Netzwerk ELINET
Großoffensive gegen die Leseschwäche
Für jeden fünften Europäer ist die Welt schwer zu entziffern. Das European Literacy Policy Network (ELINET) soll nun Standards und Modelle für erfolgreiche Lese- und Schreibförderung in allen Altersgruppen entwickeln.
Ein 2012 erschienener Report über die Schriftsprachkompetenz in den europäischen Ländern enthielt einen Weckruf. Veröffentlicht wurde der Report von den Mitgliedern einer „Gruppe hochrangiger Sachverständiger für Schriftsprachkompetenz“, die von der Europäischen Kommission 2011 eingesetzt worden war. „Nationalen und internationalen Untersuchungen zufolge“, so das Sachverständigen-Gremium unter Vorsitz von Laurentien Brinkhorst, Prinzessin der Niederlande, „verfügt etwa ein Fünftel der Erwachsenen und ein Fünftel der 15-Jährigen nicht über die erforderlichen Lesefähigkeiten, um die Anforderungen des modernen Alltags- und Arbeitslebens zu bewältigen“. Dabei verlange das digitale Zeitalter immer höhere Lese- und Schreibkompetenzen. Den Betroffenen drohe ein Verlust an sozialer, kultureller und ökonomischer Teilhabe.
Abgehängt – auch in Deutschland
Als Reaktion auf diesen alarmierenden Befund hat die Europäische Kommission ein aus 80 Organisationen in 28 Ländern bestehendes Netzwerk für Alphabetisierungspolitik eingerichtet. Im Februar 2014 hat dieses Netzwerk unter dem Namen ELINET im Rahmen einer großen Auftakt-Konferenz in Wien seine Arbeit aufgenommen.„Alle Bürger müssen die Basiskompetenzen erwerben können, die man in einer literalen Gesellschaft braucht“, betont Christine Garbe, Professorin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Köln. Sie koordiniert ELINET. Aus Deutschland sind unter anderem die Stiftung Lesen, die „Literacy Campaign“ der Frankfurter Buchmesse, die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben und der Bundesverband Leseförderung beteiligt. ELINET ist für zwei Jahre mit einem Budget von vier Millionen Euro ausgestattet.„Die Risikogruppen, die bei der Schriftsprachkompetenz unter dem Minimalstandard bleiben, stammen überdurchschnittlich oft aus bildungsfernen Familien mit niedrigem Einkommen“, so Garbe. Häufig treffe man in dieser Gesellschaftsschicht auch auf Familien mit Migrationshintergrund. Zudem seien weit mehr Jungen als Mädchen betroffen. Doch nicht nur zahlreiche Heranwachsende haben Nachholbedarf beim Schriftspracherwerb – selbst in einer reichen Bildungsnation wie Deutschland. Laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2013 liest in Deutschland jeder sechste Erwachsene auf dem Niveau eines zehnjährigen Kindes.
Beispiele guter Praxis finden
ELINET zielt nicht darauf, weitere Statistiken zu erheben. „Vielmehr wollen wir die Daten, die europaweit verstreut in vielen Einzelstudien vorliegen, in kurzen und prägnanten Länderberichten bündeln“, erklärt Garbe. Dabei läge das Augenmerk auf der Frage: „Was geschieht in den jeweiligen Ländern, um die Problemlage anzugehen?“Das Netzwerk soll Modelle für erfolgversprechende Lese- und Schreibförderung in allen Altersgruppen bündeln und empfehlen. Damit dies geschehen kann, müssen aber zunächst gemeinsame Kriterien entwickelt werden, „was wir als Beispiele guter Praxis definieren. Das ist die größte Baustelle“, so die Koordinatorin. Dazu trägt ein Projektteam unter der Federführung der britischen Organisation Booktrust erfolgversprechende Modelle im Bereich des Fundraisings zusammen. Ein weiteres Team unter der Federführung der Niederländischen Stiftung Lesen und Schreiben in Den Haag sammelt Beispiele guter Praxis für die Bewusstseinsbildung: „Wie können wir Kampagnen organisieren oder Stakeholder mit Interesse an Literacy-Politik effektiv ansprechen?“, laute die Leitfrage.Eine zentrale Aufgabe von ELINET sei es schließlich, so Garbe, eine gemeinsame europäische Internet-Plattform zu schaffen. Dort sollen Arbeitsergebnisse gebündelt werden und Partner ihre nationalen Projekte präsentieren können.Förderung beginnt in der Familie
Der Literacy-Report von 2012 empfiehlt als Maßnahmen gegen die Lese- und Schreibschwäche die Schaffung einer schriftreichen Umgebung, außerdem die Intensivierung der Leseförderung im Unterricht sowie die Stärkung von Teilhabe und Integration in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die ELINET-Beteiligten können hier auf Vorerfahrungen zurückgreifen. So hat Christine Garbe beispielsweise erfolgreich das Programm „Teaching Struggling Adolescent Readers“ koordiniert, dessen Partner aus Rumänien und Ungarn, Estland, Finnland oder der Schweiz nun auch dem Netzwerk angehören. „Dafür haben wir uns 30 Schulen in elf Ländern angeschaut, die gute Programme in der Sekundarstufe anboten, um schwache Leser zu fördern.“ Wobei die Leseexpertin überzeugt ist, dass die Förderung bereits im Elternhaus ansetzen müsse: „Der erfolgreiche Erwerb von Schriftsprachkompetenzen beginnt in der Familie.“So arbeitet in Deutschland die Stiftung Lesen im Rahmen des Projekts „Lesestart“ mit Kinderärzten zusammen, die bei Pflichtuntersuchungen für Kleinkinder Eltern gezielt ansprechen und mit Bilderbüchern und Ratgebern zur frühkindlichen Sprach- und Leseförderung versorgen.