Wolfgang Bauer
Sie verlassen die Komfortzone

Man könnte hierzulande meinen, der Populismus sei derzeit das größte politische Übel. Die Kriege und gewalttätigen Konflikte in anderen Erdteilen verdeutlichen jedoch, dass wir in einer Komfortzone leben. Hin und wieder erreichen uns Berichte von Orten, wo es grausamer zugeht, als wir uns vorstellen können.

Von Holger Moos

Bauer: Bruchzone © © Suhrkamp Bauer: Bruchzone © Suhrkamp
Der mehrfach ausgezeichnete Journalist Wolfgang Bauer hat mit Bruchzone ein Buch vorgelegt, das „Krisenreportagen“ aus den Jahren 2010 bis 2017 enthält. Bauer erkundet darin die „Peripherie unseres Weltbildes“. Dort herrscht eine kaum beschreibbare Grausamkeit und Brutalität, während hierzulande darüber debattiert wird, wie viele der Unglückseligen, die dieser Peripherie entfliehen wollen, wir aufnehmen können. „In den Tagen von AfD und FPÖ und Trump und dem Front National droht uns die Sensibilität dafür abhandenzukommen, was um uns herum in der Welt passiert“, warnt Bauer in seinem Vorwort.
 
Das für uns in scheinbarer Ferne liegende Unglück ist viel näher als wir denken. Denn in den Krisengebieten zerbricht etwas: die Basis für Menschlichkeit: „Diese Bruchzone ist der Ort der Umwälzung und Veränderung, dort beginnt, dort platzt auf, was uns kurz darauf auch in Europa und Amerika erfasst“, so Bauer. Erzählt werden Geschichten aus Afghanistan, Syrien, Libyen, Sudan, Libanon, Somalia, Pakistan oder Irak. Da ist etwa ein jugendliches afghanisches Liebespaar, das aufgrund des ethnischen Hintergrunds nicht heiraten darf, gemeinsam weglaufen will, jedoch deshalb ins Gefängnis kommt.

Normalität zwischen Bombenangriffen

Im Jahr 2011 berichtet Bauer von den ersten Tagen des Krieges in Syrien, als die Menschen in der Stadt Homs zunächst nur auf die Straße gingen, damit ihr korrupter Bürgermeister abgesetzt wird. Doch die Härte, mit der das Regime reagierte, führte bald dazu, dass die Menschen generelle Freiheit forderten. 2012 schreibt Bauer über den willkürlichen Tod in Aleppo, wo sich das Regime mit seinen Gegnern einen gnadenlosen Kampf liefert. Assad bombardiert seine Feinde mit Kampfjets – zwischen den Bombenangriffen gibt es kurze Phasen, in denen die Menschen versuchen, die Toten zu vergessen und vorübergehend Normalität herzustellen, etwa indem sie einkaufen und Stromleitungen reparieren.
 
Das libysche Misrata wird 2011 von Gaddafis Truppen belagert. Die einzige Möglichkeit, die dortige Bevölkerung zu versorgen, ist der Seeweg. Bauer reist mit einem Schlepper voller Waffen von Bengasi nach Misrata. Im Sudan versucht Bauer durch außer Landes geschmuggelte Bodenproben zu beweisen, dass dort Giftgas zum Einsatz kommt. Andere Reportagen handeln von somalischen Piraten, nordkoreanischen Geisterschiffen, dem letzten ukrainischen Bataillon auf der Krim oder dem amerikanischen Drohnenkrieg in Pakistan.

Enorm lesenswerte Sinnangebote

Bauers Reportagen leben von der Anschaulichkeit, von den zahlreichen Protagonisten und Protagonistinnen, aus deren Leben er berichtet. Gelegentlich werden die meist unglückseligen Verstrickungen des Westens eingestreut, die Taten- und Folgenlosigkeit der Diplomatie, die sich hinter Floskeln versteckt: „Eine Flugverbotszone [in Syrien] sei 'keine geeignete Lösungsstrategie', lässt etwa das deutsche Außenministerium im trockensten Beamtendeutsch verlauten.“ Das Klein-Klein der internationalen Machtpolitik kümmert sich wenig um die tatsächlichen humanitären Katastrophen.
 
Der Autor versteht sein Buch als „Frühwarnsystem“. Es ist ein Augenöffner – nach der Lektüre kann man nicht mehr sagen, man habe nichts gewusst. Auch wenn die Reportage nach dem „Fall Relotius“ – benannt nach dem Journalisten Claas Relotius, der im Dezember 2018 zugab, viele seiner oft preisgekrönten Reportagen manipuliert zu haben – gerade in einer Krise steckt, ist sie doch wie keine andere journalistische Textsorte prädestiniert, Fakten durch Eindrücke und Erlebnisse anzureichern und dadurch anschaulicher und lebendiger zu machen. Reportagen sind Erzählungen, die die Wirklichkeit ordnen und deuten, sie geben den Erfahrungen des Reporters Sinn.
 
Simon Drescher, Mario Gotterbarm und Sebastian König, wissenschaftliche Mitarbeiter an der Universität Tübingen, haben das in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung so formuliert: „Ein gutes Stück Aufarbeitung des Falls Relotius wird darin bestehen, sich einzugestehen, dass vermeintlich die Wirklichkeit spiegelnde Reportagen rhetorisch-narrative Konstruktionen sind, die uns ein Sinnangebot machen.“ Wolfgang Bauer macht mit seinen Reportagen enorm vielschichtige und äußerst lesenswerte „Sinnangebote“.
 
Rosinenpicker ©   © Goethe-Institut / Illustration: Julia Klement
Bauer, Wolfgang: Bruchzone. Krisenreportagen.
Berlin: Suhrkamp, 2018. 349 S.
ISBN:  978-3-518-07392-6

Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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