Die Idee der Normalität wird mit einer Kultur der Beschleunigung assoziiert, der dominierenden Existenzweise seit der Moderne, in der Schnelligkeit, Produktivität, Stärke, Erfolg, Neuheit, Dynamik und Jugend hochgeschätzt werden. Unsere Zivilisation scheint sich vor ihrem Schatten zu fürchten – dem Schatten des Alters (in all seinen verschiedenen Bedeutungen). Alter – die allgemein gültigste und sicherste Erscheinung der Welt wird eigentlich am meisten ignoriert, geleugnet und vertuscht. Das Bestreben, Alter zu kompensieren, dient als starke Triebkraft unserer Sehnsüchte und ganzer Industrien. Alle, die in die „gesunde“ und dynamische Existenzweise nicht hineinpassen, gelten als nicht funktionsfähig. Das Leitbild von Schnelligkeit und Erfolg hat eine solche Intensität erreicht, die nicht nur der Umwelt, sondern auch dem Menschen und dem sozialen Gewebe zu schaden beginnt. Daher ist es erstaunlich metaphorisch, dass die Coronapandemie vor allem ältere Menschen betroffen hat, die heute so zahlreich wie noch nie sind. Unter den aktuellen Bedingungen einer globalen Gesundheits-, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltkrise, die das „normale“ Leben pausiert hat, haben wir die Chance, unsere Werte und Prioritäten zu überdenken. In Zeiten aufgezwungener Untätigkeit und auf die Bahnen von Heimat und Seele beschränkter Bewegung, können wir uns vielleicht neu sehen und hören.
Im Kontext der „verflüssigten Moderne“ (Zygmunt Bauman), wo alles relativ und situationsgebunden ist – und dauernd als temporären Konsens neu verhandelt wird – sind Performativität und Sichtbarkeit „das Maß aller Dinge“. Im Zeichen des Strebens nach der nächsten schwebenden Neuheit entsteht das Bedürfnis nach stabilen, bedingungslosen Werten, die auf den Fundamenten des Menschlichen basieren.
Kultur und Kunst sind die Sphären, die alternative Denk- und Handlungsweisen, sowie unterschiedliche Formen der Zeiterfahrung anbieten können, um neue Bedeutungsorte zu beleuchten.
Das Programm „Tanz und Alter“ betrachtet Alter als Zeitfluss und Symbol der Normalität im Gegensatz zu seiner üblichen Wahrnehmung als Behinderung, Stillstand, Verfall, Hilflosigkeit, Krankheit, Makel, die im Namen der Schönheit, Jugend und Perfektion überwunden werden müssen.
Durch eine Auswahl an Aufführungen, Filmvorführungen, Gesprächen mit Choreografen und Vorträgen von Forschern werden wir versuchen, alle möglichen Zusammenhänge zwischen Zeit, Alter und Tanz zu untersuchen: das Vergehen der Zeit und ihr Einfluss auf das Leben und die Körper der Tänzer*innen; die Zeitlinie und die Begriffe der Geschichte und Vergangenheit (persönliche Geschichte, Geschichte des Tanzes); die Wahrnehmung von Zeit, Alter und Tanz in verschiedenen Kulturen; Alter als (Ziel)Feld für kritische Reflexion der Zwänge der Gegenwart – eine der großen (politischen) Rollen des zeitgenössischen Tanzes.
Tanz heißt nicht nur Bewegung, Schönheit und Virtuosität, schon lange nicht mehr. Er ist eine Raumzeit von Erfahrung, Risiko, Freiheit, Wissen, Authentizität, Präsenz, Erinnerung, Erbe, Nostalgie, Natürlichkeit, Wandel, Unvollkommenheit, Verletzlichkeit, Schwäche, Extrem, Schmerz, Leiden, Sturz, Starre, Untätigkeit usw. – alles, was uns Menschen macht (und keine Verbraucher oder Hersteller). Darin sind sich Tanz und Alter sehr ähnlich.