Alexander Kluge
Wimmelbuch für Anspruchsvolle

Alexander Kluge betreibt mit seinen Filmen und Büchern die Kunst der assoziativen Überforderung. So auch in seinem aktuellen Buch, das ein Behältnis für allerlei Anekdoten und Abseitiges aus und über Russland ist.

Kluge: Russland-Kontainer © Suhrkamp Gleich die erste Überschrift seines aktuellen Buches Russland-Kontainer verdeutlicht, wie der mittlerweile 88-jährige Alexander Kluge arbeitet. Der Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Theoretiker schreibt: „Von Neugierde, nicht aus einem Sollen (einer Tugendlehre), kommt der Wissensdurst. Und er stammt aus dem Erzählen. Ich fange an zu erzählen, noch bevor ich etwas weiß.“
 
Kluge ist kein Russland-Experte, das gibt er in dem Vorwort unumwunden zu. Doch Russland ist ein ideales Land, um es mit seiner Fantasie zu erobern, nachdem so viele Feldherren, Diktatoren und Utopisten mit der politischen und physischen Eroberung an den Weiten dieses Landes gescheitert sind. Was Kluge an Anekdoten, Gedankensprüngen und Assoziationen liefert, ist auch in diesem Buch wieder überwältigend im wahrsten Sinne dieses Wortes. Denn überwältigt ist man als Leser*in von der Gedanken- und Detailfülle. Man wird von einem Thema zum anderen geführt, es ist ein Wimmelbuch für Anspruchsvolle, ein Ideen- und Geschichtensteinbruch.

So wahr wie erfunden

„Das Russland, das der deutsche Schriftsteller beschreibt, ist gleichermassen wahr, wie es erfunden ist”, schreibt Paul Jandl in der NZZ. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Poesie sind fließend. Es ist nicht immer klar, wo die Fakten enden und die Fiktion beginnt – oder umgekehrt. Bei Kluge kann auch ein obsessiver Landvermesser, der die Daten eines frühen sowjetischen Satelliten auswertet, „poetische Ereignisse“ erleben. Der „Genauigkeitsfreak“ kam nämlich zu dem Schluss, dass sich die großen Gebirge, er nennt sie „Gesteinsmeere“, unter dem Einfluss des Mondes auf und ab bewegen. In einer bestimmten Konstellation von Jupiter, Mond, Sonne und einer geheimnisvollen Begleitsterns könne es sogar zu einer Art „Springflut“ der Landmassen kommen.
 
Kluge ist nicht unbedingt ein Freund der Abstraktion, auf dem Weg dorthin bleibe Vieles auf der Strecke. So zieht er im Rahmen einer Anekdote über einen anderen russischen Landvermesser eine Analogie zu einer Idee Franz Kafkas aus dem Jahre 1916, nach der ein Landvermesser am Ende eine Kartierung im Verhältnis 1 : 1 angefertigt hat: „Sie enthielt tatsächlich alle Besonderheiten des Landes.“

Suche nach „Restgeheimnissen“

Kluge hegt weiterhin die Hoffnung, dass es ein Publikum für anspruchsvolle und auch sperrige TV-Formate gibt. So schreibt er über ein Gespräch mit der russischen Astronomin Karina Sedowa, deren deutsches Vokabular so begrenzt war, dass das Interview „an der Grenze des Unverständlichen geführt wurde“. Solche Gespräche schätzt Kluge. Und weil sie unüblich sind, glaubt er, dass sie attraktiv auf junge TV-Nutzer*innen wirken und diese in eine „Zapperfalle“ führen: „Wenn ich das überall Gleiche, das sich dem Verständnis vollständig öffnet, satthabe und hineinschalte zu etwas, das mir fremd ist, hält ein 'Restgeheimnis' mich fest.“
 
Tatsächlich kenn man ja so viele geheimnisfreie Bücher, Alltags- und Arbeitssituationen, in denen das immer Gleiche geschrieben, gesagt, behauptet und als neu verkauft wird. Daher bleibt zu hoffen, dass Kluge weiterhin viele Restgeheimnisse liefert und sich seinen Optimismus bewahrt, dass wir offen bleiben für das, was uns herausfordert, sich bisweilen auch unserem Verständnis und der vollständigen Entschlüsselung entzieht.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Alexander Kluge: Russland-Kontainer
Berlin: Suhrkamp, 2020. 304 S.
ISBN: 978-3-518-42892-4
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