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Theaterkritik
In der Welt von Viripaevs emotionalen Athleten

Viripaev 2023
© Toplocentrala

Über Ivan Viripaevs Inszenierung von Unerträglich lange Umarmungen, unter der Regie von Chris Scharkov im Toplocentrala.

Von Elena Angelova

Die Theaterstücke von Ivan Viripayev (Archäologie des Träumens (Träume), Sauerstoff, Der Delhi-Tanz, Valentinstag, Genesis 2, Die Betrunkenen, Illusionen) sind in Bulgarien sehr wohl bekannt. Einige Inszenierungen seiner Stücke waren bedeutende Theaterereignisse und und haben die Arbeit ihrer Regisseure (Galin Stoev, Yavor Gardev, Mladen Alexiev) geprägt. Sie haben eines gemeinsam: sie sind sowohl poetische als auch rationale Einsichten in die Komplexität menschlicher Beziehungen und Triebe, ein Einblick in die Widersprüche der zeitgenössischen Seele und ihrer Offenbarung; eine Geschichte des ewigen Tanzes, des Fallens und Wandels zwischen Euphorie und Leid, Verbundensein und Verlust, Einschränkung und Befreiung.

"Unerträglich lange Umarmungen" wurde 2014 geschrieben. Der Text wurde vom Deutschen Theater Berlin in Auftrag gegeben und dort fand 2015 auch die Uraufführung des Stücks unter der Regie von Andrea Moses statt. Ivan Viripaev meinte, dass es in dieser Inszenierung weder den Schauspielern noch dem Regisseur gelungen sei, den Geist des Stücks widerzugeben und inszenierte das Stück im Theater Powszechny in Warschau, Polen, selbst. Danach folgte eine ganze Reihe von Interpretationen durch Regisseure in Slowenien, Frankreich und anderen Ländern. Das Werk selbst ist komplex, aufgebaut entschprechend der Geisteszustände der vier Protagonisten, die am Rande der (Selbst-)Zerstörung stehen und am Ende ihrer emotionalen und psychischen Kräfte sind. Die scharfen, schlagkräftigen Dialoge sind in eine provokante, fragmentarische Struktur eingebettet. Sie spiegelt das Innenleben der Figuren, die mit einem  kleinen blauen Punkt kommunizieren. Dieser Punkt erscheint immer dann, wenn sie an die Grenze ihrer Kräfte gelangt sind. Er behauptet, die Stimme des Universums zu sein, doch die Ratschläge, die er gibt, sind beunruhigend, überraschend und führen zu immer stärkeren und verwirrenden Erkenntnissen und zu einer Katharsis. Im ununterbrochenen Streben der Figuren danach, sich lebendig und verbunden zu fühlen, in der Überwindung ihrer eigenen Grenzen und der Grenzen der anderen, erweisen sie sich als entscheidend für ihre Rettung.

Die erste Inszenierung von Unerträglich lange Umarmungen in Bulgarien ist auch die erste Begegnung des Regisseurs Chris Scharkov mit der Dramaturgie von Viripaev. Der Autor ist bekannt für seine Erkundungen der existenziellen Bedeutung menschlicher Erfahrungen, oft über Themen wie Liebe, Verlust und die Suche nach Verbundenheit in einer unsicheren modernen Welt. Dafür interessiert sich in seiner Arbeit auch der Regisseur Chris Scharkov. Seine Inszenierungen befassen sich mit denselben Themen. Sie betreten mit tiefem psychologischem Geschick und Einfühlungsvermögen ein komplexes emotionales Terrain. Scharkov ist bekannt für seinen erfinderischen und kreativen Umgang mit dem Bühnenraum, der durch das kraftvolle Potenzial der Schauspieler aufgeladen wird. Seine Theatersprache stützt sich oft auf eine sehr ausdrucksstarke psychologische Intensität, um die widersprüchlichen Gefühlszustände der Figuren zu vermitteln, die er dann zu einem Gesamterlebnis orchestriert. Durch seine Textauswahl seziert er mit Entschlossenheit die Realität, in der wir leben (Serotonin von Houellebecq; Pieces of a Woman von Kata Weber). Unerträglich lange Umarmungen macht dabei keine Ausnahme - es bringt das gleiche Maß an psychologischer Reflexion und tiefer Perspektive in die Darbietungen der Schauspieler ein und erschafft auf dieser Art und Weise eine intensive physische und emotionale Umgebung, die die Wirkung des Stücks verstärkt.

In Unerträglich lange Umarmungen besteht die Herausforderung in der fragmentierten und nicht-linearen Erzählung, die durch die Komplexität des "Verfremdungseffekts" des Stücks noch verstärkt wird - Monologe und Dialoge werden gleichzeitig in der ersten und dritten Person geführt. Dadurch distanziert sich der Schauspieler von seiner Rolle und schlüpft in die Rolle eines Erzählers, der schnell zwischen den psychologischen Einstellungen wechselt - in einem Moment erzählt er über die Handlungen seiner Figur, im nächsten spricht er in deren Namen. Diese komplexe Situation wird von den Schauspielern mit einer seltenen Konzentration und Hingabe ausgefüllt. Sie schaffen es, die Gefahr von Missverständnissen in diesem nicht nur von der Bedeutung, sondern auch von der Form her schwierigen Text zu überwinden; sie sind mit einem genau bemessenen Maß an Distanz und Anteilnahme an den Reaktionen ihrer Figuren beteiligt. Ihr Spiel ist elegant in der Geschwindigkeit der Übergänge und mathematisch präzise in der intensiven Konzentration, Fokussierung und Artikulation. Ihre Fähigkeit, genau die richtige Menge an Energie einzusetzen und die präzise Qualität ihres Schauspiels zu halten erreicht eine beinah virtuose Meisterhöhe. Die kraftvolle Wirkung ihres Spiels wird durch die kammerartige Kulisse der Halle 2 im Toplocentrala noch verstärkt. Dort wird die Distanz zwischen Schauspieler und Zuschauer überwunden. Sie wird verkürzt und dafür genutzt, die kinematographische Präzision des Schauspiels genau zu verfolgen.

Vom ersten Moment an wird das Publikum in eine Welt von rohen Emotionen und von Verletzlichkeit hineingezogen. Die Schauspieler stellen komplexe und nuancierte Zustände dar, in denen jeder mit seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Grenzen kämpft und versucht, in einer Welt von Angst, rasanter Dynamik und Unversöhnlichkeit einen Sinn und ein Gefühl der Verbundenheit zu entdecken. In das komplexe Zusammenspiel zwischen Gegenwart und Vergangenheit, in die Versuche, die Bedeutung des Gelebten/Unbewussten zu artikulieren, tritt der Dialog ein - ehrlich und verzehrend, offen und schroff, überschreitet er die Grenzen zwischen poetischer Sinnlichkeit und tiefgründiger analytischer Untersuchung und versucht, gleichzeitig zu erleben und zu erklären, in einem Modus totaler Authentizität.

Die vier Schauspieler in Unerträgliche lange Umarmungen - Dimitar Nikolov, Martin Dimitrov, Veselina Konakchyska und Maria Sotirova – bieten ein starkes und markantes Spiel, die ihren Figuren Tiefe und Komplexität verleihen.

Dimitar Nikolov (Charlie) hat eine starke Präsenz durch die fesselnde Intensität seiner Rolle. Sein Spiel ist nuanciert und subtil, so dass das Publikum die Komplexität von Charlies Gefühlen und die Herausforderungen in seiner Beziehung zu Monica nachvollziehen kann. Er verleiht seiner Figur Verletzlichkeit und Ehrlichkeit und macht sie dadurch verständlich und nachvollziehbar.


Martin Dimitrov (Kristoff) verleiht seiner Rolle Selbstvertrauen und ausgeglichene Energie. Er fängt das Charisma seiner Figur auf, zeigt aber auch ihre Schwächen und Unsicherheiten. Dimitrovs Darstellung ist voller fließender Dynamik und Vielschichtigkeit, er zeigt die Komplexität und die inneren Kämpfe von Kristoff, während er mit seinen Gefühlen für Emmy, seinen inneren Zweifeln und seiner Suche nach einem höheren Sinn kämpft.

Veselina Konakchijska (Emmy) spielt ihre Rolle mit einer fesselnden und magnetischen Energie. Sie verleiht ihrer Figur Tiefe und Komplexität, indem sie den Schmerz und die Verletzlichkeit hinter Emmys scheinbar sorglosem Äußeren offenbart. Ihre Darbietung ist sowohl einnehmend als auch voller emotionaler Resonanz und fesselt das Publikum während der ganzen Aufführung.

Maria Sotirova, die Monica spielt, hat ebenfalls eine starke emotionale Präsenz auf der Bühne. Ihre Darstellung ist von Direktheit und Mut geprägt, sie ist echt und authentisch und vermittelt Monicas Schmerz und Verwirrung, während sie dafür kämpft, sich in ihrer Beziehung zu Charlie zurechtzufinden. Sotirovas Darstellung ist nuanciert und stark, sie fesselt das Publikum und verleiht dem Stück emotionale Tiefe.

Neben der Stärke ihrer individuellen Darbietungen spielen die vier Schauspieler mit Hingabe auch als Ensemble und bauen allmählich ein konzentriertes Gefühl für Viripaevs surreale und emotionsgeladene Welt auf. Sie sind die emotionalen Athleten schlechthin - nicht nur aufgrund der zahlreichen Wendungen ihrer Figuren, sondern auch aufgrund der Definition des Schauspielers als emotionaler Athlet.

Zusammenfassend ist das Zusammenspiel zwischen Ivan Viripaevs Dramaturgie und Chris Scharkovs Regie mehr als erfolgreich. Beide teilen ein gemeinsames Engagement, die existenzielle Bedeutung der Widersprüche der menschlichen Erfahrung mit analytischer Kompetenz, Sensibilität und emotionaler Ehrlichkeit zu erforschen. Als kraftvolles und bewegendes Stück und Inszenierung bietet Unerträglich lange Umarmungen dem Publikum nicht nur eine zum Nachdenken anregende und emotionale Erfahrung, es ist auch ein seltenes Beispiel dafür, wie die Arbeit des Regisseurs in die Aufführung und in die Motivation der Schauspieler aufgeht und eine Bedeutung jenseits der Worte vermittelt.



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Elena Angelova ist Doktorin der Theaterwissenschaften und Assistenzprofessorin an der Nationalen Akademie für Theater- und Filmkunst. Sie ist Theater- und Tanzkritikerin und Dramaturgin.

Unerträglich lange Umarmungen

von Ivan Viripaev
Regie: Chris Scharkov
Übersetzung: Neva Mitscheva
Bühnenbild/Kostümdesign: Ognyana Serafimova
Musik: Emilian Gatsov - Elbi
Multimedia: Ralitsa Georgieva
Schauspieler: Dimitar Nikolov, Maria Sotirova, Martin Dimitrov, Veselina Konakchijska

Eine Produktion von Exod Art & Regionalzentrum für Bühnenkunst Toplocentrala

Die Veröffentlichung wird durch das Goethe-Institut Bulgarien unterstützt.
 

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