegen der immer billigeren Head-Mounted Displays. Viel schwieriger ist es, didaktisch relevante Lernumgebungen zu finden oder gar selbst zu entwickeln. Virtuelle Welten wie
Second Life eignen sich gut für die Nutzung. Mit Tools wie
Eon-Creator können Interessierte auch eigene Welten entwickeln.
Kontextualisierung der Lernsituation
Für das europäische Projekt
EVEIL-3D wurde eine Offline-Umgebung entwickelt: Das Seriousgame „Architekt 2015“ spielt im virtuellen Straßburger Münster. Ergebnisse einer Studie im Rahmen dieses Projekts (Roy 2017), in welcher der Einsatz virtueller Realitäten mit etwa hundert Lernenden französischer Lycées und einer deutschen Realschule erprobt wurde, zeigen, dass die sensomotorische Einbindung des Lernenden in die virtuelle Umgebung das Erleben der Lernsituation beeinflusst. Die Kommunikation mit der virtuellen Figur führt zur tatsächlichen Sprachproduktion und zum Einsatz von Sprachgebrauchsstrategien in der Zielsprache. Außerdem wurde eine Korrelation zwischen der Präsenz in der Virtuellen Realität und dem Hörverständnis in der Zielsprache nachgewiesen (Roy 2016).
Das Wohlfühlen in der Realität hat Einfluss auf den Fremdsprachengebrauch in der Virtuellen Realität.
| Foto (Ausschnitt): © Projekt EVEIL-3D – Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Realer Sprachgebrauch in der Virtuellen Realität
Eine Aufgabe in der virtuellen Umgebung kann von Lernenden unterschiedlich wahrgenommen werden. Durch Interviews wurden in der Studie verschiedene Präsenzprofile beziehungsweise Typen von Lernenden identifiziert. Anschließend wurde untersucht, welchen Einfluss diese Typen auf den Fremdsprachgebrauch während der Simulation hatten (Roy 2017: 265).
Die
„sozialen Lernenden“ erleben eine Begegnung in der Virtuellen Realität: Sie begegnen einer anderen Sprache und einer handelnden Figur. Diese Lernenden interagieren häufig mit der virtuellen Figur.
Die
„reisenden Lernenden“ erleben eine lokalisierte Erfahrung, interpretieren die Charakteristika des Ortes und sind von der Immersion beeindruckt. Sie neigen zu geringer Interaktion mit der virtuellen Figur.
Die
„handelnden Lernenden“ handeln gründlich und sind körperlich eingebunden. Für sie ist die nonverbale Interaktion in der virtuellen Umgebung genauso wichtig, wie die Kommunikation mit der Figur.
Die
„verharrenden Lernenden“ haben Probleme, die Umgebung wahrzunehmen. Sie sehen nicht in 3D oder haben nicht das Gefühl, den Raum der Schule zu verlassen.
Die
„machtlosen Lernenden“ versuchen zu handeln, scheitern jedoch aus unterschiedlichen Gründen.
Die beiden letzten Typen umgehen die Interaktion mit der virtuellen Figur vollständig. Sie nutzen die Mängel der digitalen Umgebung oder die Künstlichkeit der Kommunikation mit der virtuellen Figur, um in der Simulation weiterzukommen.
Am deutlichsten zeigt sich bei den sozialen Lernenden, dass der Sprachgebrauch in der Zielsprache durch die kontextualisierte Nutzung der Virtuellen Realität gefördert wird. Wie die Virtuelle Realität Lernende und ihren Sprachgebrauch in der Lernsituation beeinflusst, ist jedoch sehr schwierig vorauszusehen, weil sich Sprachgebrauch, Interaktivität und Körpereinsatz gegenseitig beeinflussen.
Bedeutung der Lehrkraft
Das Eintauchen und das Interagieren in der Virtuellen Realität erfordert eine passende Begleitung durch die Lehrkraft für Lernende, die nicht allein in der virtuellen Umgebung zurechtkommen. Dabei ist darauf zu achten, dass man als Lehrperson nicht in die Virtuelle Realität eindringt. Im Projekt kam es vor, dass die Lehrkraft als Begleitung die Sprachproduktion bewertete oder half, ohne vom Lernenden gebeten worden zu sein. In manchen Fällen spielte die Lehrperson anstatt der virtuellen Figur oder sie handelte sogar anstelle des Lernenden!
Eine effiziente Unterstützung leistet die Lehrkraft, wenn sie weniger autonome Lernenden dazu bringt, Sprachgebrauchsstrategien zu nutzen, wenn sie Mängel der virtuellen Figur kompensiert oder wenn sie bei der Bedienung der Geräte hilft. Letztendlich kann der Lehrende durch Ermunterungen und einen persönlichen Kontakt die Erfahrung der Lernenden in der Virtuellen Realität bereichern (Roy 2017: 339). Dafür braucht die Lehrperson keine multimediale Kompetenz. Sie muss aber in der Lage sein, eine eher begleitende Rolle zu übernehmen.
Generell helfen immersive Geräte (unter anderem 3D-Bildschirm, Head-Mounted Display, Trackingsystem) dem Lernenden, in die Virtuelle Realität einzutauchen. Sie garantieren jedoch keine subjektive Immersion. Durch eine didaktisch relevante Lernumgebung und eine passende Begleitung kann die Virtuelle Realität zur Kontextualisierung der Lernsituation beitragen und dadurch den Sprachgebrauch in der Fremdsprache fördern.
Literatur
Fuchs, Philippe/Moreau, Guillaume/Berthoz, Alain/Vercher, Jean-Louis/Aubert, François d’ (2006) : Le traité de la réalité virtuelle. Volume 1. L’homme et l’environnement virtuel. Paris: École des Mines de Paris.
Roy, Mickaël/Schlemminger, Gérald (2014) : Immersion und Interaktion in Virtuellen Realitäten: der Faktor Präsenz zur Optimierung des geleiteten Sprachenlernens. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht, 19. Jg., H. 2, S. 187-201.
Roy Mickaël (2017) : La réalité virtuelle pour l’apprentissage des langues. Une étude auprès d’adolescents apprenant le français ou l’allemand. Bern : Peter Lang.
Slater, Mel (2003): A note on presence terminology. In: Presence Connect, 3. Jg., H. 3.
Steuer, Jonathan (1992): Defining Virtual Reality. Dimensions Determining. In: Telepresence. Journal of Communication, 42. Jg., H. 4, S. 73–93.