Im Gespräch mit Maria Vassileva
Die zeitgenössische Kunst kämpft gegen den Status Quo
Wir leben in politisch bewegten Zeiten, die uns unter anderem dazu bewegen, uns zu fragen, welche Funktion Kunst in der heutigen Gesellschaft hat. Diese Frage stellt sich auch Maria Vassileva, die sich entschied, zum ersten Mal in Bulgarien "Der Krieg" - eine Reihe von Originalgrafiken des deutschen Künstlers Otto Dix - zusammen mit Werken von Hannah Höch, Günther Uecker, Joseph Beuys, Gerhard Richter und Antoni Rayzhekov zu präsentieren. Wir sprechen mit ihr über die bevorstehende Ausstellung "Kunst und Politik: Auseinandersetzungen und Koexistenz", die in der Structura-Galerie eröffnet wird, sowie über die Rolle der Kunst in sozialen Prozessen.
Von Stefka Tsaneva
Die Ausstellung findet in einer bewegten Zeit statt, in welcher viel über den Zusammenhang zwischen Kunst und Politik debattiert wird. Eigentlich wurde sie schon lange vor den Ereignissen in den letzten Monaten in Bulgarien geplant. Was waren damals die Ausgangspunkte, und wie hat sich der Kontext seitdem verändert?
Ich habe mich immer für die soziale Stellung des Künstlers interessiert. Die Freiheit verteidigen – das ist für mich das Wichtigste, was uns die zeitgenössiche Kunst beibringt. Und dies ist ohne Zweifel die Haupttriebkraft in den demokratischen Prozessen. Die persönliche künstlerische Unantastbarkeit zu bewahren und gleichzeitig Einfluss auf große Menschengruppen auszuüben, ist eine ernsthafte Herausforderung für die Autoren. Der Egozentrismus des Künstlers wird mit den aktuellen globalen Turbulenzen konfrontiert; die Notwendigkeit, sich in den eigenen vier Wänden des Ateliers zu isolieren, wird durch die Erwartungen anderer auf die Probe gestellt. Können die Intellektuellen Führungspersönlichkeiten der Gesellschaft sein? Das ist die Frage, die wir in letzter Zeit oft bei den Protesten gegen die Regierung hören. Sowie Vorwürfe, dass deren Stimme zu leise sei.
Rückblickend auf die historischen Dimensionen der letzten Jahre wird deutlich, dass es viele Beispiele für aktive Bürgerschaft gibt, die ihren Ausdruck in der bildenden Kunst findet, und zwar mit Qualität ohne Kompromisse. Die Ausstellung Art for Change 1995-2015 [1], die ich in der Sofia City Art Gallery kuratiert habe und die sozial engagierte Kunst vorgestellt hat, wurde diesem Thema gewidmet. Diese Kunst ist für mich ein wesentlicher Teil des politischen Wandels und des langen Weges, den wir gehen müssen, um die Traumata der kommunistischen Vergangenheit zu überwinden. Der Aufbau eines völlig neuen Sozialsystems stößt auf enorme Hindernisse. Jede Stimme, die sich für neue und verschiedene Werte einsetzt, ist wichtig in diesem Prozess. Die Künstler haben gezeigt, dass sie sich ihrer Macht bewusst sind und ihre Stellung und Rolle ganz genau verstehen – nämlich „Alarm schlagen“, wenn es um wichtige öffentliche Fragen geht, sowie die Probleme aus überraschenden Blickwinkeln betrachten, um eine neue Deutung zu ermöglichen.
Dieses Jahr ist die politische Situation in Bulgarien wieder instabil. Seit mehreren Monaten wird gegen den Premierminister, die Regierung und den Generalstaatsanwalt protestiert. Den Intellektuellen wird vorgeworfen, sie verteidigen ihre Position nicht klar und offen; sie seien nicht die führende Stimme, die die Gesellschaft hören wolle. Dieser Kontext hat die Bedeutung der Ausstellung stärker geprägt. Ich hoffe, dass dadurch ein Gespräch angeregt wird über die Macht der zeitgenössischen Kunst, den Status quo zu bekämpfen.
Traditionell hat das Deutsche Institut für Auslandsbeziehungen fertig kuratierte Ausstellungen, die weltweit im endgültigen Zustand gezeigt werden. Im Laufe der Jahre wurden viele solche Ausstellungen in Sofia gezeigt, zuletzt waren 2019 die Werke von Rosemarie Trockel in der Struktura Galerie zu sehen. Doch die aktuelle Ausstellung ist ganz besonders, weil Sie in der Ausstellung von Otto Dix auch kuratorisch intervenieren, indem Sie andere Werke der ifa-Sammlung integrieren. Was motiviert Ihre Wahl, und in welcher Beziehung steht Dix' Werk zu dem von Hannah Höch, Günther Uecker, Joseph Beuys und Gerhard Richter?
Mein Motiv war nämlich, dieses Gespräch durch künstlerische Werke des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts der Gegenwart näher zu bringen. Das wird noch deutlicher durch die Einbeziehung von Antoni Rayzhekovs Werk von diesem Jahr, das der Covid-19-Krise gewidmet ist.
Die Grafiken von Otto Dix schildern Szenen vom Ersten Weltkrieg, sowohl von der Frontlinie als auch vom Leben in der Großstadt, die physisch und moralisch bombardiert wurde. Die persönliche Erfahrung entschlüsselt die Art und Weise, wie man die Welt betrachtet. Das Drama, die Angst, der Tod, der Zusammenbruch, die Invalidisierung der Gesellschaft sind im wörtlichen und im übertragenen Sinne die Themen von Dix.
Joseph Beuys war Soldat im Zweiten Weltkrieg. Zunächst als Freiwilliger in der Luftwaffe, später als Mitglied unterschiedlicher Kampfbombereinheiten. Am 16. März 1944 wurde er bei einem Flugzeugabsturz auf der Krim verwundet, in der Nähe von Snamjanka. Der Absturz diente Beuys als Stoff einer Legende, der zufolge ihn Tataren retteten und seinen gebrochenen Körper mit tierischem Fett und Filz gepflegt hätten – diese Stoffe benutzt der Künstler als Hauptmaterial in seinem visuellen Arsenal.
Beuys war davon überzeugt, dass die Kunst das Potenzial hat, revolutionäre Veränderungen zu provozieren. Er entwickelte das Konzept der „sozialen Plastik“ (oder „soziale Skulptur“), laut welcher die ganze Gesellschaft als großes Kunstwerk zu betrachten ist, zu dem jeder Einzelne einen kreativen Beitrag leisten muss. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ ist sein wohl berühmtester Satz. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit war er politisch sehr aktiv als Gründer und Mitbegründer verschiedener politischer Organisationen. Einige seiner Werke sind unverblümt politischen Ereignissen gewidmet.
Die in der Ausstellung gezeigten Objekte berühren auf unterschiedliche Weise diejenigen, die Boyce sein ganzes Leben lang verteidigt hat. „Samurai-Schwert“ ist eine Zusammenstellung aus einer scharfen Stahlklinge und einem Stück weichen Filz. In dieser Verschmelzung steckt Beuys’ Eurasia-Gedanke – seine Vorstellung einer Verbindung zwischen der europäischen und der asiatischen Gesellschaft, in der das rationalistische und materialistische Denken Europas in der intuitiven und geistig geprägten Lebensweise Asiens aufgehoben werden soll.
In „Entreprise“, einer Zinkkiste mit Deckel, Fotoapparat und Fotografie, nimmt er Bezug auf ein früheres Werk von 1966 – die sogenannte Performance „Filz-TV“, wo er einen laufenden Fernseher mit einer Filzscheibe verdeckte und mit Boxhandschuhen auf sich selbst mehrmals einschlug. Im Multiple in der Struktura Galerie ist das im zugehörigen Deckel der Kiste befestigte Foto von Familie Beuys zu sehen, die eine Folge von „Raumschiff Enterprise“ anschaut. Das Werk stellt die Faszination des Künstlers sowohl für die Raumfahrt als auch für das Fernsehen als Vermittler von Ideen dar. Der Fotoapparat in der Zinkkiste hat eine Linse, die mit Filz bedeckt ist – dadurch wird die Verbindung zur Performance „Filz-TV“ hergestellt.
Für „…mit Braunkreuz“, 1966, benutzt er den von ihm „patentierten“ Ausdruck Braunkreuz (zuweilen „Beuys-Braun“ genannt), worüber er sagt, dass es sowohl Farbe als auch Materie ist. Es bezieht sich sowohl auf die Nazis (braun war die Farbe der Nazis, und heute ist die Rede auch von „brauner Vergangenheit“) als auch auf das rote Kreuz. Zusammen mit dem tierischen Fett und dem Filz wird es zu einem autobiografischen Medium geworden, welches auf besondere Weise das gesamte Werk des Künstlers trassiert.
Hannah Höch ist vielleicht am wenigstens bekannt bei uns. Ihr Werk und Leben sind von großem Interesse für mich, wegen ihres ständigen Verlangens nach Widerstand und der äußerst ruhigen, aber tiefgründigen und unerschütterlichen Weise, auf die sie es tut. Sie ist bekannt für ihre Fotomontagen und gehörte zur Dada-Bewegung (Otto Dix ließ sich eine Zeit lang auch von Dada beeinflussen und machte Collagen). Sie interessiert sich für die neue Frau, die professionell, energisch und androgyn ist. In ihren Werken verteidigt sie ihr Recht, die Rolle des Mannes in der Gesellschaft zu übernehmen. Diese Auffassung und ihr Interesse am politischen Diskurs im Allgemeinen ist der Grund für ihre Aufnahme in diese Ausstellung. 1932, in der Zeit des Nationalsozialismus, wird Höchs Ausstellung im Bauhaus verboten, weil die Nazis sowohl die Ästhetik der Werke als auch ihre Botschaften nicht mögen – die asexuellen Individuen in ihren Werken waren weit von deren Geschmack entfernt. Generell wurden die unklaren Linien in ihren Bildern und die verschleierten und vagen Botschaften nicht unterstützt.
Günther Uecker war Mitglied der Künstlergruppe Zero, die für einen neuen Anfang und eine neue Kunstform kämpfte – a degree zero („eine Stunde Null“), die die destruktiven Kräfte, die der Weltkrieg der Menschheit brachte, zu zerstören versuchte. Er verbindet diese mit seinem Interesse für meditative Praktiken, östliche Philosophie und Reinigungsritualen. Als solches Ritual kann man die wiederholte Verwendung von Nägeln wahrnehmen, das Erkennungszeichen Ueckers. Das hängt mit seiner Kindheit zusammen, als man im Zweiten Weltkrieg die Fenster mit Brettern vernagelte, um sich zu Hause zu verbarrikadieren. Der Künstler verwendet sehr einfache Materialien – monochrome Farbe, Asche, Sand, Stein, Glas, Stoff, um ein poetisches Bild zu schaffen, das dem Verfall entgegenwirkt. Er selbst sagt, dass seine Werke eine spirituelle Realität sind, eine Lichtzone. „Weiße Tränen“ ist seine persönliche Reaktion auf die Gewalt unter Menschen.
„Onkel Rudi“ von Gerhard Richter ist eine starke psychologische Figur, die viel über die Vergangenheit und die Gegenwart, über private und allgemeine Traumata erzählt. Der Mann auf dem Bild ist der Onkel des Künstlers, und er wurde kurz darauf getötet. Auch wenn es als Porträt präsentiert wird, erfüllt das Bild nicht dessen Grundvoraussetzung, weil es unscharf ist. Richter spricht sowohl vom Verschwinden als auch von der Unklarheit, mit der viele Tatsachen der Geschichte verhüllt sind. Rudi war ein Nazi, aber auch ein gefallener Soldat und ein enger Verwandter. Wie kann man Schuld und Liebe trennen? Dieses kleine Werk beinhaltet die gesamte Nachkriegs-Debatte über das Drama des Nationalsozialismus.
Alle diese Werke sind nicht nur in Bezug auf Themen, Techniken und Ansätze sehr unterschiedlich sondern wurden auch von verschiedenen Künstlergenerationen geschaffen und stellen dementsprechend sehr unterschiedliche Perioden des europäischen 20. Jahrhunderts vor – die Weimarer Republik, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und mit Antoni Rayzhekovs Werk haben wir eine zeitgenössische Perspektive in Zeiten der Pandemie. Mit anderen Worten, die Ausstellung umfasst einen Zeitraum von genau 100 Jahren. Was hat sich in diesen 100 Jahren verändert, was ist dasselbe geblieben hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Kunst und Politik und Künstler und deren Rolle in dem großen gesellschaftlichen Wandel?
Heute haben die Künstler sicherlich mehr Freiheit. Das erlaubt ihnen, laut über alle Angelegenheiten, die sie betreffen und interessieren, zu sprechen. In der modernen Kunstgeschichte gibt es viele Beispiele dafür. Für mich steht jedoch die Frage, wie das Publikum erreicht wird. Wo sind die Vermittler – Galerien, Museen, Kritiker, Kuratoren, Journalisten, Medien? Sogar eine solche Ausstellung sollte von einem Museum organisiert werden, um sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Aber das geschieht nicht, oder wenn es doch geschieht, wird die Intepretationsweise – etwas feinfühliger gesagt – traditionell sein. Dasselbe gilt für die Bildung, zumindest was die Lage in unserem Land betrifft. Wird den Künstlern suggeriert, dass sie eine Meinung haben müssen oder eher, dass es einfach genügt, gewisse Fähigkeiten zu besitzen? Ich befürchte, es geschieht das Letztere.
In der Ausstellung gibt es bulgarische Präsenz – Antoni Rayzhekov. Wie ist das passiert, und wie passt sein Werk in den historischen Kontext der Ausstellung? Wenn die Rede von Kunst und Politik ist – was haben Bulgarien und Deutschland gemeinsam, und was ist anders? Und wenn wir von der Kunst als Mittel zum Umdenken der Geschichte reden?
Rayzhekovs Werk ist der Covid-19-Situation gewidmet, genauer gesagt der Empfindlichkeit des Menschen als Reaktion auf Leitung, Manipulation und Einschub in Begrenzungsmechanismen. Deswegen denke ich, dass sein Werk äußerst politisch ist und wichtige Fragen aufwirft, genauso wie die anderen Werke in der Ausstellung.
Geschichtlich gesehen haben Bulgarien und Deutschland enorme Erschütterungen durchlebt – Kriege, Nationalsozialismus, Kommunismus, Teilung des Staates. Die vererbten Traumata sind natürlich anders. Ich habe jedoch den Eindruck, dass die Künstler in Deutschland während des Dritten Reiches viel stärkeren Verfolgungen und Einschränkungen ausgesetzt waren als zum Beispiel die bulgarischen Künstler während des Sozialismus. Vielleicht sind die deutschen Künstler deswegen widerstandsfähig und standhaft bei der Verteidigung von Meinungen. Andererseits ist sich die Bundesrepublik heute der Macht der Kunst offensichtlich um ein Vielfaches bewusster. Unabhängig davon, ob sie mit den Künstlern aus Respekt oder Angst flirtet, sie unterstütz und respektiert sie. Bei uns existiert so etwas nicht, oder es schleicht sich erst jetzt ein. Das führt wiederum zur Marginalisierung der Künstler und zur traurigen Tatsache, dass die Gesellschaft generell kein Interesse an ihnen hat. Und genau das verhindert, dass ihre Stimme gehört wird.
Sehr oft beziehen sich die Künstler in ihren Werken auf die Geschichte. Brücken schlagen zwischen Epochen und Stilen ist ein natürlicher Prozess für sie. Ihr scharfer Blick trifft manchmal empfindliche Zonen, die unter der dicken Staubschicht der Zeit verstummt sind. Diese Fähigkeit muss geschätzt, respektiert und begehrt werden.
[1] Das Heft zur Ausstellung finden Sie unter: https://www.academia.edu/17606249/Art_for_Change_1985_2015