Menschenrechte
Das Virus und die Hungersnot
Westeuropa hat sich längst damit abgefunden, dass die Roma am Rande der Gesellschaft leben und dass sie fast keine Repräsentanten in den hohen politischen Kreisen haben. Die in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien lebende Roma sind im allgemeinen Fall Opfer massiver Diskriminierung und eines viel niedrigeren Lebensstandards, der sich nach dem Ende des Kommunismus drastisch verschlechtert hat. Die größte Minderheit in Europa ist in vielen Ländern sehr stark von der Corona-Pandemie betroffen. Ganze Roma-Familien wurden unterschiedlichen Gesundheitsrisiken sowie wirtschaftlicher Verelendung und zunehmender Diskriminierung ausgesetzt.
Von Juliana Metodieva
In Bulgarien, derzeit das ärmste Land in der EU, ist jeder Fünfte von Armut bedroht. Zu den bedürftigsten Bevölkerungsgruppen zählen die Roma (325 343 nach der letzten Volkszählung), 63.8% von ihnen leben in Armut. Aufgrund des Mangels an materiellen Mitteln können viele Kinder aus Großfamilien keine Kinderheime und Schulen besuchen und haben eine schlechte Ausbildung. Mit der Einführung des Ausnahmezustandes hat sich diese Situation drastisch verschlechtert. Experten für Minderheitenfragen und Anthropologen weisen seit Jahren die Politiker aus dem gesamten demokratischen Spektrum darauf hin, dass die Roma-Viertel eine erhöhte Anfälligkeit für gängige Infektionen wie Masern oder verschiedene Arten von Influenza-Viren aufweisen. Besonders hoch ist das Pandemie-Risiko in den Vierteln, Nachbarschaften und Gettos, weil dort die Bewohner keinen Zugang zu fließendem Wasser haben. Aus diesen Gründen sind die Roma-Siedlungen seit der Einführung des Ausnahmezustandes im März sehr schnell zu Corona-Brandherden geworden. Für Bulgarien spielte als weiterer Faktor die Rückkehr der niedrig qualifizierten Roma-Arbeitskräfte aus Ländern mit hoher Sterblichkeitsrate (vor allem aus Spanien, Griechenland und Italien) eine Rolle.
Wie andere europäische Regierungen hat auch Bulgarien keine ausschließlichen Maßnahmen zum Schutz dieser Bevölkerungsgruppe ergriffen. Seit Jahren benötigt das Land dringend gut funktionierende Infrastrukturen für Gesundheits- und Sozialdienste. Die Pandemie hat schwere Defizite aufgedeckt, und das Leiden der benachteiligten Bevölkerungsgruppen verschärft. Die seit Jahrzehnten schwelenden negativen Faktoren ihrer Lebensweise bestimmen den hohen Preis, den sie dafür zahlen müssen. Die hohe Infektionsrate ist auf die dichte Konzentration der Bewohner in den Gettos zurückzuführen. Ganze Familien können es sich nicht leisten, die sowohl von der WHO als auch vom nationalen Krisen-Stab vorgeschriebene soziale (physische) Distanz einzuhalten. Dieser Umstand hat das Gesundheitsrisiko für die Bewohner erhöht. Soziologischen Daten zufolge waren humanitäre Schäden schon Ende März, inmitten der Quarantäne, vorhanden.
In den Roma-Vierteln leben oft zehn oder mehr Personen in einem Raum. Das niedrige Bildungsniveau erweist sich für viele Bewohner als eine Hürde beim selbstständigen Ausfüllen der von den regionalen epidemiologischen Diensten erforderlichen Unterlagen. Die aufsteigende Panik und das Gefühl der sozialen Isolation, ausgelöst durch die Quarantäne in der Hauptstadt und den großen Städten im Land, sind an Orten mit schutzbedürftigen ethnischen Minderheiten noch schwieriger zu überwinden.
Das Virus, die Maßnahmen und rechtsextreme Politik
Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie kursierten Gerüchte in der Gesellschaft, die den Eindruck erweckten, ausgerechnet Roma seien die Infektionsquelle. Die „Deutsche Welle“ wies in mehreren Veröffentlichungen darauf hin, dass die ethnischen Minderheiten wie gewohnt zum Ziel von nationalistischen Regierungsparteien in Bulgarien werden. „Der Tagesspiegel“ informierte rechtzeitig: „Es ist nur ein Gerücht, aber es entfacht eine verheerende Wirkung“. Beide deutschsprachige Medien konnten ganz genau voraussagen, dass sich diese Gerüchte als akzeptabel für die bulgarische Gesellschaft erweisen werden.Politiker*innen der extremen Rechten („Vereinigte Patrioten“) haben die Regierung aufgefordert, Kontrollstellen an allen von Roma bewohnten Stadtvierteln einzurichten. In der Folge waren mehrere Roma-Stadtviertel fast komplett abgeriegelt worden. Obwohl eine solche Maßnahme verfassungswidrig ist, weil dadurch Roma von jeder medizinischen Versorgung ausgeschlossen werden, und die Versorgung mit Lebensmitteln und allen anderen Gütern des täglichen Bedarfs unterbrochen wird, wird sie an vielen Orten in vollem Umfang angewendet. Nationalsozialistische Ausgaben mit unverborgener rassistischer Voreingenommenheit veröffentlichen Schlagzeilen wie: „Entsetzen in den Roma-Vierteln in Sofia: über 50% positiv auf Corona getestet!“ Das ist der Beginn der systematischen Rassisierung der Schuld. Die Schuld wird von der Ineffizienz des Staates und den strukturellen Problemen der Sozialpolitik für Minderheiten auf die Bewohner der Viertel und der Gettos übertragen. Die Abriegelung der Roma-Viertel ähnelt immer mehr einer Blockade aus rein ethnischen Gründen.
Die Roma-Bevölkerung in beiden Vierteln („Filipovzi“ und „Fakulteta“) wurde noch vor Ostern aufgrund der registrierten Covid-19-Fälle stigmatisiert. Das Stigma führt zur Unsicherheit und Pessimismus im täglichen Verhalten der Bewohner. Es wächst das Gefühl, vom Rest der Gesellschaft verstoßen zu sein, welche ohne weiteres die Roma systematisch in Bezug auf den Zugang zu Arbeit und Bildung segregiert. Trotz der Bemühungen vieler Familien, persönliche Maßnahmen zu ergreifen, vor allem durch das regelmäßige Händewaschen, Desinfizieren der Wohnung und Tragen von Masken, bricht die Infektion aufgrund des mangelnden Zugangs zur Wasserversorgung und zu sanitären Einrichtungen regelmäßig.
Ausblendung des Lebens in Vierteln und Gettos in Zeiten der Corona-Krise
Grund für den hohen Prozentsatz der Infizierten in diesen Siedlungen ist die intensive Kommunikation zwischen den Familien und deren Verwandten, die an verschiedenen Adressen und in verschiedenen Familien wohnen. Sehr schnell wird als Sondermaßnahme die Ausgangssperre in beiden Vierteln eingeführt. Zu den Hauptargumenten des nationalen Coronavirus-Stabes zählt die hohe Zahl der Corona-Infektionen, obwohl die PCR-Tests nicht immer zuverlässig und äußerst unzureichend sind. Andererseits sind Epidemiologen der Meinung, dass es schwierig ist, Kontaktpersonen von den Infizierten zu finden, da verschiedene Familien miteinander kommunizieren, die selten in derselben Straße wohnen. Laut den Behörden sollten Beschränkungen buchstäblich für jedes Haus und Geschäft gelten. In den Mainstream-Medien wird nicht kommentiert, dass die Aufstellung von Kontrollpunkten eigentlich eine Verletzung der Rechte der Roma auf Gleichheit und Freizügigkeit darstellt. In diesem Zusammenhang erheben Menschenrechtsanwälte Klagen gegen diese Verstöße, die noch nicht abgeschlossen sind. Die Bevölkerung identifiziert sich im Großen und Ganzen als ein außerordentliches Opfer der Pandemie.Die wirtschaftlichen Folgen der Quarantäne verursachen schwere psychische und existenzielle Traumata. Die „geschlossene“ Wirtschaft in den Gettos bringt Zehntausende von Haushalten unter die Grenze der Grundbedürfnisbefriedigung. Rund 40% der Roma-Mütter, die an einem spezialisierten Programm für soziale Initiativen teilnehmen, sagen, dass mindestens ein Mitglied ihres Haushaltes seit Beginn der epidemiologischen Krise seinen Job verloren hat. Die Quarantäne wurde eingeführt, ohne die schwerwiegenden Folgen einer Hinderung, das Wohngebiet zu verlassen, zu berücksichtigen. In den Roma-Vierteln ist der graue Arbeitsmarkt (im Bauwesen und der Landwirtschaft) enorm. Alle in diesem Bereich Beschäftigten haben ihren Job verloren, einschließlich Reinigungskräfte, Bauarbeiter, Kellner. Dies bringt Hunderte von Kindern und deren Väter und Mütter an den Rand des physischen Überlebens. Sogar wenn sie nicht entlassen sind und eine Arbeit haben, können sie ohne Arbeitsvertrag keine Arbeitsbescheinigung vorlegen, um das Wohngebiet zu verlassen. Somit verlieren sie tatsächlich ihren Job und ihr Einkommen, mit welchem sie fünf oder sechs weitere Familienmitglieder unterhalten.
Der Ausnahmezustand wurde im März erklärt, hielt auch im ungewöhnlich kalten April an, und in den ärmsten Haushalten wurde mit allem Möglichen geheizt. Die Leute bleiben zu Hause, weil sie keine Wahl haben, sie dürfen nicht rausgehen, um Sekundärrohstoffe zu sammeln. Die Geldüberweisungen von Verwandten, die im Ausland arbeiten, wurden reduziert oder eingestellt, was den wirtschaftlichen Zusammenbruch zusätzlich verschärft. Auf der Suche nach Notgeldern verpfänden einige ihre Handys, andere beantragen die riskanten Schnellkredite. Die Hauptsorge der Haushalte ist die Ungewissheit über die Dauer der Corona-Krise.
Darüber hinaus werden die Roma von den staatlichen Behörden gedemütigt und belästigt. Die Gendarmerie und die Polizei an den Kontrollpunkten in den kleinen Ortschaften und Siedlungen greifen die Bewohner verbal an, beschimpfen die Frauen und es kommt zu physischen Zusammenstößen in Sofia und Yambol. Die übermäßig verlängerte Quarantäne macht die Leute extrem nervös, und es kommt an vielen Orten zu Unruhen. Es ist sehr merkwürdig, dass die Resultate von der strengen Quarantäne eher ihre Problematik und Sinnlosigkeit unterstreichen – laut führenden Epidemiologen ist die Abriegelung der Roma-Viertel eine unwirksame Maßnahme, weil das Virus weiterhin im geschlossenen Viertel, in den Häusern und Familien zirkuliert.
Die Aufstellung von Kontrollpunkten ist das größte Menschenrechtsproblem
Ende März wurden, ähnlich wie „Filipovzi“ und „Fakulteta“, auch andere Roma-Viertel in anderen Städten abgeriegelt. Kazanlak gehört zu den ersten Städten, die ihre Roma-Bevölkeung isoliert hat, obwohl es keinen einzigen Corona-Fall gab. Diese flagranten diskriminierenden Handlungen geschehen vor den geschlossenen Augen der Strafverfolgungsbehörden auf nationaler und lokaler Ebene und mit der überwältigenden Zustimmung der bulgarischen Medien. Auf höchster Ebene wird die Äußerung eines Politikers der nationalistischen Partei (Angel Dschambaski IMRO – Bulgarische Nationale Bewegung) ignoriert, nämlich dass die Roma-Viertel ein „Nest der Ansteckng“ seien. Es fehlt auch eine kritische Reaktion auf die Äußerungen hochrangiger Regierungsvertreter und der Justiz, welche die Covid-19-Maßnahmen, die sich ausschließlich an die Roma richten, unterstützen.Nach Ablauf des ersten Monats wurden Kontrollpunkte in den Städten Peschtera, Yambol, Nova Zagora und Sliven eingeführt. Die Kontrollpunkte blieben an den Ein- und Ausgängen der Viertel bis Ende April bestehen. Die repressiven Maßnahmen werden von den nationalen und internationalen Beobachter*innen kritisiert. Starke Diskriminierung sehen sie an Orten ohne Zugang zur Wasserversorgung und zu sanitären Einrichtungen. UN-Sonderberichterstatter*innen haben die bulgarische Regierung auf einige der drastischen Beispiele, z.B. Nova Zagora, Sliven und Kazanlak, hingewiesen. Die Berichterstatter*innen fordern ein Ende der diskriminierenden Covid-19-Maßnahmen in den segregierten Roma-Vierteln der Stadt sowie Einstellung der Polizeieinsätze.
Besonders kritisch sind die Einschränkungen in Yambol. Die restriktiven Maßnahmen waren völlig unverhältnismäßig in Bezug auf das Prozentverhältnis der Roma-Bevölkerung – über fünftausend. Aufgrund des clusterähnlichen Charakters der Infektionen gab es eine Zeitlang eine erhöhte Anzahl positiver Proben in bestimmten Familien, doch wegen Mangel an Ärzt*innen und Pflegepersonal konnten weitere Abteilungen für Corona-Infizierte nicht eröffnet werden. Dieses Defizit des Gesundheitssystems der Stadt war dem Bürgermeister und der Regionalen Gesundheitsorganisation bekannt. Ein Höhepunkt der unmenschlichen Behandlung wurde durch das Versprühen von Desinfektionsmitteln aus Hubschraubern und durch den Einsatz von Drohnen in diesen Vierteln erreicht. (Drohnen werden auch in den Sofioter Gettos eingesetzt, um die Einhaltung der Quarantäne zu überwachen.)
Wie Menschen trotz der repressiven Maßnahmen Menschen bleiben
Viele Aktivist*innen aus Nichtregierungsstrukturen bieten den regionalen Gesundheitsinspektor*innen Hilfe und Unterstützung an, wenn positive Coronavirus-Fälle festgestellt werden und Quarantänemaßnahmen ganze Familien betreffen. Pflegepersonal und Hebammen zusammen mit Gesundheitsmediatoren, ausgebildet an einer der renommiertesten privaten Universitäten (NBU) in Bulgarien, arbeiten mit jungen schwangeren Frauen und Müttern aus Familien in den Vierteln „Fakulteta“, „Filipovzi“, „Hristo Botev“ (Sofia), „Stolipinovo“ und „Scheker mahala“ (Plovdiv). Freiwillige in dem Roma-Viertel „Nov pat“ (Vidin) verteilen Informationsbroschüren mit Verordnungen zum Schutz vor Covid-19. Sie helfen der Bevölkerung, Masken zu nähen. Die Gesundheitsmediatoren tragen die bedürftigsten Menschen in Verzeichnisse ein und versorgen sie danach mit Lebensmitteln. Andere verteilen Unterrichtsmaterialien in den Vierteln, was besonders wichtig ist, denn viele Roma-Kinder verfügen über keine Computer und Tablets für den Fernunterricht.Die Aktivist*innen, die in ihrer Mehrheit der ethnischen Gruppe angehören, besuchen jeden Tag die unter Quarantäne gestellten Personen und desinfizieren die öffentlichen Räume. Aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit unterstützen sie die Menschen bei der Arbeitssuche – sie begleiten sie vor Ort zu den Arbeitsämtern, füllen ihre Dokumente aus und informieren sie über passende Beschäftigungsförderungsprogramme. Die jüngeren Leute – bis 29 Jahre – sind die am aktivsten. Sie interessieren sich besonders für das Programm „Bereit für Arbeit“. Als eine gute finanzielle Unterstützung erweist sich die Möglichkeit für Eltern von Kindern zwischen 3 und 12 Jahren, ihre arbeitslosen Verwandten als Kinderpfleger*innen anzumelden.
Frauen, Männer und Kinder bemühen sich, die Sondermaßnahmen einzuhalten. Die Großveranstaltungen wurden sofort auf unbestimmte Zeit verschoben. Bis Ende Mai gab es keine Abibälle, Hochzeiten, Geburtstage, die Kirchen sandten die Dienste nur online. Die Angst vor Arbeitslosigkeit hat inmitten des Ausnahmezustandes allmählich die Angst vor Ansteckung übertroffen. Fast die Hälfte der Bewohner*innen im erwerbsfähigen Alter ist entweder entlassen oder in Zwangsurlaub geschickt. Diejenigen, die im Rahmen eines Arbeitsvertrags beschäftigt sind und eine Erklärung vom Arbeitgeber vorweisen können, dürfen das Viertel auch während der Blockade verlassen, doch die Nachricht, dass „Fakulteta“ ein Herd der Coronavirus-Infektion ist, übt einen negativen Einfluss aus. Viele Menschen verlieren mittelfristig ihre Arbeit (wie bereits oben erwähnt, ist die Beschäftigung im Allgemeinen problematisch).
Die meisten geraten in diese Lage, nicht weil sie arbeitsunfähig sind oder weil der Arbeitgeber keine Möglichkeit hat, Angestellte zu beschäftigen, sondern aufgrund der „Information“, dass sie ansteckend seien. Dies wird zu den traditionellen Vorurteilen und Stereotypen hinzugefügt, was die Arbeitssuche fast hoffnungslos macht. Viele Roma versuchen, Tag für Tag Arbeit auf dem grauen Markt zu finden. Folglich bedeutet das, dass sie den Anforderungen der staatlichen Entschädigungsregelungen nicht nachkommen. Die Heimkehrer aus Westeuropa, die zu Beginn der Pandemie aus finanziellen Gründen zurückgekehrt sind, haben zu Hause keine Krankenversicherung und Sicherheitsnetze.
Die Roma aus Sofia meinen: „Wenn es in einem Wohnblock in einem dicht besiedelten Viertel wie „Lyulin“ fünf infizierte Personen gibt, müsste dann der ganze Wohnblock unter Quarantäne stehen? Wären die Maßnahmen überall streng, würde uns das nicht so wehtun, und wir würden uns nicht als Ausländer in unserem eigenen Land fühlen!“ Diskriminierung ist ein ernstes Problem, in welchem Konfrontations- und Unruhepotential steckt. In einer pandemischen Situation führt dieses Problem zu Traumata und langfristigem Pessimismus bei den besonders schutzbedürftigen Minderheiten.
Das Goethe-Institut Bulgarien bezieht in dieser Frage keine Stellung, sondern bietet lediglich den Raum für eine faire und sachliche Debatte. Für den Inhalt der einzelnen Artikel sind die jeweils benannten Autoren verantwortlich.