Science-Fiction in Deutschland
Die Zukunft als Gegenwart
Science-Fiction hat in Deutschland eine große Tradition. Dass es dabei um weitaus mehr als um Raumschiffe und Laserschwerter geht, beweisen viele zeitgenössische Künstler, die sich dem Genre zuwenden.
Die Zukunft sei der bessere Schlüssel zur Gegenwart als die Vergangenheit – das sagte einmal der 2009 verstorbene britische Schriftsteller James Graham Ballard. Eigentlich eine seltsame Aussage, sind es doch vergangene Ereignisse, die die Gegenwart erklären, und nicht das, was noch gar nicht geschehen ist. Trotzdem: Wie eine Gesellschaft über das, was noch nicht geschehen ist, denkt, was sie sieht, wenn sie in die Zukunft blickt, sagt etwas Fundamentales über diese Gesellschaft aus.
Insofern war es absolut schlüssig, dass 2015 die Kunstbiennale in Venedig unter dem Motto All the World’s Futures stand und die Frage stellte, wie mit der Sprache der Kunst Zukunftsvisionen sichtbar gemacht werden können. Eine Kunst, die bereits in Zukunftsvisionen spricht, ist die Science-Fiction.
Wer allerdings unter Science-Fiction lediglich Hollywood-Blockbuster à la Star Wars versteht, übersieht, dass sich dieses Genre weltweit unterschiedlich entwickelt hat. So hat auch Deutschland eine eigenständige Science-Fiction-Tradition, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Autoren wie Kurd Laßwitz (Auf zwei Planeten) oder Alfred Döblin (Berge Meere und Giganten) geprägt wurde. Der kulturelle Bruch durch zwölf Jahre nationalsozialistische Herrschaft führte jedoch dazu, dass nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem US-amerikanische Science-Fiction populär war, der die Deutschen mit der 1961 gegründeten Weltraum-Serie Perry Rhodan nacheiferten. Perry-Rhodan-Hefte erscheinen bis heute, aber die deutschsprachige Science-Fiction ist längst mehr als Perry Rhodan: Friedrich Dürrenmatt, Carl Amery, Günther Grass und andere bedeutende Autoren haben mit Science-Fiction -Elementen gespielt, so wie es auch heute viele zeitgenössische Künstler tun.
Der Kampf um eine gute Gesellschaft
Zwei inhaltliche Trends sind es, die die Arbeit vieler deutschsprachiger Künstler seit einigen Jahren prägen: zum einen der gesellschaftliche Verfall nach einer wie auch immer gearteten Katastrophe; zum anderen die Suche nach einer Alternative, nach einer besseren Form des menschlichen Zusammenlebens. In dem im März 2016 erschienenem Roman Die Verteidigung des Paradieses von Thomas von Steinaecker etwa leben sechs Menschen in einem Refugium hoch in den Alpen, während der Rest des Landes zerstört ist. Doch irgendwo, so heißt es, soll es noch eine Zivilisation geben – eine düstere Reise beginnt. Auf andere Weise apokalyptisch geht es in dem in Februar 2016 erschienenen Buch Macht von Karen Duve zu: hier ist das Deutschland des Jahres 2031 ein vom Klimawandel geplagtes Land, dessen Demokratie bizarre Auswüchse angenommen hat. Und in Nichts von euch auf Erden von Reinhard Jirgl aus dem Jahr 2012 sind die Zustände gleich so desaströs, dass die Menschen auf Mond und Mars ausweichen müssen, um zu überleben.Doch dort, auf anderen Himmelskörpern, kann es geschehen, dass die Menschen tatsächlich ein besseres (oder sagen wir: vernünftigeres) Gesellschaftsmodell entwickeln. Von solchen Welten erzählen etwa Leif Randt in Planet Magnon und Dietmar Dath in Venus siegt; aber auch bei ihnen gibt es keine perfekte Welt: Die gute Gesellschaft muss immer erkämpft und verteidigt werden.
Dieses Zusammenspiel von Dystopie und Utopie ist auch in anderen Medien zu finden. So ist im Film Hell des Regisseurs Tim Fehlbaum aus dem Jahr 2011 die Sonneneinstrahlung in Europa so stark geworden, dass man sich draußen fast gar nicht mehr aufhalten kann. Gemeinschaft findet sich nur noch in kleinsten Gruppen. Und in dem 2010 erschienenen Film Die kommenden Tage unter der Regie von Lars Kraume bleibt den Protagonisten nur die Flucht aus einem von Aufständen zerrütteten Deutschland – eine brisante Umdrehung aktueller Flüchtlingsbewegungen. Auch Comics wie Endzeit von Olivia Vieweg oder Mensch wie Gras wie von Dietmar Dath und Oliver Scheibler machen sich auf die Suche nach hoffnungsvollen Inseln in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Die Vision von einer gemeinsamen Zukunft
Die Zukunft aus der Sicht deutscher Künstler hat zwei Seiten: Während Finanzkrisen, Umweltzerstörung und Terrorismus zu düsteren Szenarien anregen, wird gleichzeitig versucht, einen Ausweg zu finden – hin zu einer nicht-ausbeuterischen, solidarischen, nachhaltigen Gesellschaft. Und um einen solchen Ausweg zu finden, muss man nicht einmal Geschichten erzählen: Architekturprojekte wie „Stadt (Er)finden“ von Saskia Hebert oder „Anti-Villa“ von Arno Brandlhuber zeigen ebenso Perspektiven auf wie die Künstler Julia Lohmann, deren Designobjekte Produktionswege freilegen, und Olaf Nicolai, der Konsumgegenstände ins Überdimensionale vergrößert.Olaf Nicolai war übrigens auch am deutschen Pavillon auf der Biennale 2015 beteiligt, wo unterschiedliche Entwürfe zukünftiger Entwicklungen aus der ganzen Welt zu besichtigen waren, und wo man für einen kurzen Moment das Gefühl haben konnte, dass die Menschen – bei allem, was sie in der Vergangenheit getrennt hat – doch eine gemeinsame Zukunft haben könnten.