Dritte Ausgabe des Festivals für neue Dramaturgie New Stages Southeast organisiert von Goethe-Institut Bulgarien
DRAMA UND DRAMATURGIE DES POLITISCHEN
Von Kamelia Nikolova
In Sofia fand zuletzt eines der interessantesten internationalen Foren der vergangenen Jahre statt – das Festival für neue Dramaturgie, Teil des Regionalprojets New Stages Southeast wurde zum dritten Mal in Folge durch das Goethe Institut initiiert und organisiert. Die aktuelle Ausgabe trug den Titel "Drama und Politik" und ereignete sich von 12. bis 18. Juni.
Und die Wahl des diesjährigen Themas könnte nicht passender sein. Sie war ein Volltreffer! Den einerseits werfen turbulente Zeiten wie die heutigen, die durch Krieg in Europa, den weltweiten humanitären Notstände und Naturkatastrophen, die langandauernde politische Krise in Bulgarien gekennzeichnet sind, ganz natürlich Fragen nach der Struktur und Funktionsweise des sozialen Mechanismus auf, Fragen über die Geschehnisse um uns herum, sowie die Reflexionen des Theaters über diese Gegebenheiten. Andererseits aktualisiert die Fokussierung auf das Thema "Drama und Politik" sofort auf ein oft kommentiertes Merkmal der modernen bulgarischen Szene und des dramatischen Schreibens – die Ablehnung des Politischen, die seltene Präsenz des politischen Theaters auf die Bühnen unseres Landes. Und so vereint der vom Organisationsteam (Marina Ludemann - Leiterin des Goethe-Instituts Bulgarien und der Abteilung "Programmarbeit" und Miroslav Hristov -Programmsachbearbeiter "Darstellende und bildende Künste") ausgewählte Titel schlagartig diese zwei Kernfelder und richtet den Blick auf sie.
Auch das unter dem kommentierten Motto zusammengestellte Programm des Festivals war (in diesem Jahr) sehr stark. Es bestand aus drei Hauptmodulen und einer, wie ich es nennen würde, Einführungsveranstaltung.
Die Einführungsveranstaltung bildete der Film „Das neue Evangelium“ von Milo Rau (geb. 1977), der bei seiner Veröffentlichung im Jahr 2020 für große Resonanz in Theater- und Filmkreisen sorgte. Internationalen Ruhm erlangte der Schweizer Theaterregisseur, Autor und Journalist im Jahr 2015, mit der Aufführung “Hate Radio“, was eine besondere Form des dokumentarischen Theaters, das Reenactment, darstellte. Geschaffen wurde dieses Theaterstück von seiner im Jahre 2007 in Berlin/Zürich gegründeten Produktionsgesellschaft, und behandelt auf sehr kritischen Art und Weise die Fragen des Medieneinflusses bei der Meinungsbildung und die Umsetzung zielgerichteter politischer Praktiken. In den folgenden Jahren etablierte sich Milo Rau als symbolträchtiger Vertreter des politischen Theaters und war von 2018 bis 2023 künstlerischer Leiter des belgischen Theaters NTGent. Anschließend übernahm er die künstlerische Leitung des berühmten spartenübergreifendes Kunstfestivals Wiener Festwochen.
Die Eröffnung von New Stages Southeast mit seinem viel kommentierten Film („Das neue Evangelium“ ) der das elende Leben einer ausgebeuteten Gruppe von Flüchtlingen in der italienischen Stadt Matera vorzeigt, wo auch andere weltberühmte Filmproduktionen über Jesus gedreht wurden, ermöglichte einen erfreulichen Auftakt des Festivals und die erwünschte Einleitung in die Debatte um das Thema über die Dramaturgie in den politischen Praktiken und das Politische im Drama.
Der unbestrittene Höhepunkt des Festivalprogramms war in diesem Jahr das Diskussionsmodul. Es umfasste vier thematische Diskussionen: „Dramaturgie des Protests“ (14. Juni), "Repertoire - ein Spiegelbild der politischen Dramen" (17. Juni), "Dramaturgie des Politischen" (17. Juni) und "Horizonte für das bulgarische Drama (17. Juni). Diese Diskussionen wurden von Journalisten und Theoretikern aus dem Bereich Kunst und Kultur moderiert, wie beispielsweise Georgi Angelov, Denitsa Ezekieva, Nadezhda Moskovska und Anelia Yaneva und fanden unter Beteiligung von Regisseuren, Theaterwissenschaftlern und Kulturexperten statt. Aus verschiedenen Ländern und aus unterschiedlichen Richtungen suchten und kommentierten die Diskussionsteilnehmer und die Anwesenden im fast immer vollen Saal des Goethe-Instituts mithilfe von Metaphern und Assoziationen des Dramatischen und Theatralischen die Schnittstellen zwischen Politik und Theater und kamen dabei zu interessanten und provokanten Analysen des politischen Lebens in Bulgarien der letzten Jahrzehnte. Sie versuchten auch die historischen und aktuellen Gründe sowohl für die Flucht der heutigen Bühne und des Dramas weg vom Politischen, als auch für die seltenen, aber lebendigen und produktiven Begegnungen zwischen diesen, zu finden und zu erklären. Besonders hervortrat in dieser Hinsicht die Diskussion "Dramaturgie des Politischen" mit Moderatorin Nadezhda Moskovka und den Teilnehmern Yavor Siderov, Yavor Gurdev und Maria Spirova, deren einleitende Bemerkungen eine lange und intensive Debatte mit dem Publikum auslösten. Und in der Diskussion unter der Leitung von Denitsa Ezekieva und mit Teilnаhme von Prof. Nikolay Yordanov, Dr. Petar Denchev und Assoc. Prof. Zhana Popova, versuchte man, den wichtigen Zusammenhang zwischen dem politischen Kontext und der Repertoireauswahl der Theater zu finden oder zu erklären wieso das Theaterleben in einigen Fernsehsendungen und -formate mit einem stark reduzierten, Unterhaltungsbild dargestellt wird.
Das andere Hauptmodul, die Präsentation neuer europäischer Theaterstücke, wurde dieses Jahr ebenfalls in Zusammenarbeit mit der Theaterorganisation „36 Monkeys“ im Rahmen der 12. Ausgabe der neuen Dramaturgie Pattform ProText durchgeführt. Es enthielt drei neue Theatertexte etablierter osteuropäischer Autoren von internationalem Ruf: „ Sonnenlinie“ von Ivan Vyrypaev (Polen/Russland), übersetzt von Diana Konrad; Neda Nezhdanas „Kätzchen für eine Erinnerung an die Dunkelheit“ (Ukraine), Übersetzung Minka Paraskeva und ukrainischen Sprachberaterin Tetyana Kolosova und Elise Vilks „Krokodil“ (Rumänien), übersetzt von Laura Nenkovska. Alle Theaterstücke wurden als Performance-Lesungen vorgestellt.
Vom gesamten Programm des Festivals konnte ich leider nur die Aufführung von „Krokodil“ unter der Regie von Denislav Yanev und Schauspieler*innen Nikolay Markov und Nadia Keranova nicht sehen. Die anderen beiden Lesungen hinterließen einen starken Eindruck. Durch „Kätzchen für eine Erinnerung“ traf erstmals die schon in ihrer Heimat und in anderen europäischen Ländern bekannte ukrainische Autorin Neda Nezhdana auf das bulgarische Publikum und gewann es sofort für sich, mit der Ausdruckskraft und dem bitteren Leid des Textes,über die dramatischen Erfahrungen einer Frau während der russischen Invasion im Donbass im Jahr 2014. Der Regisseur Boyan Kracholov und die Schauspielerin Galya Kostadinova hatten eine maximal statische Lesestrategie des Textes gewählt, bei der die Entdeckung der darin eingebetteten Energien und Themen ausschließlich in der Intensität der Stimmdarbietung gesucht wurde. Vielleicht würde die Einbeziehung anderer Aufführungsinstrumente in bestimmten Momenten ein breiteres Spektrum an philosophischen und theatralischen Möglichkeiten offenbaren, die dem Stück innewohnen. Die Lesung von Veronika Todorova und Nikolay Vladimirov unter der Leitung von Stefan Zarev aus einem der letzten Stücke von Ivan Vyrypaev – „Sonnenlinie“ – ging genau diese Herausforderung des Performance-Lesens gekonnt an. Die beiden Schauspieler präsentierten den Anwesenden nicht nur einfühlsam und eindrucksvoll ihre Interpretation des komplexen philosophischen Textes, sondern deuteten auch gekonnt die vielen weiteren darin enthaltenen Ebenen und Interpretationsrichtungen an.
In diesem Teil des Festivalprogramms wurde die künstlerische Aktion „Recycling von Theaterstücken“, die auf der Idee von Katerina Georgieva basiert und von Ognyana Serafimova unter der wunderbaren Beteiligung von Tony Karabashev umgesetzt wurde, zu einem einfallsreichen Moment der Entspannung und des Lachens.
Das dritte Modul und zweifellos das andere Highlight der diesjährigen Ausgabe von New Stages Southeast war das Treffen mit Ivan Vyrypaev. Geführt wurde das Gespräch zwischen ihm und Galin Stoev, dem Regisseur, mit dem Vyrypaev seinen erfolgreichen Weg als Dramatiker begann (mit seinem Stück „Träume“, inszeniert von Galin Stoev unter dem Titel „Archäologie des Träumens“ im Jahr 2002 für das internationale Theaterfestival “Sommer in Varna“) , beide verbindet bis heute eine lange , intensive kreative und persönliche Freundschaft.
In der interessanten und vielschichtigen Debatte erläuterte Ivan Vyrypaev, der seit langem in Polen lebt, die Psychologie der sich im Krieg in der Ukraine entgegenstehenden Seiten und warum er nicht nach Russland zurückkehren wird, und teilte auch seine Sichtweise, mit was ein Mensch in einer Situation der Gewalt tun kann und durch welche humanitären und künstlerischen Initiativen er heute mit dieser Situation umgeht.
Eine starke Ausgabe des Festivals für neue Dramaturgie New Stages Southeast des Goethe-Instituts Bulgarien, das den Raum für philosophische und künstlerische Debatten in unserem Land aktiviert und erweitert. Eine Veranstaltung, die wir schon seit Langem dringend brauchten.