Die Erinnerung an die Worte: Ukrainerinnen schreiben gegen den Krieg an
Als viele Frauen und Kinder bereits in den ersten Tagen nach dem russischen Einmarsch aus der Ukraine flohen, entschieden sich die Schriftstellerinnen Viktorija Amelina und Chrystyna Nazarkewytsch im Lwiw/Lemberg zu bleiben, um das Erlebte in Gedichten oder Essays zu verarbeiten.
Schon seit der Eskalation in der Donbass-Region im Jahr 2014 veröffentlichen viele ukrainische Autoren literarische Werke als Gedichte, Essays oder Tagebücher, die die Verzweigungen eines festgefahrenen Konflikts ohne absehbares Ende schilderten. Seit dem Tag der Invasion am 24. Februar 2022 erlebt die ukrainische Literatur eine Hochphase. In einer aktuellen Meinungsfülle dienen die in einer überfallenen Ukraine entstandenen Werke als verkörperte Visionen des Geschehens, die über Jahrzehnte hinweg weiterleben werden. Die gestiegene Zahl an Übersetzungen aus dem Ukrainischen fördert die internationale Rezeption. „Bitte schreiben, wer kann!“ ermutigt Viktorija Amelina ihre ukrainischen Schreibkollegen in einem sozialen Netzwerk.
An dem Tag der Invasion, 24. Februar 2022, war die 1986 geborene Schriftstellerin Viktorija Amelina im Flughafen von Marsa Alam, Ägypten, wo sie das Flugzeug nach Lemberg besteigen sollte. Nachdem sie von den ägyptischen Flughafenbehörden erfuhr, dass sie nicht mehr nach Hause konnte, folgten zwei Tage des Versuchs, in ihre Heimat zurückzukehren. Nach einem Zwischenstopp in Krakau, wo sie ihren Sohn zurückließ, war sie endlich in der Ukraine angekommen.
Viktorija Amelinas Arbeiten reflektieren Sequenzen aus ihrem Freiwilligendienst in Städten wie Lemberg, Kiew, Hostomel oder Irpin. Die widerhallenden Innenräume der Lagerhäuser, die Verteilung von Kampfhelmen und medizinischen Hilfsgütern an die Armeeeinheiten oder das Fahren von Betroffenen aus dem überfallenen Osten spiegeln sich in ihren spontan geschriebenen Versen wieder. „Fliegeralarm im ganzen Land/Fühlt sich an, als würden sie alle herausholen“ - so beginnt ihr kürzlich erschienenes Gedicht „Sirenen“. „Aber sie zielen nur auf eine Person/Normalerweise am Rand/Diesmal nicht auf dich...“. „Die Gefahr in Lemberg ist immer da“, sagt Viktorija, aber Angst hat sie nicht.
Als Schriftstellerin und Feministin hatte sie in Friedenszeiten viele Anliegen zu unterstützen, wie den Kampf gegen die globale Erderwärmung oder Schriftstellerinnen in Europa. „Jetzt bin ich Bürgerin eines Staates, der angegriffen wird“, meint sie.
Vor der Invasion war Viktorija hauptsächlich Romanschriftstellerin und Essayistin. Jetzt schreibt sie mehr Gedichte, denn „das ist es, was der Krieg hinterlässt“. „Die Sätze sind so kurz wie möglich, die Interpunktion ein überflüssiger Luxus, die Handlung ist unklar, aber jedes Wort hat so viel Bedeutung. All dies gilt sowohl für die Poesie als auch für den Krieg“. Amelinas Muttersprache ist Russisch, aber alle ihre Werke wurden auf Ukrainisch veröffentlicht.
Man kann kein Gedicht über medizinische Versorgung oder eine Drohne schreiben. Allerdings hat sie unter anderem auch ein Gedicht über Flüchtlinge geschrieben, denen sie als Freiwillige begegnete - es heißt „Eine Comeback-Geschichte“. In diesem Gedicht erzählt Viktorija über ein Mädchen Wira, das von zu Hause entflohen ist und nichts mitgenommen hat außer der Erinnerung an ihr Haus und die Hoffnung, irgendwann dorthin zurückzukehren. „Dein Haus hinter deinem Rücken/wird kleiner/um sich selbst zu retten“. Das Haus verwandelt sich in einen Aprikosenkern aus dem letzten Jahr, eine Muschel von der Krim, einen Sonnenblumenkern oder einen Knopf von der Uniform ihres Vaters. „Und dann passt das Haus in deine Tasche/ … /Du sollst es herausziehen/wenn es dort ist/an einem sicheren Ort/Nach und nach wird das Haus größer werden“.
Viktorija lenkte die Aufmerksamkeit immer auf die Erinnerung an die ukrainische Geschichte, wie in ihrem Roman „Ein Haus für Dom“ von 2017, in dem die sowjetische Vergangenheit ihrer Heimatstadt Lemberg thematisiert wird. Zentrales Symbol des Buches ist die Wohnung des Schriftstellers jüdischer Herkunft Stanislaw Lem, wo ein alter sowjetischer Militärpilot wohnte, der sich weigerte, über seine Kindheitserinnerungen zu sprechen, darunter den Holodomor – die völkermörderische Hungersnot von 1933 – und die Nazibesatzung. Sie ist unter anderem für ihren Debütroman von 2014 „Herbst-Syndrom oder Homo compatiens“ bekannt, das von mehreren gesellschaftlichen Umbrüchen des 21. Jahrhunderts handelt, insbesondere dem auf dem Tahrir-Platz in Kairo 2011 und dem Euromaidan 2013/14.
Die Schriftstellerin ist der Meinung, dass die russische Aggression von 2022 Menschen weltweit dazu gebracht hat, solidarischer zu werden. „Aber irgendwann wird jeder müde, man kann sich an die Kriegsverbrechen mitten in Europa gewöhnen. Warum haben wir dann all diese Nachkriegserinnerungen und -romane gelesen? Dies wirkt sich darauf aus, wie wir alle in Europa leben und was es bedeutet, Europäer zu sein. Wenn wir nichts tun, um Kriegsverbrechen zu stoppen, wer sind wir dann?“
„Tarnnetze sind Kunstwerke der Kriegszeit“
„Die Materialität des Stoffes, den ich in gleichmäßige Streifen schneide, lässt mich daran denken, dass der Krieg real ist“, heißt es für Chrystyna Nazarkewytsch in ihrem Essay „Ich flechte Tarnnetze im Pulverturm von Lwiw“, erstmals erschienen in der 71. Ausgabe der Zeitschrift für literarische Übersetzungen aus Rumänien (Revista de traduceri literare). Sie schneidet Berge von Kleidern, Bettzeug und Stoffballen. Stoffreste werden dann von jungen Studentinnen der Kunstakademie Lemberg zu großen Tarnnetzen gewebt. Die Stadtbevölkerung wird ermutigt, mitzumachen und Stoffe in braunen und grünen Schattierungen an dem mitteralterlicher Pulverturm im Na-Valakh-Platz zu bringen. Chrystyna Nazarkewytsch ist Essayistin, Dozentin am Institut für Deutsche Philologie der Nationalen Ivan-Franko-Universität in Lemberg und Übersetzerin ukrainischer Literatur ins Deutsche und umgekehrt. Sie blieb in der Ukraine, um sich ehrenamtlich zu engagieren.
„Tarnnetze sind Kunstwerke der Kriegszeit“, meint Nazarkewytsch. Zusammen mit ihr arbeiten mehrere Menschen, die meisten von ihnen Frauen, von denen viele aus Gebieten kommen, in denen schwere Kämpfe stattfinden. Die 57-jährige Nazarkewytsch erinnert sich immer an einen Slogan von der Zeit der Revolution der Würde 2014 „Du bist ein Tropfen im Ozean“. „Das bedeutet nicht, dass ich nichts bedeute. Im Gegenteil: das heißt, dass wir gemeinsam eine mächtige Kraft sind“.
„Niemand glaubt so richtig daran, dass die Westukraine in Ruhe gelassen wird“, sagt die Essaystin. Sie wohnt bei einer Lemberger Militärkirche, und sie beschreibt, dass es in den letzten Wochen dort immer wieder Totenmessen für die gefallenen Soldaten und Offiziere gibt. „Man hört Militärkapelle und Kirchenglocken und man kocht vor Ohnmächtigkeit, der Unmöglichkeit, mutige Menschen zu retten“. Aber diese Ereignisse, die ein so komplexes Realitätsbild schaffen, dienen Nazarkewytsch als Inspirationsquelle.
Ukrainische Sprache – wohin?
„Wenn heute ukrainische Poesie in andere Sprachen übersetzt wird, bedeutet dies, dass die Welt uns zuhört, nicht nur den Nachrichten über uns“, meint Viktorija Amelina. In den letzten 30 Jahren ging es darum, die nationale Identität zurückzubringen, deshalb begann sie, Ukrainisch zu sprechen. „Meine Großväter und Großmütter wurden 1933 als Kinder von Hunger gequält – im Wesentlichen auch, weil sie ukrainische Bauern waren, Ukrainisch sprachen und bereit waren, frei zu sein. In den 1930er Jahren hatten wir eine ganze Generation talentierter Schriftsteller, die vom sowjetisch-russischen Regime hingerichtet wurden - die hingerichtete Renaissance“. Ob es noch eine hingerichtete Renaissance geben wird, ist eine Frage, die Viktorija Amelina ständig beschäftigt. Dazu schrieb sie den Essay „Cancel culture vs. execute culture“. „Ich habe verstanden, dass meine Sprache durch Gewalt zerstört wurde“, gesteht sie. Sie glaubt, dass die Invasion den Übergang zu einem bewussteren Gebrauch der ukrainischen Sprache im schriftlichen und mündlichen Ausdruck beschleunigt.
„Dass die ukrainische Kultur jetzt plötzlich Aufmerksamkeit genießt, ist eine Art schlechtes Gewissen des Westens, der diese Kultur jahrzehntelang ignoriert hatte“, denkt Chrystyna Nazarkewytsch. „Seit 20 Jahren schon, wenn eine deutsche Übersetzung eines ukrainischen Textes veröffentlicht wurde, begleitete man die Publikation mit fast identisch ausgedrückter Verwunderung über ein großes Land in Osteuropa oder ein ehemaliges kaiserlich-königliches Kronland, von dem man eigentlich nichts wusste.“
Quelle: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien