Theaterkritik
In der makabren Welt von „Dunkelblau“
Elena Angelova über das choreografische Debüt von Kalina Georgieva für das Theater „Atom“.
Von Elena Angelova
„Dunkelblau" ist eine düstere und körperlich intensive Tanzaufführung, die die komplexe Beziehung zwischen Verlangen und Scham im weiblichen Körper erforscht. Das ist das choreografische Debüt von Kalina Georgieva, Tanzkünstlerin mit langjähriger Praxis am Theater „Atom“, die oft in den Vorführungen ihrer Schwester, der Choreografin Stefania Georgieva, teilgenommen hat. In „Dunkelblau“, Teil des Programms des Sofioter Zentrums für zeitgenössische Kunst „Toplozentrala“, sehen wir sie nicht nur in der neuen Rolle als Autorin des Konzepts, sondern auch als Darstellerin auf der Bühne, neben Dorina Puncheva und Eleonora Miteva. Sie meistert die Kombination dieser beiden schwierigen artistischen Aufgaben überzeugend und schafft souverän eine intensive visuelle Reise für die Sinne des Zuschauers, mit den Ausdrucksmitteln eines hoch aufgeladenen, körperlich ausdrucksstarken und von bizarren Präsenzen und Zuständen erfüllten Tanzes, der sowohl durch seine makaberen Bildhaftigkeit verstört, als auch ergreift und besticht.
In „Dunkelblau“ verkörpern die drei Tänzerinnen mächtige und facettenreiche Wesen. Sie bewegen sich gleitend und kraftvoll, selbstbewusst und geheimnisvoll, durch die Kurven des Körpers dem Maximum der Ausdrucksmöglichkeit folgend; bis zu dem Punkt, an dem es scheint, als wäre die menschliche Anatomie überwunden worden. Durch die Logik ihrer Bewegungen scheinen die verkörperten Wesen zu versuchen, ihrer eigenen Haut entfliehen zu wollen, um so die ihnen auferlegten gesellschaftlichen Erwartungen und Einschränkungen abzuschütteln. Inspiriert von der Bildsprache der Werke von Hieronymus Bosch und Gustave Dore, erschaffen die Darstellerinnen auf der Bühne eine allübergreifende Leitfigur, die aus den Tiefen des Unterbewusstseins hervorkriecht und in ihrer körperlichen Form dunkle Widersprüche und untergründige, erschreckende Zustände in sich vereint. Die Wesen versuchen, das Außermenschliche, das Gefährliche und das Dämonische in einem halb sichtbaren, halb verborgenen Tanz auszudrücken; in einem über realistischen Zustand, der eine mythische Projektion höllischer Bildhaftigkeit darstellt.
Die Choreografie von Kalina Georgieva ist technisch komplex und mit spezifischen psychophysischen Zuständen nuanciert. Das auffälligste Unterscheidungsmerkmal des Stücks ist das Streben der Choreografie eine visuelle Abbildung darzustellen - wie eine bewegte Körperlandschaft, eine durch drei in Bewegung stehende Körper geschaffene Skulptur. Die Arbeit mit Dynamik und Musik wurde mit Sorgfalt und Engagement im Hinblick auf fließende Übergänge und gleitende Veränderungen durchgeführt. Es gibt Momente frenetischer Energie, in denen die Tänzerinnen mit einer unsichtbaren Macht zu kämpfen scheinen. An anderen Stellen trifft die Choreografie eher introspektive Entscheidungen, bei denen sich die Tänzerinnen langsam und bewusst bewegen, so als würden sie die inneren Tiefen ihres eigenen Geistes und Körpers erkunden wollen.
Eine anderes bezeichnendes Merkmal von „Dunkelblau“ ist die Art und Weise, wie die Choreografie von Kalina Georgieva die traditionelle Wahrnehmung von Frauen und den weiblichen Körper, durch zeitgenössische darstellende Kunst, infrage stellt. In ihrer Interpretation geht es nicht um schöne Veranschaulichung, sondern um die Verkörperung einer neuen Mythologie, die zugleich Stärke verleihend als auch erschreckend ist. In der Dramaturgie der Aufführung findet man die Gestalten von Moiren und Harpyien, die traditionell als monströs und böswillig dargestellt werden, neu erfunden wieder. Hier werden sie als mächtige und vielschichtige Wesen neu interpretiert, als Metapher für die Kraft der weiblichen Energie und die Macht des inneren Konflikts zwischen den verschiedenen Impulsen des Unterbewusstseins.
In dieser düsteren und verzerrten Welt der Moiren trifft Kalina Georgieva mit ihrer Choreografie die Entscheidung, eher die Ausdruckskraft der Deformation, des Grotesken, ja des Hässlichen als Chance zur Schaffung einer Tanzsprache zu nutzen. Die Bewegungen der Tänzerinnen zeichnen sich durch ein Gefühl anmutiger Monstrosität und den Einsatz purer, entschiedener körperlicher Stärke aus. Neugier weckt das Thema der Hässlichkeit als Ausgangspunkt choreografischen Interesses und Provokation. Man stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt Hässlichkeit als Eigenschaft in der Bewegung? Philosophisch gesehen ist Hässlichkeit nämlich nicht einfach das Fehlen von Schönheit, sondern vielmehr eine Qualität, die unsere vorgefassten Vorstellungen darüber, was ästhetisch ansprechend ist, infrage stellt; Schönheit ist subjektiv und unsere Wahrnehmung davon wird durch den kulturellen und gesellschaftlichen Kontext geprägt.
Aber im Kontext von „Dunkelblau“ stellt die Verformung des Schönen durch die Bewegungen (oder die Hässlichkeit) nicht nur eine Frage der Ästhetik dar, sondern ist vielmehr eine Widerspiegelung innerer Unruhe und Konflikte, die von den Tänzerinnen als körperlicher Zustand vermittelt wird. Diese kämpfen mit den dämonischen Trieben des Unterbewusstseins und des Schams, und ihre Bewegungen spiegeln diese Impulse wider.
Auf diese Weise erhebt sich „Dunkelblau“ von der einfachen Verkettung komplexer technischer, choreografischer Elemente, zu einem Werk mit eigenem philosophischen Standpunkt und gesellschaftlicher Kritik. Die Aufführung fordert uns heraus, unsere Vorurteile über Schönheit und Stärke zu überdenken, insbesondere wenn es um den weiblichen Körper in der zeitgenössischen darstellenden Kunst geht.
Letzteres wird durch die unbestreitbare, starke und kraftvolle Körperlichkeit der Tänzerinnen unterstützt. Sie bewegen sich mit einem Gefühl von Anmut und Kontrolle, selbst wenn sie ihren Körper in scheinbar unmögliche Positionen verbiegen. Ihre Extremität wird durch die Beleuchtung und das Kostümdesign verstärkt, die den Gesamteindruck von Dunkelheit und drohender Gefahr vermitteln. Die Tänzerinnen sind in gedämpftes Licht gehüllt, das ihnen eine geheimnisvolle, jenseitige Aura verleiht. Ihre Kostüme bestehen aus auf dem Körper „gegossene“ Trikots, verziert mit Details, die sich bei jeder ihrer Bewegungen schwingen. Diese spürbare Körperlichkeit, die auf allen Ebenen präsent ist – vom visuellen Teil bis zur Tanzsprache der Aufführung – soll daran erinnern, dass der Körper sowohl eine Kraftquelle als auch ein Feld innerer Kämpfe, ein Schnittpunkt intensiver innerer Konflikte ist.
Zweifellos ist „Dunkelblau“ ein gelungenes choreografisches Debüt von Kalina Georgieva und präsentiert auf die zeitgenössische Tanzszene in unserem Land ihre originelle Sichtweise da. Hoffen wir, dass sie in ein nächstes Projekt ihre künstlerische Sprache weiterentwickeln kann.
▬ ▬ ▬
Elena Angelova ist Doktorin phil. der Theaterwissenschaft und Assistenz-Professorin an der Nationalen Akademie für Theater- und Filmkunst „Krastyo Sarafov“. Sie ist auch als Theater- und Tanzkritikerin und Dramaturgin tätig.
„DUNKELBLAU“
Choreografin: Kalina Georgieva
Tanz: Dorina Puncheva, Eleonora Miteva, Kalina Georgieva
Musik: Dobromir Kisiov
Dramaturgie: Yasen Vassilev
Kostüme: Gergana Dimova und Maria Popova – | LENÉCRA |
Video: Vivian Parvanova
Fotografen: Ivan-Aleksander Ivanov und Roslana Damiyanova
Produzent: Theater ATOM
Die Veröffentlichung erfolgt mit Unterstützung des Goethe-Instituts Bulgarien.