New Stages Southeast 2023
Bühnenpräferenzen und das Politische

Violeta Decheva Text
Internationale Triennale der Bühnenplakate | © Shipka 6 Galerie

Sollten wir Kunst und Politik zusammen denken, oder sind diese beiden Sphären besser gegensätzlich? Wie kann ein dramaturgischer Text die Integrität des herrschenden politischen Diskurses stören, und gibt es in unserem Land heute überhaupt noch einen Platz für politische Theaterkunst? Frau Professor Violeta Decheva geht diesem Thema nach.

Von Violeta Decheva

Der Text von Violeta Decheva ist Teil der Broschüre zur dritten Ausgabe des Festivals für neue Dramaturgie des Goethe-Instituts - New Stages Southeast. Das diesjährige Programm ist dem Thema "Drama und Politik" gewidmet.


Was versteht man heute unter politischem Theater? Was macht das Theater politisch? Gibt es Bedingungen, die ein Theater zu erfüllen hat, um als politisch bezeichnet zu werden? Sind diese Bedingungen ästhetisch oder institutionell oder beides? Könnten die Bedingungen, unter denen Theater gemacht wird, ein ausreichender Grund sein, um das Artefakt als politisch zu definieren? Wie wird die ästhetische Form eines Theaterkunstwerks durch politisches Denken geprägt? Sollten wir die Kunst und das Politische in einem Topf werfen, oder sollten diese beiden Bereiche besser einander entgegenwirken? Natürlich gibt es auf diese Fragen keine eindeutige Antwort.

In den letzten mehr als zwei Jahrzehnten haben allerdings verschiedene Praktiken im Theaterbereich entweder versucht, eine Antwort darauf zu finden, oder sie selbst stellten eine direkte und praktische Antwort, ohne zwangsläufig durch diese Fragen provoziert zu werden. Ich denke dabei an die Tatsache, dass es unter den Theatergruppen, Künstlern, Autoren und Dramatikern, die sich selbst als politisch bezeichneten, nicht selten Werke gab, die wir kaum eindeutig als politisch definieren können. Und umgekehrt: oft kam es vor, dass die Werke von Regisseuren oder Dramatikern, die sich gar nicht als Vertreter eines politischen Theaters sahen, genauso wirkten. Das ist der Fall beispielsweise bei den Stücken von Sarah Kane. Daher hat Hans-Tees Lehmann in seinem 2002 erschienenen gleichnamigen Buch vom politischen Schreiben als einer ästhetischen Form gesprochen, die Abbrüche und Einbrüche schafft oder letztlich die Integrität des herrschenden politischen Diskurses ver-/zer-/stört. Die Theaterstücke von Sarah Kane waren für ihn eine solche dramaturgische Form.

Egal, wie die Schöpfer dieser Praktiken sich selbst bezeichneten, es ist jedoch unbestritten, dass die Veränderungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten infolge der drastischen Modernisierung bei den neuen Technologien eingetreten sind, die zur digitalen Revolution und den neuen Medien geführt haben, zu Veränderungen in unserem Verständnis der Realität im Allgemeinen geführt haben. Nicht zufällig lief das 6. Festivals „Politik im Freien Theater“, das 2005 in Berlin (HAU) stattfand, unter dem Motto „Sehnsucht“. Die Veranstalter, darunter die Bundeszentrale für politische Bildung, erklärten, das Festival inszeniere „die Sehnsucht nach dem wahren Leben hier in Berlin“ und wolle „Bekanntes in Frage stellen und Unbekanntes begreifbar machen“. Sabina Zwech und Odette Ineati, die Kuratorin und die Leiterin der Veranstaltung, argumentierten: „Groß ist die Sehnsucht nach einem Theater, das unabhängig ist, das sich nicht den ökonomischen Zwängen beugt und nicht in der Wahl populistischer Themen und Ästhetiken erliegt.“ Man suchte nach einer lebendigen Beziehung der Theatereinrichtungen zu den sich wandelnden gesellschaftlichen Realitäten, sowohl aus der Sicht des staatlich subventionierten Theaters als auch aus der Sicht der „Freien“. Kurzum, das Theater musste seine Sensibilität für diese Veränderungen schärfen, um seine Fähigkeit zu bewahren, gesellschaftlich relevant zu agieren. In diesem Sinne hat der Prozess des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels zusammen mit den Veränderungen in den neuen Technologien und Medien, in der Biologie, der Genetik und dem globalen Klimawandel sehr schwerwiegende Veränderungen im Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehungen und der menschlichen Person in den heutigen Gesellschaften ausgelöst. Unter diesem Aspekt mussten die Theatermacher nicht nur den Begriff der Theatralität in einer Gesellschaft überdenken, in der sich jeder vor seiner eigenen Kamera und seinem eigenen Telefon selbst inszeniert, sondern auch das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität im Allgemeinen, das für das Verständnis und die Konstituierung der theatralen Realität grundlegend ist. So entstand die Bewegung der unabhängigen Theatergruppen, die am schnellsten auf die sich abspielenden Veränderungen reagierten und stehenden Fußes nach Antworten suchten. Mit anderen Worten: Es entstand das Bestreben, das Theater politisch relevant zu machen.

Das Ziel der entstehenden Theatergruppen bestand zunehmend darin, die Verbindung des Theaters zu den sozial wichtigen Themen in einer Situation zu bewahren, in der neue Medien, Videospiele, Fernsehen, Film (eine Filmkunst, die mit Kino- und Fernsehserien und entstehenden Streaming-Plattformen wie Netflix oder HBO experimentierte) eine neue Zone zwischen dem Virtuellen und dem Realen abgrenzten, in der sich verschiedene Arten von Realitäten – virtuelle, fiktionale, science-fictionale, dokumentarische, usw. – überschnitten. Vor diesem Hintergrund war es für einen Großteil des Theaters in Europa das Wichtigste, gesellschaftlich relevant zu sein. Und das bedeutete in gewissem Sinne auch politisch zu sein. Viele dieser neuen Praktiken, Ensembles oder Truppen hatten nur ein kurzes Leben und verschwanden dann wieder. Aber einige von ihnen – wie das Rimini-Protokoll, Forced Entertainment, She She Pop oder das 2007 von Milo Rau gegründete International Institute of Political Murder (IIPM) und viele andere – bildeten längerfristige Perspektiven und etablierten sich. Dieser Prozess betraf natürlich nicht nur „freie“ Theatergruppen. Die Berliner Volksbühne und Schaubühne waren Teil der Geschichte der Veränderungen im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Theater und dem Politischen, um nur zwei der bekanntesten zu nennen.

Indem das Spiel von und mit den Realitäten zur wichtigsten theoretischen Achse dieser Art von Theaterpraktiken wurde, begann man, das Verhältnis zwischen Dokument und Fiktion neu zu überdenken, was wiederum die Tradition des Dokumentartheaters aus den 70er Jahren wiederaufleben ließ. Erwin Piscator gab seinem 1929 erschienenen Buch den Titel „Das politische Theater“, um ein Theater zu definieren, das auf der Betonung seiner politischen Relevanz bestand. Seine Experimente mit narrativen Techniken auf der Bühne leisteten einen Beitrag zu Brechts epischem Theater, aber sie bildeten auch die Grundlage des von ihm in den 60er Jahren gegründeten Dokumentartheaters. Mit anderen Worten: Das Dokumentartheater und die Ideen des Dokumentartheaters im Allgemeinen wurden in den letzten mehr als 20 Jahren zu völlig neuen Praktiken umgedeutet. Sie haben auch die Wahl der freien (unabhängigen) Theaterszenen in Bulgarien geprägt. Die Entwicklung dieser Praktiken im unabhängigen Segment hatte wiederum einen großen Einfluss auf das Repertoiretheater / das staatlich finanzierte Theater. Es handelt sich um Gruppen wie „Еine wahre Geschichte“, die sich leider aufgelöst hat, aber vor allem um das Studio für Dokumentartheater „Vox Populi“ (2012), die Organisation für zeitgenössische alternative Kunst und Kultur „36 Monkeys“ oder die Plattform „Künstler für Gewaltfreiheit“ (2018), die auf unterschiedliche Weise mit der Dramaturgie der Be-/Verarbeitung von Dokumentationen arbeiten. Was sie gemeinsam haben, ist, dass jede Gruppe in ihrer Arbeit eine Beziehung zwischen Dokument und Fiktion herstellt. In ihren Aufführungen benutzt Waskresia Wiharova zum Beispiel Aufnahmen von Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, und verwandelt diese Aufzeichnungen in eine Interaktion mit dem Publikum, wobei die Realitäten des Theaters und des verwendeten Materials deutlich abgegrenzt wurden.

In den Inszenierungen von Gergana Dimitrova liegt das dokumentarische Material in den Stücken von Zdrava Kamenova, und so formen die beiden die Bühnenrealität um ein Thema, das sie als provokant und gesellschaftlich relevant betrachten. Die Arbeit des Studios für Dokumentartheater „Vox Populi“ ist eindeutig mit den Ideen des Verbatim Theatre verbunden. Und da dies die vorherrschende Vorgehensweise unter den Genannten ist, möchte ich gern ein paar Worte dazu sagen.

Das Verbatim-Theatre ist eine Art neo-dokumentarisches Theater, das auf von realen Menschen erzählten Geschichten basiert. Diese werden von der Theatertruppe aufgezeichnet und von den Schauspielern vorgeführt, während sie mit Kopfhörern den Stimmen der Aufgenommenen zuhören und sie im Moment des Zuhörens dem Zuschauer vorspielen. Daher auch der Name – glaubhaftes Theater. Oder auch life-theatre (Lebenstheater) genannt. Seine Ursprünge liegen in der Arbeit des Piscator-Theaters in den 20er Jahren (zum Beispiel Troztalledem, 1925), in einigen Experimenten Stanislavskys (zum Beispiel in seiner Arbeit an Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe), in der russischen historischen Avantgarde der 20er Jahre, im Dokumentartheater von Peter Weiß und Rolf Hochhuth und im Theater der 60er und 70er Jahre, und später in der Dramaturgie von Caryl Churchill oder Eva Ensler. Dies ist die grobe Zusammenfassung einer langen theatralischen Erfahrung, die von vielen Figuren des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen wurde, deren Vorstellung hier überflüssig wäre. Ich erwähne es, weil das Studio für Dokumentartheater „Vox Populi“ in diese Perspektive gut passt. Es war der erste Versuch in Bulgarien, der die jüngste Welle des Dokumentartheaters der letzten 20 Jahre präsentiert, und zwar insbesondere das Verbatim Theatre, das seinen Ursprung im britischen Theater und insbesondere im Royal Court der 90er Jahre hat. Von dort aus verbreitete es sich in den USA, Russland und Europa. Diese Form des Theaters ist vor allem durch die Verbatim-Dramaturgie bekannt, die auch von der Non-Fiction-Literatur und Lars von Triers Dogme inspiriert ist. Das bulgarische Publikum lernte sie durch Ivan Vyrypaevs Stücke kennen, zum Beispiel durch „Oxygen”, das Galin Stoev aufführte und dessen Autor mit seiner eigenen Aufführung bei theatre.doc (Moskau) 2003 im Theater 199 gastierte. In Bulgarien hat vor allem Voxpopuli die Technik der Verbatim-Inszenierung entwickelt, wobei er spezifische, wichtige gesellschaftliche Themen auswählte und schon wichtige Inszenierungen hinter sich hat. Die Verbatim-Dramaturgie hat jedoch in Bulgarien weniger Anhänger. Dennoch möchte ich das Stück „Unschuldige Mörder” von Desislava Gavrilova erwähnen, das für das Studio für Dokumentartheater geschrieben wurde und von Neda Sokolovska unter dem Titel „Found during the inspection” (2016) aufgeführt wurde. Diese Art von Dramaturgie funktioniert nach Ansicht einiger Theaterkritiker wie eine soziologische Studie. Dies ist in der Tat der Ausgangspunkt, wenn der eigentliche Produktionsprozess in Gang gesetzt wird. Der Autor oder die Autoren des Stücks (es können mehrere sein) führen praktisch eine solche Studie durch, indem sie Material zu einem bestimmten Thema, einem Fall oder einem Sachverhalt sammeln, den sie für besonders wichtig halten. Dies war bei Gavrilovas Stück der Fall. Sie schilderte den Mordsfall am 10. Juli 2011 im Borisova-Garten an der 28-jährigen Yana Krysteva und das Schicksal des Angeklagten, der für dieses Verbrechen verurteilt wurde und sich später als unschuldig erwies. In diesem Sinne thematisierten die Autorin und die Regisseurin die Probleme mit dem Justizsystem in Bulgarien.

Mir scheint, dass diese Art von Theaterpraxis, die auf einem Überdenken des Verhältnisses zwischen Dokument und Fiktion beruht, oder generell gesagt, die Praxis des neodokumentarischen Theaters, für die Beziehung zwischen Theater und dem Politischen am deutlichsten relevant ist. Das andere, bedeutsamere Segment des zeitgenössischen Theaters in Bulgarien, das mit dem Politischen in Verbindung gebracht werden kann, ist das zeitgenössische Tanztheater und die Performance. Allerdings werden diese zwei Arten von Theaterpraktiken vor allem in der so genannten freien Kunstszene umgesetzt. Institutionell sind sie von der 2009 gegründeten Gesellschaft für freies Theater (ACT) vertreten. Zu ACT gehören Nichtregierungsorganisationen, Theatergruppen, Kollektive und einzelne Künstler aus dem Bereich der darstellenden Künste. Zu den vielleicht dauerhaftesten Beteiligten, die sich sowohl mit diesen Praktiken als auch mit der Beziehung zwischen Kunst und Politischem befassen, gehören folgende Organisationen und Räumen: das Rote Haus – Zentrum für Kultur und Debatte, Theaterwerkstatt Sfumato, das Jugendtheater „Nikolay Binev” (mit seinem Jugendmesse-Festival) und seit 2014 das „Wärmekraftwerk“.

Die Präferenzen der bulgarischen Bühne in Bezug auf die Beziehung zwischen Theater und Politischem werden letztlich durch die Fähigkeit des Theaters bedingt, gesellschaftlich relevant zu sein. Und bislang trifft dies vor allem auf einen Teil des freien Theaters in Bulgarien zu.

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