Frank Bösch
Das Jahr, in dem unsere Gegenwart begann
Was haben globale Flüchtlingsbewegungen, islamischer Fundamentalismus, marktliberale Reformen und Energieprobleme gemeinsam? Diese und andere Phänomene lassen sich auf das Jahr 1979 zurückführen, wie Frank Bösch, Historiker, überzeugend darlegt.
Von Holger Moos
Üblicherweise gelten 1945 oder 1989 als Jahre, die eine Zeitenwende einleiteten. Dem Jahr 1979 wird bisher eine solche Schlüsselfunktion eher nicht zugeschrieben. Frank Bösch will das ändern. In seinem Werk
Zeitenwende 1979 zeigt der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam anhand von zehn epochalen Ereignissen, wie in diesem Jahr „die Welt von heute begann“ und eine neue Weltordnung entstand.
Mit der Iranischen Revolution verschaffte sich der politische Islam Raum auf der Bühne der Weltpolitik. Khomeini, politischer und religiöser Führer während der Revolution, wurde zu einer ikonischen Figur der Zeitgeschichte. Der französische Philosoph Michel Foucault bezeichnete das 1979 von Khomeini ausgelöste politische Erdbeben als „vielleicht die erste große Erhebung gegen die weltumspannenden Systeme, die modernste und irrsinnigste Form der Revolte“. Eines dieser global wirksamen Systeme, der Neoliberalismus, wurde ebenfalls 1979 mit der Wahl von Margaret Thatcher zur Premierministerin von Großbritannien aus der Taufe gehoben.
Aus Widerstandskämpfern werden Terroristen
Ein weiterer ökonomischer Kurswechsel brachten in China die von Deng Xiaping veranlassten Reformen. Er begann 1979 damit,das sozialistische China für den Westen bzw. den Weltmarkt zu öffnen. Dem Sozialismus erwuchs in dem neuen Papst Johannes Paul II. eine anders geartetete Herausforderung. Die Polenreise des Oberhauptes der katholischen Kirche befeuerte die Protestbewegungen nicht nur in Polen, sondern in vielen anderen Ostblockstaaten.Ebenfalls 1979 marschierte die sowjetische Armee in Afghanistan ein: Ein politisches und militärisches Desaster, das nicht nur den Machtverfall der Sowjetunion vorantrieb, sondern auch die Geburtsstunde verschiedener Gruppierungen von radikalen islamistischen Widerstandskämpfern war. Auch wenn Bösch darauf hinweist, dass von dort kein direkter Weg zu den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York führt, so sind die historischen Pfade bisweilen doch so verschlungen, dass in der Wahrnehmung der westlichen Welt aus Widerstandskämpfern bald Terroristen wurden.
Etwas merkwürdig mutet an, dass Bösch die Wahl von Thatcher zur britischen Premierministerin mit der Gründung der Grünen in Deutschland unter der Überschrift „Neoliberalismus und Ökologie“ verbindet. Er erklärt das so: Beide wollten einen fundamentalen Wandel und betrachteten ihre Vorstellungen als alternativlos. Weitere Kapitel sind der zweiten Ölkrise, den vietnamesischen Boat People, der Revolution in Nicaragua, dem AKW-Unfall im amerikanischen Harrisburg und der TV-Serie Holocaust gewidmet.
Füllhorn zeitgeschichtlicher Erkenntnisse
Galten bislang 1968 und 1989 als die klassischen Umbruchjahre der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so weist Bösch überzeugend nach, dass auch 1979 eine vielfältige Zeitenwende einläutete. „Durch das gut begründete Zusammenfügen von Ereignissen in weit voneinander entfernten Ländern entsteht das Mosaik eines welthistorischen Umbruchs. Diese Zeitenwende hatte Auswirkungen auf Deutschland und Westeuropa, auch wenn Weltgeschichte in diesem Jahr eher andernorts geschrieben wurde“, so Moritz Behrendt in der Neuen Zürcher Zeitung.Bösch liefert in den einzelnen Kapiteln detailreiche Informationen zu den zehn ausgewählten Ereignissen. Zugleich kommt er immer wieder auf die übergeordneten Zusammenhänge im Hinblick auf Europa und insbesondere Deutschland zu sprechen. Er verliert sich nicht in den Details und arbeitet große Linien heraus, lässt die einzelnen Ereignisse aber auch nicht unzulässig in einer großen Erzählung aufgehen. Einziger Wermutstropfen dieses Füllhorns zeitgeschichtlicher Erkenntnisse ist, dass Bösch sicher genug Material gehabt hätte, um mehr Anekdoten und Pointen einzustreuen, die das Buch noch etwas lebendiger gemacht hätten.
München: C.H. Beck, 2019. 512 S.
ISBN: 978-3-406-73308-6
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe