documenta 14
Documenta 14 – Verdopplung der Perspektive
Die „Ausstellung der Ausstellungen“, wie man die Documenta in Kassel nennen könnte, ist ein internationales Forum, das seit 1955 besteht. Alle fünf Jahre veranstaltet, hat diese Ausstellung zum Ziel, die wichtigsten Prozesse in der Kunst darzustellen - zum einen die Errungenschaften, zum anderen die Problematiken in der Beziehung mit Wissenschaft, Technologie, Sozialpsychologie, Philosophie und Politik. Die diesjährige Documenta 14 spricht mittels der Kunst erneut gesellschaftliche Thematiken an und bietet eine ungewöhnliche Sicht auf wichtige Fragen, die die Welt, oder zumindest die westliche Welt, bewegen.
Es geht dabei um Fragen, die politische und soziale Probleme betreffen, wie das Kurator-Team, das 18 Personen einschließt und von Adam Szymczyk aus Polen geleitet wird, erklärt. Die Fragen betreffen Rassismus, Nationalismus, Dekadenzkapitalismus und Diktatur, Thematiken, die in den letzten Jahren immer öfter Gewalt, Unruhen, Flüchtlingswellen, Proteste und Terrorismus hervorgerufen haben. 160 Autoren_innen wurden zur Documenta eingeladen, darunter bekannte, aber vermehrt weniger bekannte Namen; so auch marginalisierte oder vergessene Künstler_innen aus verschiedenen politischen Situationen, Kontinenten und Ländern.
Was die Documenta 14 in diesem Jahr von allen vorangegangenen Ausgaben unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie an zwei unterschiedlichen Orten stattfindet, nämlich in Athen und in Kassel. Hierbei sind die Rollen sozusagen vertauscht: Kassel ist in diesem Fall nicht Gastgeber, sondern Gast in Athen, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Mehr noch, die Ausstellung wird unter dem Motto „Von Athen lernen“ (Learning from Athens) veranstaltet, was allerdings nicht wörtlich zu verstehen ist: Die größte Lektion besteht darin, dass es keine große Lektion gibt – vielmehr soll dadurch gelernt werden, dass alles bisher Gelernte vergessen wird.
Bei der letzten Ausgabe der Documenta hat Carolyn Christov-Bakargiev einen Teil der Ausstellung in Kabul, Alxandria und Banff organisiert; dieses Mal sind beide Ausstellungsorte gleichbedeutend. Viele der 160 Teilnehmer_innen stellen Werke an beiden Orten aus, wobei diese sich teilweise ergänzen. Die Eröffnung in Athen findet am 8.April, die in Kassel am 10.Juni statt - die Ausstellungen überschneiden sich für etwa einen Monat, insgesamt dauern sie 163 Tage. Sie sind sowohl zeitlich als auch räumlich so aufeinander abgestimmt, dass sie nicht miteinander konkurrieren oder sich bedeutungsmäßig verdrängen. Das Ausstellen der Kunstwerke soll für eine andere Blickdistanz sorgen, neue Perspektiven und Verbindungen schaffen. Die Frage ist allerdings, ob dies gelingt und ob der gesamte, übergeordnete Sinn nicht irgendwo im Raum zwischen den beiden Städten verlorengeht.
Warum ausgerechnet Kassel und Athen? Kassel ist seit 1955 die Stadt der Documenta, sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als passender zentraleuropäischer strategischer Punkt ausgewählt. Damals gab es dort eine große Ausstellung, die sich der Verarbeitung von Traumata widmete, die durch das nazistische Regime verursacht worden waren. Diese Ausstellung an einem Ort wird heute von Szymczyk in Frage gestellt, der argumentiert, dass ein einziger geografischer Punkt nicht ausreicht, um angemessen die Weite der Welt mit ihren Problemen umfassen zu können. Er wählt Griechenland als zweiten Standort aus, da die Situation dort für die allgegenwärtige Wirtschafts-, Politik- und Sozialkrise in den letzten Jahren bezeichnend ist. Nach Auffassung des Teams der Documenta 14 verdoppelt die vorrübergehende Schwerpunktverschiebung nach Athen die Perspektiven und bietet der Kunst die Möglichkeit, die Realität der modernen Welt wieder zu spiegeln. Und in diesem Fall ist es eine Welt, die als ein Ort für das Zusammenkommen von Individuen verstanden wird, nicht als ein Ort, der von hegemonialen Verhältnissen bestimmt wird. Letzten Endes ist es Ziel der Documenta 14, die Welt als einen Ort zu sehen, der größer ist als Deutschland oder Griechenland.
Sowohl in Athen als auch in Kassel ist die Documenta über die ganze Stadt verteilt, wodurch es schwierig wird, alles zu sehen und alle Teile zu besuchen. Allein in Kassel gibt es 30 Locations – öffentliche Institutionen, Plätze, Kinos und Universitätsräume. Von diesen Orten sind drei am wichtigsten: Erstens die Neue Neue Galerie (die Neue Hauptpost), wo sich die meisten der eigens für die Ausstellung geschaffenen Arbeiten befinden; zweitens die Documenta Halle, wo man Arbeiten vieler Künstler_innen, die auch in Athen ausstellen, sehen kann; und drittens die Neue Galerie, in der die Konzentration der Werke am höchsten ist.
Im Unterscheid zu den bisherigen Ausstellungen ist im Fridericianum, das üblicherweise der Hauptausstellungsplatz ist, diesmal die Sammlung griechischer und internationaler zeitgenössischer Kunst ausgestellt. Sie ist Eigentum des Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst in Athen (EMST), das lange Zeit kein eigenes Gebäude hatte und nicht über die ausreichende Finanzierung verfügte, um richtig zu funktionieren. Durch diese Geste wird die lange nicht gezeigte Sammlung nun vor großem Publikum ausgestellt, um zu demonstrieren, dass die Werke vieler Autor_innen zu der thematischen Hauptlinie der diesjährigen Documenta passen. Auf der Fassade des Fridericianum ist eine Intervention von Banu Cennetoğlu zu sehen, der den Namen des Museums auf dem Giebel mit der Aufschrift „Being Safe is Scary“ („In Sicherheit zu sein ist schrecklich“) ersetzt hat, um die zweideutige Verbindung von Sicherheit und Gefahr darzustellen. Inspiriert wurde diese Aufschrift durch Graffiti an der Wand der Nationalen Technischen Universität in Athen.
Das Sozialprofil von Kassel wurde bei der Verteilung der Ausstellungswerke ebenfalls berücksichtigt. Ähnlich wie in Athen leben in Kassel viele Immigranten und die Stadt ist geografisch nach ethnischer Zugehörigkeit und Klasse aufgeteilt. In nördlichen Teil „Nordstadt“ leben Einwanderer aus der Türkei, Afrika, Osteuropa und Geflüchtete aus dem Nahen Osten. Besonders in diesem Stadtteil werden Werke ausgestellt, u.a. im zentralen Ausstellungsort „Neue Neue Galerie“. Unter den großformatigen Arbeiten und Projektionen findet sich die Fotosession der Palästinenserin Ahlam Shibli. Diese besteht aus Fotoporträts von Generationen Kasseler Immigranten und ihrer religiösen Traditionen. Die Themen Immigration und Xenopobie werden auch durch Videoinstallationen der aktivistischen Gruppe „Gesellschaft der Freunde Halits“ (The Society of Friends of Halit) aufgegriffen. Das Projekt heißt „Halit Özgat“, benannt nach einem in Kassel geborenen Muslimen türkischer Abstammung, der mit gerade mal 21 Jahren im Jahr 2006 von rechten deutschen Terroristen im Café seiner Familie in Nordstadt erschossen wurde. Die Gruppe untersucht in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe „Forensic Architecture“ der Universität Goldsmiths in London die Rolle, die ihrer Meinung nach der deutsche Geheimdienst bei der Ermordung gespielt hat.
In der Neuen Galerie sind vorwiegend historische Werke ausgestellt; ein Teil davon bezieht sich auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland, der den Grund für den Standort der Documenta in Athen erklären soll. Ein zentrales Thema in diesem Ausstellungsraum ist die „Familie Gurlitt“ und die mit ihr im Zusammenhang stehende Vertuschung und Manipulation des historischen Gedächtnisses. Die Ausstellungen werfen die Frage auf, wie die Kunst mit dem Kriegstrauma verbunden ist, und zeigen Werke, die unter totalitärer Kontrolle entstanden sind. Es werden 17 Bilder von Cornelia Gurlitt (1890-1919) ausgestellt; ihr Vater war der berühmte Dresdener Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt, ihr Bruder Hildebrand Gurlitt, ein nazistischer Kunst-Dealer und Sammler „dekadenter“ moderner Kunst. 2012 erregte der Name von Cornelius, Hildebrands Sohn, öffentliches Aufsehen, als die lang gehütete Sammlung seines Vaters von 1500 Werken von der Polizei in seiner Münchener Wohnung gefunden wurde.
Eines der zentralen Werke in der Neuen Galerie thematisiert die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands, die zwar heute noch Folgen hat, teilweise aber immer noch tabuisiert wird. Die Installation von Maria Eichhorn „Rose Valland Institut“ setzt sich mit dem Eigentum an Gegenständen auseinander, die einst Juden gehört haben. Im Zentrum der Installation steht eine sechs Meter hohe Bibliothek, in der Bücher der Staatsbibliothek Berlin aufgestellt sind, die früher von Juden beschlagnahmt, bis heute aber nicht identifiziert worden sind. Ergänzend will Eichhorn durch eine Initiative mit dem Titel „Offene Einladung: Illegales Eigentum in Deutschland“ die Suche nach Gegenständen, die von den Nazis geplündert wurden, vorantreiben.
Einige der bemerkenswertesten Arbeiten der Documenta 14 sind im öffentlichen Raum zu finden. So zum Beispiel die Arbeit der argentinischen Malerin Marta Minujín. Sie errichtet ein maßstabgetreues Modell des Parthenons aus Büchern, die aus politischen Gründen an verschiedenen Orten der Welt verboten sind. Diese Arbeit ist „work-in-progress“, da zu diesem Zwecke über Monate hinweg etwa hunderttausend Bücher gespendet worden sind. Die Konstruktion steht auf dem Friedrichsplatz, wo die Nationalsozialisten 1933 etwa 2000 Bücher verbrannt haben, die als „schädlich für den deutschen Geist“ eingestuft worden waren. Heute kann der „Parthenon aus Büchern“ mehr durch seine ästhetische Ausstrahlung und Größe als durch seine Botschaft Eindruck machen; dieser war sicherlich viel gewaltiger, als das Werk 1983 zum ersten Mal in Buenos Aires mit Büchern erbaut wurde, die von der Militärdiktatur in Argentinien verboten worden waren.
Eine weitere Arbeit, die ein Zeichen setzt, ist der 16 Meter hohe Beton-Obelisk auf dem Königsplatz in Kassel. Der in Nigeria geborene Olu Oguibe nannte ihn „Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“; auf arabisch, englisch, deutsch und türkisch steht das Zitat „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“, das aus dem Neuen Testament stammt.
Unbestritten eines der ansprechendsten Werke ist das „When We Were Exhaling Images” von Hiwa K. Der Künstler ist irakisch-kurdischer Herkunft und lebt derzeit in Berlin. Er konstruierte ein Rechteck aus Keramik-Rohen, in denen persönliche Sachen und Haushaltsgegenstände von Geflüchteten ausgestellt sind, die diese für gewöhnlich auf ihrer gefährlichen Reise bei sich haben. Die Konstruktion ist ironisch als Wanderer-Unterschlupf „mit Extras“ bezeichnet. Laut Hiwa K. stammt dies aus der Zeit, als er selbst auf der Flucht war und in Kanalisationsschächten übernachtet hat.
Ibrahim Mahama widmet sich den wirtschaftlichen Strukturen der neoliberalistischen Globalisierung und ihrem Einfluss auf die Länder der Dritten Welt, indem er die beiden Türme des historischen Ortes Torwache in Kassel in zusammengenähte Stoffsäcke „kleidet“. Durch das Werk namens „Check Point Sekondi Loco. 1901-2030. 2016-2017“ erzählt der Autor von der Produktion und dem Handel des heutigen Kapitalismus. Die Stoffsäcke für die Installation wurden in Asien hergestellt, um Kaffee, Kakao und Reis - beispielsweise aus Ghana - zu verpacken und danach nach Europa, Amerika usw. zu exportieren.
Die „Verdopplung der Perspektive“ durch die Documenta 14 wird durch das Prisma einer jeden einzeln dargestellten Geschichte vervielfältigt. Somit entsteht eine große Erzählung über die Gegenwart, die voller dringender politischer Fragen ist - wie der nach der Flüchtlingskrise, der neoliberalistischen Globalisierung und der rechten Politik. Fragen, die die Kunst mit Sicherheit nicht beantworten kann; doch sie kann den globalen, krankhaften, teilweise absurden und sinnlosen Zustand aufzeigen.