Menschenrechte
Schulbildung in zwei Geschwindigkeiten
Covid-19 trieb Prozesse an der Schulbildung in Bulgarien voran, die seit Jahren stagnierten. Über die Herausforderungen und die Schwierigkeiten des Schulsystems in Corona-Zeiten erzählt Dr. Marta Metodieva.
Von Dr. Marta Metodieva
Nach der Einführung des Ausnahmezustands wegen der COVID-19-Krise musste das bulgarische Bildungsministerium schnell und flexibel reagieren, um einen zufriedenstellenden Übergang zum Online-Unterricht zu gewährleisten. Das bulgarische Bildungssystem hat diese Probe überraschend gut bestanden angesichts der jahrelang aufgeschobenen Probleme und der begonnenen Reformen, die eigentlich kaum Effekte erzielt hatten. Innerhalb eines Monats konnten die bulgarischen Schulen und deren Lehrpersonal einen provisorischen Online-Unterricht auf die Beine stellen, um den Abschluss des Schuljahres zu ermöglichen. An einigen Schulen konnte dies vollständig umgesetzt werden, an anderen jedoch nicht.
Verschiedene Faktoren führten dazu, dass in der Krisensituation die Schulbildung in zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten verlief, deren Ablauf nicht vorauszusehen war. Der Übergang zum Distanzunterricht sollte vor dem Hintergrund des EU-Kommission-Berichts umgesetzt werden, in dem festgestellt worden war, dass die Qualität und die Inklusionsfähigkeit der Schulbildung in Bulgarien nach wie vor sehr problematisch sind, da sich die Durchschnittsleistungen der Schüler*innen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften im Vergleich zu den Ergebnissen aus dem Jahr 2015 nicht verbessert hatten und wesentlich niedriger lagen als die Durchschnittsergebnisse in der EU.
In den veröffentlichten Beobachtungen wird darauf hingewiesen, dass Bulgarien zu den Mitgliedstaaten gehört, in denen der sozialökonomische Status am stärksten die Lernergebnisse beeinflusst und die soziale Segregation am deutlichsten ausgeprägt ist: die Durchschnittsleistungen der Schüler*innen aus dörflichen Regionen im Lesen lag um 115 Punkten niedriger als die entsprechenden Leistungen in Städten, was mit einem Unterschied von drei Jahren Schulbesuch gleichzusetzen ist. In Bulgarien besteht die Tendenz, dass die Schüler*innen nach ihren Leistungen sowie nach ihrem sozialökonomischen Status in Gruppen eingeordnet werden.
Die Regierung hat zwar eine Reihe von Maßnahmen zur Bewältigung der Probleme in Bezug auf Qualität und Gleichheit im Bildungswesen getroffen, doch die Ergebnisse ihrer Effektivität stehen noch aus. Infolge von Covid-19 sind neue Herausforderungen hinzugetreten, vor allem die Einbeziehung der Roma-Kinder in das bulgarische Bildungsprogramm. Die Segregation an den Schulen sowie die Hindernisse infolge äußerster Armut machen diesen Prozess besonders kompliziert. Nach neuesten Angaben beenden nur 34% der Roma-Kinder die Grundstufe und 44% die Mittelstufe.
Die Armut der Roma-Bevölkerung und der Distanzunterricht
Die Zahlen, die die technische Versorgung vieler bulgarischer Kinder aus Minderheiten-Gruppen für die Teilnahme am Fernunterricht erfassen, sind eindeutig. Laut einer EU-Studie über Einkommen und Lebensqualität (EU-SILC) im Jahre 2017 verfügen 52,5% aller Haushalte in Bulgarien über einen Computer, bei den Roma-Haushalten sind es nur 21%. Bei sozialhilfebedürftigen Haushalten betragen die Computerbesitzer 20%, bei den sozialschwachen Roma-Haushalten ist die Situation ähnlich (14%).Es handelt sich um 40 000 arme Roma-Haushalte mit Kindern, für die keine Voraussetzungen bestehen, in den Distanzunterricht miteinbezogen zu werden. Von allen Sozialhilfeempfängern mit einem oder mehreren Kindern verfügen 34% über einen Computer. D.h., etwa 57 000 von Armut betroffene Haushalte mit Kindern haben keinen Computer zu Hause. Es hat sich herausgestellt, dass unter den sozial anfälligen Gruppen das Risiko eines Mangels an Digitalfertigkeiten sehr hoch ist, bei den Roma liegt er noch höher. Was Internetnutzung betrifft, haben 52% der Bevölkerung Internetzugang zu Hause, bei den Roma sind es nur 21%. Etwa 47 000 Kinder haben keinen Internetzugang zu Hause, 24 000 davon sind Roma-Kinder.
Die Bildungsmediator*innen und deren Rolle während der Corona-Krise
Trotz schwieriger Startposition, die bei vielen Roma-Kindern Grund für die schlechten Ergebnisse des Online-Unterrichts war, vermochten Vertreter*innen der Gemeinschaft mit Hilfe verschiedener Roma-Organisation bei einer nicht unbedeutenden Anzahl von Roma-Schüler*innen die Lernchancen in der Krisensituation zu verbessern. Schon Anfang April veröffentlichte die Roma-Organisation „Amalipe“ ermutigende Daten dazu. Im Rahmen der Initiative „Alte Technik für einen Neubeginn“, die vom Zentrum „Amalipe“ organisiert wurde, begannen die Bildungsmediator*innen mit der Austeilung von Lehr- und Informationsmaterialien in den Roma-Vierteln und Siedlungen. Ziel der Initiative war, alle Kinder zu erfassen, die am Distanzunterricht nicht teilnehmen konnten, indem ihnen von Lehrer*innen und Klassenleiter*innen vorbereitete Lehrmaterialien und Arbeitsblätter zur Verfügung gestellt wurden.Der Bildungsmediator Tihomir Georgiev aus Krivodol verteilte jeden Tag im Roma-Viertel Informations- und Lehrmaterialien unter den Schüler*innen, die sich am elektronischen Unterricht nicht beteiligen konnten. Sein Kollege Mehriban Shenol Mehmed von der Grundschule „Vasil Levski“ im Dorf Gradishte legte täglich 80 km zurück, um Lehrmaterialien denjenigen Schüler*innen bereitzustellen, die keinen Internetzugang haben. Diese Schule erfasste die Kinder von sieben Dörfern, die alle besucht werden mussten, damit kein einziges Kind vom Bildungssystem ausgeschlossen blieb. Die Bildungsmediatorin Anelia Ilieva besuchte die Familien im Dorf Borovan, um den Kindern Tablets zu bringen, die von der Schule zur Verfügung gestellt wurden.
Rettungsaktivitäten vonseiten des Staates
Obwohl die vollständige Bilanz über die Ergebnisse von drei Monaten Online-Unterricht noch nicht vorliegt, steht schon jetzt fest, dass ca. 3% der Schüler*innen in keiner Form am Distanzunterricht nach seiner Einführung am 16. März teilgenommen haben. Etwa ein Drittel der Schüler*innen beteiligte sich nur am asynchronen Lernen, wobei sie ihre Aufgaben über Anwendungsprogramme bekamen oder, wie schon erwähnt, durch Bildungsmediator*innen bzw. Lehrer*innen. Aus verständlichen Gründen ist es sehr wahrscheinlich, dass sie sich den Inhalt der Lehrmaterialien nicht in ausreichendem Maße angeeignet haben. Dies betrifft besonders die Schüler*innen aus Familien, die nicht genügend Geräte mit Internetanschluss oder überhaupt keinen Internetzugang haben.Für solche Schüler*innen ist ein zusätzlicher Anwesenheitsunterricht vorgesehen im Rahmen des Projekts „Unterstützung zum Erfolg“. Dabei wird nur partielle Anwesenheit gefordert, bis Mitte Juni wurden 54 000 Kinder erfasst und die Initiative wird auch im Juli fortgesetzt. Der Unterricht wird in dieser ad-hoc-Variante sowohl von Lehrer*innen der entsprechenden Schulen erteilt als auch von speziell ausgebildeten Lektor*innen des Programms „Gemeinsamer Unterricht“.
Wie kam die Schulbildung in zwei Geschwindigkeiten zustande
Unter Berücksichtigung der angeführten Daten ist es verständlich, weshalb das Ministerium für Bildung und Wissenschaft die Schulen nicht verpflichtet hat, ganzheitlich den synchronen Unterricht einzuführen, obwohl zahlreiche gute Plattformen für Online-Unterricht vorliegen und die besten davon auch kostenlos angeboten werden. Es ist offensichtlich, dass sich mehr als 50 000 Kinder an einem solchen Bildungsprozess gar nicht beteiligen könnten, nicht nur wegen Mangel an Geräten und Internetzugang, sondern auch wegen der Kompliziertheit der Durchführung dieses Lernformats – das Kind braucht zu Hause dafür einen separaten Arbeitsplatz, um in Ruhe hören und mitarbeiten zu können, ohne von der Umgebung gestört zu werden. Kaum 1% Roma-Familien könnte sich diesen Luxus leisten.Die freie Wahl zwischen den zwei Unterrichtstypen enthielt jedoch eine doppelte Gefahr. Es blieb völlig unklar, warum mehrere Schulen ohne Roma-Kinder nicht den synchronen Unterricht eingeführt haben, obwohl nach einer Umfrage des Bildungsministeriums die meisten Eltern dessen Einführung unterstützten und die notwendigen technischen und räumlichen Bedingungen dafür hatten. Außerdem waren mehrere Schulen in der Lage, Ressourcen für die Lehrer*innen aufzutreiben, die nicht über geeignete Geräte verfügten oder mit den Herausforderungen des Online-Unterrichts nicht fertigzuwerden vermochten. Auch wenn es in einem bestimmten Lehrerteam Personen gegeben hätte, die kategorisch den synchronen Unterricht ablehnten, wäre es doch möglich gewesen, ein gemischtes Programm mit synchronem und asynchronem Lernen anzubieten.
Die asynchrone Unterrichtsform: eine nicht gelungene Imitation
Das Grundproblem des asynchronen Lernens besteht darin, dass es eigentlich nur einen Unterrichtsprozess imitiert. Wo dieses Lernformat die einzige Möglichkeit bleibt, stellt es gewissermaßen eine Rettung dar. Es bedarf jedoch einer Kompensation durch reale Anwesenheit in der Schule und durch direkte Kontakte mit den entsprechenden Fachlehrer*innen. Doch in einem Umfeld, wo es nicht unbedingt notwendig ist, ist das asynchrone Lernen von zwei sehr unzuverlässige Faktoren abhängig: von der Hilfe der Eltern sowie von der persönlichen Verantwortung und der Fähigkeit der Kinder, selbständig zu lernen.Aus den vorliegenden Daten ist ersichtlich, dass die bulgarischen Schüler*innen auch unter normalen Bedingungen mit der Aneignung des Unterrichtmaterials nicht besonders gut zurechtkommen, trotz der Unterstützung vonseiten der Lehrer*innen und der Schule. Was ist nun zu erwarten, wenn diese Unterstützung nicht vorliegt und die Kinder sich selbst überlassen sind? Oft springen dann die Eltern als Lehrer ein, doch auch wenn sie gut gebildet sind und alles für ihre Kinder tun, können sie die entsprechenden Fachlehrer*innen nicht vollkommen ersetzen. Es besteht auch die Gefahr, dass sie eher dem Lernprozess schaden als unterstützen aufgrund von Mangel an didaktischer Erfahrung.
Die außerordentliche Krisensituation von Covid-19 war für das Schulsystem eine besondere Herausforderung. Es hat sich gezeigt, dass viele Grund- und Mittelschulen über Online-Erfahrungen verfügen, deren Schüler*innen ausreichende Computerkenntnisse haben, Multimediaprojekte entwickeln können und somit den Schulen ein technologisch angemessenes Profil verleihen. Der Online-Unterricht deckte aber zugleich Defizite auf, die den Bildungsbehörden seit Langem bekannt waren. Die Quarantänemaßnahmen wurden nur an Schulen eingeführt, wo auch vorher das synchrone Lernen die dominierende Unterrichtsform war. Wo dies nicht der Fall war, konnte es keinen zuverlässigen Anknüpfungspunkt geben, nach dem das real Geleistete, also die Menge der erteilten Unterrichtseinheiten und der angeeigneten Kenntnisse, einzuschätzen wären.
Demzufolge ist also die Anzahl der Schüler*innen, die im Sommer wegen unzureichendem Lernfortschritt Zusatzunterricht brauchen, viel höher als die genannten 54 000 und erfasst durchaus nicht nur Roma-Kinder. Zu erwarten ist, dass die drei Monate selbstständigen Lernens der Schüler*innen durch Investitionen der Eltern in Privatunterricht kompensiert werden müssen, um die Lücken in verschiedenen Fächern zu schließen. Vonseiten des Staates liegt vorläufig keine Information über eine finanzielle Unterstützung einer Rettungslösung dieser Art vor.
Uneinheitliche Rückkehr zur Schulroutine
Covid-19 hat die Kinder aus den Schulen von heute auf morgen und für unabsehbar lange Zeit verbannt. Besonders schwerwiegend ist, dass in Bulgarien der Ausnahmezustand nach zwei aufeinander folgenden Grippeferien eingeführt wurde. Die Anpassung an die neue Lern- und Arbeitsweise war eine große Herausforderung, sowohl für die Schüler*innen, als auch für die Lehrer*innen, besonders an Schulen, die vollständig zum synchronen Unterricht übergingen. Da seinem Wesen nach der synchrone Unterricht nach dem realen Lehrprogramm abzulaufen hatte, war dies eine Begründung für die Beibehaltung der Schulgewohnheiten.Genau umgekehrt war der Effekt beim asynchronen Lernen, besonders bei Roma-Kindern und bei Schüler*innen mit schlechten Leistungen schon vor der Krise. Das Gemeinsame für sie alle war die Unfähigkeit zu systematischem Lernen, das häufige Fernbleiben von der Schule und diverse Kommunikationsprobleme, die das erfolgreiche Lernen beeinträchtigten. Die Erwartungen, dass bei der Einführung von Synchronunterricht die Schüler*innen mit niedrigeren Leistungen und ohne Lernmotivation den Großteil derjenigen ausmachten, die sich nicht am Unterricht beteiligen, haben sich leider bestätigt.
Eine selbstverständliche Folge dieser Situation wird es wohl sein, dass bei Wiederherstellung des normalen Unterrichtprozesses die größten Schwierigkeiten bei der Rückgewöhnung gerade diese Schüler*innen haben werden. Für die Lehrer*innen wird es noch schwieriger sein, den richtigen und angemessenen Zugang zu ihnen zu finden, es wird sicherlich eine zusätzliche Vorbereitung sowie weitere Arbeit notwendig sein. Alle, die in die Schule zurückkehren – Schüler*innen sowie Lehrpersonal – sollen die „aus der Not heraus“ gesammelten Erfahrungen kritisch aufarbeiten. Die Gefahr ist noch nicht endgültig vorbei, doch die Verwaltung und die Lehrer*innen an den Schulen werden zweifellos nach Möglichkeiten suchen, zum gewohnten Rhythmus zurückzukehren. Dies setzt Empathie und Verständnis für diejenigen voraus, die Mitglieder ihrer Familie infolge der Krankheit verloren haben oder die selbst krank wurden, die Schulgemeinschaft sowie die Beziehungen innerhalb dieser werden wahrscheinlich auch neu zu etablieren sein.
In den einzelnen Rückkehr- und Wiederherstellungsphasen zurück zum gewohnten Rhythmus und zur Unterrichtsroutine werden nicht wenige der Schüler*innen vor dem Problem stehen, sich Lerninhalte anzueignen, Regeln einzuhalten, die stundenweise Einteilung des Tagesablaufs zu berücksichtigen und sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. So wie die Folgen der Covid-19-Krise für das Gesundheitswesen und für die Wirtschaft noch abzuschätzen sind, werden auch die Konsequenzen für das Schulwesen und der Schaden, der durch die Krise verursacht wurde, noch festzustellen und zusammenzufassen sein. Man sollte zugeben, dass trotz der beschriebenen Schwächen und Herausforderungen im Bildungsprozess auch positive Tendenzen und Leistungen verzeichnet werden konnten. Es ist wichtig, neben der Lösung der zu erwartenden neuen Probleme das Positive zu erhalten und weiter zu entwickeln.
Das Goethe-Institut Bulgarien bezieht in dieser Frage keine Stellung, sondern bietet lediglich den Raum für eine faire und sachliche Debatte. Für den Inhalt der einzelnen Artikel sind die jeweils benannten Autoren verantwortlich.