Felicitas Hoppe
Erfunden und wahr
Als Kind war sie lieber drinnen als draußen. Felicitas Hoppe erzählt, wie sie im Alter von fünf Jahren auf eine traumatische Reise geschickt wurde – und ihre Ängste vor inneren und äußeren Reisen überwunden hat.
Von Holger Moos
Ihr Hausarzt, ein „eher sesshafter Typ ohne Titel und Reiseerfahrung“, attestiert Felicitas Hoppe in der Erzählung
Fieber 17 die titelgebende Erkrankung. Es ist aber eine surreale Krankheit, die weder Körper noch Geist befällt. Sie gehört der Autorin ganz alleine und zieht nur „dieses übrig gebliebene kleine Halborgan“ in Mitleidenschaft, „das so schlaflos wie ratlos, ständig auf Reisen und Wanderschaft ist“. So beschreibt Hoppe „diesen lächerlich kleinen Rest“, den der Volksmund früher die Seele nannte.
Das Fieber erzeugt Zerstreutheit, „dieses leise haltlose Flattern“, ein „Flirren zwischen Abschied und Ankunft“. Und genau so liest sich die kurze Erzählung, man fühlt sich somnambul, folgt der Erzählerin in das Zwischenreich von Erinnerung, (Alp-)Traum und Wirklichkeit.
Wer schwimmen kann, kommt langsamer um
Hintergrund ist eine „Kinderlandverschickung“, die die kleine Felicitas im Alter von fünf Jahren erlebt. Sie ist asthmatisch und soll zur Kur auf eine Nordseeinsel reisen. Ihr Vater bringt das kleine Mädchen zum Bahnhof, wo neben anderen lauten Kindern auch Erwachsene auf sie warten. Die wollen ihr die Angst vor dieser ersten Reise nehmen, indem sie darauf bestehen, nun ihre Onkel und Tanten zu sein.Sie kann damals weder lesen noch schreiben noch schwimmen. Auf der Insel lernt sie Einiges, etwa „dass, wer schwimmen kann, nur langsamer umkommt“. Keine sehr beruhigende Aussicht.
Sie lernt ebenfalls, dass man sowohl für Lügen als auch für die Wahrheit bestraft werden kann, je nachdem, was gerade erwartet wird. Die Postkarten, die das Mädchen nach Hause schreibt, dürfen keinesfalls die Wahrheit enthalten. Dafür sorgen die strengen „Wärterinnen“ – eine „Mischung aus Schaffner und Zöllner“, die für die Kinder die immer gleichen Sätze schreiben: „Mir geht es gut. Und wie geht es euch?“
Der Schatten der Erwachsenen
Der kurzen Erzählung folgt ein seelenverwandter Essay. Oh, the places you'll go! heißt er. Den Titel hat sich Hoppe von dem berühmten amerikanischen Kinderbuchautor Dr. Seuss geborgt. Der Essay kreist um das Thema Kindheitsgeschichten, die von allen Menschen geliebt werden, oft aber wenig originell sind. Denn wir wissen alle, „wie sehr unsere Kindheitsgeschichten einander gleichen. […] Wahrscheinlich lieben wir sie gerade deshalb.“Aber Vorsicht ist geboten! Felicitas Hoppe zitiert aus Peter Handkes Lied von der Kindheit: „Als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war.“ Diese „Beschwörungsformel“ erlaube uns zwar, davon zu träumen, dass es eine Ganzheit, ein totales Beisichsein gebe. Doch dieser Traum habe wenig mit der Wahrheit zu tun. Denn geschrieben werden die Kindheitsgeschichten von Erwachsenen – im Rückblick, in der Erinnerung, die aufgeladen sei von Wünschen und sich bisweilen im Märchenhaften verliere. Es seien die Erwachsenen, die unsere Kindheit verwalten: „Über allem, was über die Kindheit zu sagen ist, liegt der Schatten des Erwachsenseins.“ Erzählten dagegen Kinder Geschichten, richteten sie ihren Blick nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft und seien daher niemals sentimental.
Ein haltloses Flattern und Flirren
Gedankenreich führt uns Hoppe zu Peter Pan, Pinocchio, Jeanne d'Arc und Buster Keaton – und zu der „Wahrheit der meisten Kindheitsgeschichten“. Die liege „nicht in den Fakten, sondern in dem Versuch, Erlebtes in Erzähltes zu verwandeln, mit anderen Worten darin, einer Erinnerung Form zu geben.“ Erzählen ist, so verstanden, auch ein Mittel der „Selbstbehauptung“. Und am Ende kommt Hoppe, angesichts ihrer eigenen autobiografischen Werke, zum Schluss, dass sie im erinnernden Schreiben dem wirklichen Leben näher gekommen ist, „vielleicht weil wir weniger sind, was wir sind, als das, was wir uns wünschen“.Felicitas Hoppes Kindheitsgeschichte entstand im Rahmen des ARD-Radiofestivals im Sommer 2020, in der ARD-Audiothek kann man den von der Autorin gelesenen Text hören. Der Essay basiert auf einem Vortrag aus dem Jahr 2012. Beides zusammen ergibt ein sehr schönes, stimmiges Büchlein, in dem Erzählung und Essay ineinandergreifen. Traumwandlerisch liest man die Erzählung, und auch der Essay lässt mehr Fragen offen, als er beantwortet. Leben wie Lesen, Schreiben wie Erinnern, alles ist ein zerstreutes, haltloses Flattern und Flirren.
Zürich: Dörlemann, 2021. 96 S.
ISBN: 978-3-03820-085-7
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