Theaterszene
Die Krise, die alle aus der Komfortzone riss
In der Rubrik „Kultur in Krisenzeiten“ wenden wir uns an Assen Terziev, Theaterwissenschaftler und Generalkoordinator der Via-Fest-Stiftung. Er erzählt über seine persönliche Erfahrung mit den zwei größten internationalen Theaterforen in Bulgarien – Varna Summer International Theatre Festival und der Plattform „World Theatre in Sofia“: wie sie es in dieser besonderen Zeit doch schaffen, alle Herausforderungen zu bewältigen und ihre Ausgaben auch in diesem Jahr zu präsentieren – in digitalem Format.
Von Asen Terziev
In letzter Zeit versuche ich bewusst ohne Emotionen und – soweit es möglich ist – mit Optimismus, über die beispiellose Pandemiesituation nachzudenken, in der wir uns seit März dieses Jahres befinden. Die Situation an sich ist relativ vage und unvorhersehbar, so dass wir schon daran gewöhnt sind, wenn die Diskussion im öffentlichen Raum über das Thema leicht die Grenzen des guten Tons und nüchternen Denkens überschreitet und in Konflikte und Paranoia stürzt. Unsere Generation hat noch nie eine Krise dieser Größenordnung erlebt, die die ganze Welt aus ihrer Komfortzone riss. Wir haben noch nie für so etwas geprobt, daher ist es verständlich, dass wir unsere Rollen nicht brillant spielen und nur in seltenen Fällen den richtigen Ton erraten. Das Sinnvollste, was wir momentan tun können, ist unsere Aufmerksamkeit wachzuhalten und unsere erlebten Erfahrungen auszutauschen.
Ich werde ein paar Worte sagen über den Weg, den wir mit der Organisation, für die ich arbeite, gewählt haben: über die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert waren und über die Entscheidungen, die wir getroffen haben. Die Via-Fest-Stiftung ist Veranstalter der zwei größten internationalen Theaterevents in Bulgarien – des Varna Summer International Theatre Festival und der Plattform World Theatre in Sofia. In diesem Jahr hätten sie auch Anfang Juni stattfinden sollen, wie das sonst seit Jahren geschieht – Varna Summer hätte zum 28. Mal und das World Theatre in Sofia zum 14. Mal stattfinden sollen. Covid-19 hat diese Pläne vereitelt. Wie es mit vielen anderen im Bereich der Kultur tätigen Nichtregierungsorganisationen passiert ist, sind wir in eine Sackgasse geraten: alle Projekte im Rahmen der Festivalprogramme, an denen wir im Vorjahr gearbeitet hatten, sind innerhalb von Wochen gescheitert, und alle finanziellen Mittel, die wir durch Bewerbung und Sponsoring gewonnen hatten und auf die wir uns verlassen hatten, wurden eingefroren und verschwanden. Es wurde schnell klar, dass die Festivalausgaben nicht stattfinden konnten. Erst wenige Monate später konnten wir alle unsere traditionellen Strategien nüchtern überdenken, nachdem nach vielen turbulenten Diskussionen klar wurde, welchen Schritten die Hauptsponsoren der Kultur in unserem Land – das Kulturministerium, die Gemeinde Sofia und die Gemeinde Varna – folgen würden, von denen wir auch abhängig waren. Zum Glück konnten wir uns wieder bewerben, sodass im Spätherbst beide Veranstaltungen mit völlig neuen Konzeptprogrammen stattfinden konnten. Die große Veränderung hatte aber nichts mit der Saison zu tun.
Die Pandemie hat die darstellenden Künste auf der ganzen Welt vor große Herausforderungen gestellt. Im Theater untergrub sie zutiefst einen seiner Hauptpfeiler – die Live-Begegnung. Damit diese Begegnung stattfinden kann, sind mindestens gleicher Raum und gleiche Luft erforderlich, und es war diese Luft, die nun für Angst und Unruhe sorgte.
Einerseits stören Online-Übertragungen die Kontinuität eines Live-Ereignisses, bei dem der Zuschauer weder beliebig rein- und rausgehen kann noch vorwärts oder rückwärts spulen kann. Andererseits, wenn eine gute Aufnahme vorliegt, wird die Aufführung durch die Medien in gewissem Sinne sichtbarer – Wiederholungen, Nahaufnahmen und verschiedene Sichtweisen sind im Vergleich zum Live-Ereignis möglich, und im Allgemeinen wird die Kommunikation mit der Bühne dank den Medien in gewissem Sinne intimer und tiefer. Natürlich ist der absolut unbestreitbare Vorteil der spezifischen Situation vorhanden, dass das Zuschauen kein Risiko mehr für die Gesundheit eines Menschen darstellt. Für unsere Entscheidung, die beiden Festivalveranstaltungen vollständig digital zu realisieren, wurde der Wunsch hoch gewichtet, mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben, indem wir dem Zuschauer ein sicheres und kostenloses Theatererlebnis anbieten, das ihm nun vorenthalten wurde.
Aus künstlerischer Sicht stand für uns als Programm-Zusammensteller die ernste Frage, welche Vorstellungen auf diese Weise präsentiert werden konnten.
Wir haben uns für eine der Richtungen entschieden, welche viele internationale Festivals, Bühnen und Unternehmen aus den Bereichen Theater, Tanz und Oper bereits gewählt haben. Die Quarantäne zwang sie, die neuen Produktionen vorübergehend einzustellen und sich ihren Archiven zuzuwenden – zum Beispiel hatten wir zum ersten Mal die Gelegenheit, einige der legendären Produktionen von Bertolt Brecht des Berliner Ensembles zu sehen. Zu den Höhepunkten unserer digitalen Programme gehörten die großen Bühnenwerke aus der jüngeren Geschichte des zeitgenössischen Theaters und Tanzes. Wir haben bemerkenswerte Theater-Errungenschaften ausgestrahlt wie die historischen Produktionen des Deutschen Theaters Berlin von zwei bedeutenden Regisseuren des zeitgenössischen europäischen Theaters, die nicht mehr unter uns sind: Jürgen Gosch („Die Möwe“) und Dimiter Gotscheff („Die Hamletmaschine“). Gezeigt wurde auch die 1997 entstandene Produktion des Hamburger Theaters Thalia „Haus № 13“ nach Werken von A. Tschechow unter der Regie des großen bulgarischen Regisseurs Stefan (Teddy) Moskov mit dem Virtuosen Samuel Finzi.
Zum zweiten Höhepunkt gehörten logischerweise die aktuellen Titel der Weltbühnen, die jetzt nicht live präsentiert werden konnten, und einige von denen zu teuer, großformatig und schwer zu transportieren oder mit spezifischen Raumanforderungen waren, so dass sie in Bulgarien sogar unter normalen Bedingungen kaum präsentiert werden könnten. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, die große Genrevielfalt der zeitgenössischen Bühne hervorzuheben: moderne Interpretationen klassischer dramatischer Werke; neues Drama und scharf aktuelles politisches und dokumentarisches Theater; hybride und innovative Kombinationen zwischen Theater, Tanz und Zirkus. Wir präsentierten Aufführungen weltbekannter Künstler wie der Regisseure Eugenio Barba, Declan Donelan, Andreas Kriegenburg, Grzegorz Jarzyna, Konstantin Serebrennikov, Timofey Kulyabin, Milo Rau u.a. sowie der Choreografen Maguy Marin, Anne Teresa De Keersmaeker, Alexander Ekmann und Cheng Tsung-lung mit seinem Cloud Gate Dance Theatre.