Berlin Art Week 2024
Berlin Art Week – die Peripherie im Zentrum
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BERLIN ART WEEK, das Festival für zeitgenössische Kunst, bringt über hundert Museen, Galerien, Ausstellungshäuser und Projekträume zusammen und findet jedes Jahr im September statt. Lyuboslava Hristova, die unseren Wettbewerb für junge Kunstkritiker gewonnen hat, berichtet über ihre persönlichen Eindrücke von der 13. Ausgabe des Festivals in der deutschen Hauptstadt, wo sie lokale Künstler*innen und Kurator*innen traf.
Von Lyuboslava Hristova
„Ich habe gesehen – Männer an Ecken, die verkaufen ein Parfüm, und keinen Mantel und kesses Gesicht und graue Mütze, – und Plakate mit nackten rosa Mädchen – keiner guckt hin – ein Lokal mit so viel Metall und wie eine Operation, da gibt es auch Austern – und berühmte Photographen mit Bildern in Kästen von enormen Leuten ohne Schönheit. Manchmal auch mit.“
So beschreibt Doris aus Irmgard Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“ (1932) Berlin ihres Nachbarn, eines erblindeten Kriegsveteranen. Doris ist eine wahre Kennerin und Sammlerin von Bildern[1], die in Schnappschüssen die Stadt mit ihren grellen Neonlichern, den glänzenden Cafés mit elegant gekleideten Menschen und dem rasanten Leben in der neu gebauten U-Bahn festhält – ein wahrhaft „beleuchteter Sarg auf Schienen“, der sowohl „muffig“‚ als auch „interessant“ ist. Die Form, die sie wählt, ist nicht die des Beichtstuhls oder des Tagebuchs, sondern die des Stummfilm-Drehbuchs. Gerade mit einem gestohlenen Pelzmantel und brennendem Durst und Ehrgeiz in der Großstadt angekommen, lebt sie unter den nie aufgegangenen Stars des Alexanderplatzes – den Arbeitslosen, den Zuhältern, den Prostituierten. In diesem für die Epoche der Weimarer Republik zentralen Roman bringt Keun, neben Autoren wie Döblin und Brecht, genau die Figuren aus der dunklen Stadtperipherie – die Kriminellen, die Prostituierten, die verkrüppelten Veteranen – auf die Bühne und gibt ihnen zum ersten Mal eine Stimme, und zwar eine weibliche Stimme.
Fast ein Jahrhundert später, mit einer bedeutenden Unterbrechung (bereits 1933 wurde das Buch von den Nazis verboten), steht das Thema zum Lautwerden der Stimme der historisch Stimmlosen – Frauen, Schwule, Queers, aber auch Migranten, Gastarbeiter, Kolonialerben – in Berlin mit voller Schlagkraft und dominiert die diesjährige Ausgabe der Berlin Art Week, das jährliche Festival für zeitgenössische Kunst, das über hundert Museen, Galerien, Kunsthäuser und Projekträume zusammenführt und ein reichhaltiges und beeindruckend vielfältiges Programm mit jungen und etablierten lokalen und internationalen Künstlern präsentiert.
Berlin ist Sofia verblüffend ähnlich – die Häuser, die Bäume (die Trauerweiden passen gut dazu), die Atmosphäre. Aber es gibt natürlich einen Unterschied, und der liegt vor allem im Maßstab. Während wir hier in Sofia verschiedene Ansichten über die unbeleuchteten und ungelebten Episoden unserer eigenen Geschichte ineinander verflechten, ist in Berlin alles mehrfach gestaffelt. Hier erkämpfen sich ihren Platz Geschichten aller möglichen Peripherien – nicht nur soziale, sondern auch geografische, die Geschichten des Traumas der Stadt, des Landes, die Mikro-Geschichten der globalen Probleme, die alle gleichzeitig die Bahnen einer möglichen Zukunft zeichnen.
Wie Doris bemerkt, werden die Augen müde und erschöpft, lange bevor sie all diese Vielfalt durchdringen können. Vor allem, wenn man gerade während der Berlin Art Week zum ersten Mal in Berlin ist und nicht weiß, was man sich als Nächstes anschauen soll – die Gebäuden, die Räumlichkeiten darin, die Werke, die sie bevölkern, die kuratorischen Entscheidungen, die sie arrangieren, oder die Menschen, die in den Räumen herumlaufen – alles gleichermaßen bunt und faszinierend. Doch einige der Ausstellungen prägen sich auf der Netzhaut ein und hinterlassen einen bleibenden Eindruck, und genau diese werden hier in einer kleinen Sammlung von Schnappschüssen für ein Stummfilm-Drehbuch, wie das von Doris, nachvollzogen.
I Die Stadt: Industry und Love Letters to the City
Der Hof eines ehemaligen Straßenbahndepots. Vor den roten Backsteinen und dem hohen Schornstein steht ein Achterbahn Modell. Doch statt schreiender und voller Adrenalin Kinder fahren dort still und leise kleine Skulpturen.
The Twins („Die Zwillinge“, 2024) – die kinetische Installation des niederländischen Künstlers Oscar Peters, eine riesige dreidimensionale Achterbahn aus Holz – ist das zentrale Highlight der vom n.b.k. (Neuer Berliner Kunstverein) organisierten Ausstellung Industry auf dem Gelände des ehemaligen Straßenbahndepots der Uferstudios. Hier wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die erste Pferdebahnlinie der Stadt eröffnet, und in den späten 1920er Jahren – der Zeit, in der auch Doris ihr Glück in den Straßen Berlins suchte – wurden die Gebäuden des mittlerweile elektrischen Straßenbahndepots nach Entwürfen des Architekten J. Kramer errichtet – ein Zeugnis der modernen Industrialisierung.
Peters baut ähnliche Achterbahnen an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt, von den Niederlanden bis Japan, als site-specific Kunstwerke in industriellen Stadträumen. Es ist eine Bahn des Grauens, aber auch eine Bahn der Unterhaltung, die auf paradoxe Weise den Geschmack der Gefahr, den Abstieg in den Abgrund mit dem Bewusstsein einer kontrollierten und sicheren Umgebung verbindet, eingeschlossen in das endlose Oval der Bahnlinie, deren erste Station auch die letzte ist und die die Fahrgäste, so verrückt, beängstigend und erschütternd die Bewegung auch sein mag, immer wieder in die Welt der Stabilität zurückführt.
Aber diejenigen, die diesen Adrenalinstoß in den Uferstudios tatsächlich genießen, sind eine Reihe von Skulpturen von über zwanzig Künstlern, die die Installation in eine Parade kleinerer Kunstwerke verwandeln. Unter ihnen erkennen wir zum Beispiel eine verkleinerte Version von Brad Downeys Melania (2019) – die Statue der ehemaligen First Lady der Vereinigten Staaten, die in der Nähe ihrer Heimatstadt in Slowenien errichtet wurde und kurz darauf auf mysteriöse Weise verbrannte, hier winkt sie anmutig, ihr Haar makellos frisiert. Ebenfalls flugbereit sind Mark Friedvalskis Cosmonauts (2024), ein Werk, das auf einer Fotografie aus den 1960er Jahren beruht und eine Gruppe von Kindern auf einem typischen sozialistischen raketenförmigen Klettergerüst zeigt. Nur dass sich hier der Flug zu den Sternen, in die utopische Zukunft, als eine lange, sich drehende Osmose entpuppt, und die Rakete immer wieder in einem Teufelskreis von der ersten Station zur letzten kreist, die wieder zur ersten wird, und so weiter bis ins Unendliche.
Auf den Spuren des urbanen Wandels, der enthusiastischen Höhenflüge und der schwindelerregenden Stürze des technischen und urbanen Fortschritts skizziert die Ausstellung letztendlich die geschlossene Ellipse von Vorindustrialisierung, Industrialisierung und De-Industrialisierung dieses markanten Ortes – Berlin. Von einem expressionistischen Straßenbahndepot mit Spuren der neuen Sachlichkeit über eine Omnibuswerkstatt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu einem Zentrum für zeitgenössischen Tanz ab 2012 bewahrt es die Grundidee von Bewegung und In-Bewegung-
Setzen als Grundkonzept seiner Existenz.
Langer Korridor. Weiße Wände. Hunderte von Fingerabdrücken in roter Tinte füllen den ganzen Raum vom Boden bis zur Decke.
Die Serie Dots („Punkte“) der in Berlin lebenden südkoreanischen Künstlerin Jazoo ist Teil der von Urban Nation organisierten Ausstellung Love Letters to the City („Liebesbriefe an die Großstadt“), die sich mit der urbanen Landschaft und verschiedenen Eingriffen in sie auseinandersetzt. Jazoos Projekt ist eng mit dem Thema der Evolution der Städte und der unaufhaltsamen Eroberung der letzten Inseln des Widerstands dagegen verbunden – der alten, vormodernen Architektur, die ständig von der immer hungriger werdenden Stadt verschluckt wird. Jazoo folgt den Spuren traditioneller koreanischer Häuser in den Entwicklungsgebieten der großen koreanischen Städte, die dabei sind, zugunsten riesiger mehrstöckiger Gebäude zu verschwinden, und bedeckt ihre Fassaden mit ihren Daumenabdrücken, die sie mit der traditionellen roten Tinte der Region einfärbt. Die Geste des Fingerabdrucks erfüllt im Kontext der ostasiatischen Kultur mehrere Funktionen, darunter auch pragmatische. Der Stempel mit roter Tinte wird zwar zunehmend durch neue digitale Werkzeuge ersetzt, hat aber immer noch den Charakter einer offiziellen Unterschrift, mit der Dokumente der staatlichen Verwaltung gesiegelt werden. In der Vergangenheit waren solche Siegel den Herrschern vorbehalten, und sie dienten wiederum dazu, alle Kunstsammler zu kennzeichnen, durch die eine kalligraphische Schriftrolle ging – ein unter dem anderen, um die Geschichte der Weitergabe von Hand zu Hand zu dokumentieren.
Und ein Fingerabdruck ist ein Akt der Verpflichtung, der Bindung, ein Mittel der Identifizierung, ein Träger und Indikator der einzigartigen persönlichen Individualität. So wie die traditionelle Architektur ein Träger der kulturellen Außergewöhnlichkeit eines Ortes ist, der geknebelt den Atem anhält und sich vor den wachsamen Blicken der immer größer werdenden Stadt verkriecht, die ihn früher oder später zwangsläufig erblicken und verschlingen wird. Mit dieser Geste markiert Jazoo ihre Präsenz auf den verschwindenden Gebäuden, die bald abgerissen werden sollen, und macht sie dadurch für kurze Zeit zu einem Teil ihrer Sammlung, bereit, sie in die Hände der Zukunft weiterzugeben, aber auch die Aufmerksamkeit auf ihre Bewohner zu lenken, die an diesen Orten etwas viel Größeres hinterlassen – ihre Erinnerungen und ihre Jugend.
Für die diesjährige Berlin Art Week realisiert Jazoo das Projekt in den Räumen des Urban Nations Museum of Contemporary Urban Art und richtet ihre Aufmerksamkeit auf die genauso stille Präsenz von Flüchtlingen und Migranten in der Großstadt, die eingeladen sind, ihre Abdrücke an den Wänden der Institution zu hinterlassen und somit ihren Platz und ihre individuelle Einzigartigkeit zu beanspruchen, jenseits der großen Kategorien, die sie ausgrenzen.
II Die Fürsorge: Orangery of Care
Metallkonstruktion. Gewächshaus ohne Glaswände. Neonbeleuchtung an der Decke. Gemusterter Teppich mit halb-futuristischen, halb-abstrakten Motiven auf dem Boden. Bildschirm. Video. Sprechende Pflanzen.
Vorhang. Dahinter: abgeschnittene Baumstümpfe, die wie Stühle vor einem großen Bildschirm stehen. Auf dem Bildschirm erscheinen abwechselnd Bilder von uralten Wäldern und von alten Menschen.
Gibt es etwas Stimmloseres als eine Pflanze? Als ein Baum, der nicht protestieren kann, wenn er gefällt wird? Als die Topfblume, die Hunderte von Kilometern zurückgelegt hat, bis sie im Regal von Ikea landet, nur um dann vergessen auf irgendeinem Balkon zu verwelken? Was könnten uns Pflanzen sagen, wenn es jemanden gäbe, der ihnen zuhört? Diese Fragen stehen im Fokus der Ausstellung Orangery of Care („Orangerie der Fürsorge“), die vom deutschen Kunstverein nGbK (Neue Gesellschaft für Bildende Kunst) mit vierzehn Werken verschiedener Künstler nach einem Konzept des Kreativkollektivs PARA organisiert wird. Doch die instinktive und einfache Assoziation des Pflanzenthemas mit Fragen des Klimawandels und der Ökobilanz erweist sich als trügerisch. „Die Orangerie“, mein persönlicher Favorit des Programms, bietet eine Vielzahl nuancierter und tiefgehender Perspektiven auf Fragen der Migration, des kolonialen Bewusstseins und des Exotischen, des Zusammenspiels von Natur und Technologie, des (anti-)utopischen Projekts des Gedeihens unter totaler Kontrolle der Umwelt und nicht zuletzt der Fürsorge für andere. Und all das durch die Sprache der Pflanzen – ihre Arten, die Geschichte ihrer Verbreitung und Kultivierung, ihrer „Jagd“, des Austauschs von Stecklingen als teures Geschenk, des Sammelns von Exotika als Zeichen eines hohen Status.
Einerseits haben Pflanzen die Phantasie der Künstler im Laufe der Kunstgeschichte immer wieder angeregt und beschäftigt. Von der Landschaftsmalerei bis zum Stillleben, von der Dekoration bis zum Symbolismus haben sich Blumen als Synonym für Schönheit im Gewebe der künstlerischen Ausdruckssprache verwurzelt. Andererseits aber sind sie, aus der Erde gezupft und Hunderte von Kilometern in ein für sie zerstörendes Klima gebracht und in teuren Glashäusern gefangen, auch ein Symbol für hohen sozialen Status und Wohlstand, ein Anspruch auf Macht und Reichtum. Je exotischer und seltener, je weiter entfernt von den peripheren Kolonien des Reiches, desto luxuriöser und begehrenswerter, desto mehr zeugt dies von dem Reichtum und Größe des Reiches. Genau diesen letzten Gedanken greift die niederländische Designerin Julia Löffler in ihrer Serie Exotic Plant Hunters auf, in der sie miteinander korrespondierende Fotografien von Sammlern seltener Arten aus dem 19. Jahrhundert und von zeitgenössischen „Pflanzeneltern“ und „Plantfluencern“ zusammenbringt, die genau so leidenschaftlich mit ihren Errungenschaften in den sozialen Medien posieren – zwei Phänomene, die der gleichen kolonialen Tradition entspringen.
Das Thema der kolonialen Praktiken, die das Gewächshaus hervorgebracht haben, und ihre zeitgenössische Ausgabe, die riesige Industrie der Pflanzenzucht und -verbreitung, hallt auch im „Gewächshaus“ des Künstlerduos Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten in ihrem Video Symbiotechnica nach, dem Namen einer Hybridform, die aus der Symbiose zwischen Orchideen und technologischen Mitteln entstanden ist. Sie erzählt die Geschichte vom ältesten Traum des Menschen, dem vom ewigen Leben, aber übertragen in den Bereich der neuesten Technologie, das Geoengineering, ins Bestreben, die paradoxe künstliche Natur zu schaffen, die das ewige Phantasma der Allmacht und der absoluten Kontrolle, die Krone der Herrschaft des Menschen über die Welt, verwirklichen würde. Das Gewächshaus entpuppt sich als Miniaturmodell, als experimenteller Spielplatz, der das Rezept für das perfekt konzipierte und programmierte Schutzgebiet liefert, das das Überleben der Spezies und die ewige Selbstreproduktion gewährleistet.
Das Gewächshaus ist definitiv ein Raum der Kontrolle, aber auch eine Form der Fürsorge. Genau diese Perspektive wählt der in Berlin lebende britische Künstler Rob Cross in seinem Video Wood for the Trees[2], in dem er den Fokus auf die Abgehängten, die Entwurzelten richtet – auf die nicht mehr jungen LGBTQ+, die sich oft von ihren Familien und Verwandten abgeschnitten fühlen, aus dem einen oder anderen Grund ausgegrenzt, unakzeptiert und abgelehnt. Was passiert mit ihnen im Alter, wenn sie Hilfe benötigen, aber allein und ohne Erben sind, fernab der üblichen Praxis der generationenübergreifenden Betreuung? Eine mögliche Lösung für dieses Problem bietet ein in Berlin initiiertes Projekt, in dem queere Menschen aus verschiedenen Generationen gemeinsam wohnen. In diesem sehr einfallsreichen Video werden Interviews mit den künftigen Bewohnern dieses Hauses mit Bildern von den Forschungsarbeiten der dendrochronologischen Mitarbeiter vor Ort verwoben. Auf diese Weise werden die Bäume, die durch ihr unterirdisches Wurzelsystem miteinander verbunden sind, und der Wald als ganzes Ökosystem, das auf dem Prinzip der gegenseitigen Bindung und Unterstützung beruht, zu einem Modell für eine Gemeinschaft der gegenseitigen Akzeptanz und Fürsorge.
Eine besondere Form der Fürsorge und Geste der Freundschaft ist es, einen Steckling von einer Topfpflanze abzutrennen und ihn einem Freund zum Einpflanzen zu geben, eine Art Reservoir für Erinnerungen und Emotionen. Ein Teil der Ausstellungsfläche steht zur Verfügung für den Austausch von Pflanzen unter den Besuchern und denjenigen, die solche Stecklinge mitnehmen möchten.
Die Gewächshaus-Metapher ist auch in vielen anderen Ausstellungen des Programms zu finden, z. B. in Estufa („Gewächshaus“ auf Portugiesisch) von Luiz Roque, und auch in der eindeutig fürsorglichsten, der Retrospektive des thailändischen Künstlers Rirkrit Tiravanija, bei dem das Essen, das Kochen und das Miteinanderteilen eine Schlüsselrolle spielen. Er lotet die Grenzen des Möglichen im Ausstellungsraum aus und der Besucher verlässt die Ausstellung satt und gut gekleidet (die Ausstellung Happiness is not always fun).
III Der Zugang: Incoming und Attune
Fenster eines Nebengebäudes. Das kleine Ankleidezimmer einer riesigen Galerie. Metallrohre unter dem Fenster. Drei junge Frauen bauen ein Gerüst. Sie klettern darauf. Sie kriechen durch das Fenster. Sie treten ein und öffnen die Tür von innen für Besucher.
Wie dringen die Geschichten noch nach Berlin vor? Wie macht die Peripherie ihre Stimme im Zentrum geltend? Eine solche Stimme wird ihr nicht einfach so ohne weiteres angeboten. Die Performance Incoming (Neuankömmlinge) der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Jelena Fuzinato gehört eindeutig in den Bereich der Institutionskritik und des Problems der „Neuverhandlung“ von Grenzen und Zugang, wie sie selbst sagt. Die Intervention in den institutionellen Bereich findet im Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwartskunst statt – einem der wenigen, wie sich herausstellt, die sie akzeptieren. Yelena Fuzinato schöpft Ideen, Materialien und Objekte dafür aus ihrer eigenen Erfahrung als Kind von Gastarbeitern – einige der Rohre für das Gerüst, das ihr Vater in den 1970er Jahren aus Deutschland mitbrachte, die Warnbänder, die es umgeben, listen die Wörter auf, mit denen die Künstlerin ihre Arbeit beschreibt, so wie ihre Verwandten ein Dutzend Wörter lernen mussten, um in einem fremden Land zurechtzukommen. Wenn wir das Museum betreten und uns in der Garderobe aufhalten, sehen wir zwei Rucksäcke an der Kleiderstange. Der eine ist eine Scout-Tasche, ein exotischer Gegenstand, der aus dem Westen kommend mit dem symbolischen Kapital des Kapitalismus beladen war, die Fuzinato mit ihren Lieblingsgegenständen füllte, als sie während des Krieges in Jugoslawien „Evakuierung“ spielte. Der andere ist ein großer Reiserucksack und daneben an der Wand hängt eine Liste mit Gegenständen, die vom Allernotwendigsten bis zu sentimentalen Dingen wie einer Haarlocke eines Kindes reichen. Das, was wir nicht einzupacken und wegzulegen brauchen, weil es uns sowieso dicht auf den Fersen ist und wir es nie loswerden, ist die Geschichte, die uns immer begleitet.
Während Yelena Fuzinato und ihre Assistenten das Museum durch das Fenster stürmen, läuft im Hauptgebäude die Performance Attune („Einstellung“) einer anderen Künstlerin aus der gleichen Region, der gebürtigen Rumänin Alexandra Pirici. Der Kontrast zwischen den beiden Performances ist äußerst plastisch und frappierend. Die „Buchstäblichkeit“ der Arbeiteroveralls, die grobe Konstruktion, der Einbruch, treffen auf die poetische Stimmung der langsamen, feenhaften und anmutigen Bewegungen der Schauspieler um eine echte Sanddüne, die in der Haupthalle des Museums entstanden ist, gegenüber von Installationen mit hängenden, skurrilen Reagenzgläsern, in denen chemische Reaktionen ablaufen. Diese seltsame Phantasielandschaft scheint unendlich weit von der grauen Alltagsrealität der Gastarbeiter entfernt zu sein. Einmal drinnen, im geschlossenen und geschützten Raum der Institution, kann man sich erlauben, zu phantasieren, eigene Welten zu konstruieren, mit Zärtlichkeit die Wechselwirkungen von chemischen Elementen und menschlichen Körpern zu erforschen, bis dahin schlägt man sich mit dem durch, was man gerade zur Hand hat.
Diese beeindruckende Vielfalt an Werken ist das herausragende Merkmal der Berlin Art Week. Mehr noch, in Berlin gibt es nicht nur Platz für sie alle, sondern auch Interesse und Publikum. In Bulgarien hingegen kämpfen die verschiedenen Projekte um die Aufmerksamkeit desselben Publikums, und es ist nicht möglich, dass dem Publikum alles gefällt, oder zumindest wäre so was nicht gesund.
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Viele weitere Ausstellungen und Künstler aus dem Programm der Berlin Art Week verdienen besondere Aufmerksamkeit. Am einprägsamsten sind jedoch diejenige, die sich den Tagesfragen widmen, selbst auf die Gefahr hin, schon erschöpft zu klingen, jedoch aus der Perspektive einer kleinen spezifischen Fallstudie, die durch Dokumente, Interviews, Pitches und das Spiel mit Kontexten und Geschichten in die Tiefe gehen, ohne sie auf die Enge von Parolen und flachen Botschaften zu reduzieren. In dieser Hinsicht ähneln diese Projekte sehr der akademischen Arbeit – sie konzentrieren sich auf ein eigenes Problem als Teil eines bedeutenden Themas und erforschen es gründlich von allen Seiten. Nur ist das Ergebnis kein dickes Buch, sondern ein Bild, das einerseits von der tiefgreifenden Arbeit zeugt, die dahintersteckt, andererseits aber auch emotional und sinnlich wirkt.
Während der Berlin Art Week ist Berlin eine endlose Sammlung von Bildern, die auf den ersten Blick wie ein Stummfilm wirken, in Wirklichkeit aber ist jedes Bild in der Lage, eine Geschichte zu erzählen.
[1] Tatar, М. (2011). Introduction. In: The Artificial Silk Girl. New York: Other Press.
[2] Redewendung „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“.
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Im Juni 2024 wurde Lyuboslava Hristova als Gewinnerin des Wettbewerbs für junge Kunstkritiker ausgewählt, den wir zusammen mit dem Kulturzentrum der Universität Sofia organisiert haben. Dies gab ihr die Möglichkeit, im September die BERLIN ART WEEK zu besuchen, wo sie mit lokalen Kritikern, Kuratoren und Künstlern zusammentraf.