Riina Katajavuori
Europa – Ziegenmilch und Stille
Das Freiraum-Projekt will sich konstruktiv mit den Problemen des heutigen Europa (zunehmender Populismus, soziale Ungleichheit, Brexit) auseinandersetzen. Der Computer loste unter den europäischen Städten Tandems aus, die mindestens tausend Kilometer voneinander entfernt sein sollten. Helsinki erhielt Sofia als Partner.
„Igo. Das war das erste bulgarische Wort, das ich gelernt habe”, sagt der Leiter des Goethe-Instituts Sofia, der Deutsche Enzio Wetzel. — Yoke, übersetzt die Simultandolmetscherin Denitsa Abadijeva für mich ins Englische. „Was?“„Na, Sklaverei. Unter der Herrschaft der Ottomanen zu stehen”, wird mir erklärt. „All das.” Enzio denkt auch über die Körpersprache der Bulgaren nach, über ihre leicht gebeugte Haltung. Sagt auch sie etwas Wesentliches aus? — Die Ottomanen, der Kommunismus, der Rand der EU. Immer ein kleiner Teil von etwas Größerem.
Ich sitze in einem Workshop des Goethe-Instituts Sofia mit dem Titel Wie kann man über schlechte Dinge gut reden und betrachtet die Bulgaren um mich herum. Während der drei Tage taucht das Wort yoke immer wieder auf. Under the yoke. Unter dem Joch? Das Wörterbuch bestätigt meine Vermutung.
Die Stille brechen
Was tut eine finnische Schriftstellerin im Goethe-Institut Sofia unter bulgarischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Lehrerinnen und Lehrern, Psychodramaregisseurinnen und -regisseuren und Hochschulstudentinnen und -studenten?Das Freiraum-Projekt und das Los des Computers hatten mich dort hingeführt. Die Goethe-Institute bilden ein einzigartiges Netzwerk mit über 40 Instituten in ganz Europa. Dieses Netzwerk sollte auf neue Art genutzt werden. Das Freiraum-Projekt will sich konstruktiv mit den Problemen des heutigen Europa (zunehmender Populismus, soziale Ungleichheit, Brexit) auseinandersetzen. Der Computer loste unter den europäischen Städten Tandems aus, die mindestens tausend Kilometer voneinander entfernt sein sollten. Helsinki erhielt Sofia als Partner.
Ziel des Freiraum-Projekts ist es, den Begriff der Freiheit zu erörtern, neue Netzwerke zu schaffen, neuartige Perspektiven auf den europäischen Gedanken zu finden. Während des Projekts formulierte jede Stadt für sich die Frage, die sie erörtern will. Sofia beschloss, sich mit seiner traumatischen Geschichte zu befassen, mit Tabuthemen und mit der Frage, was ein Hindernis für die Freiheit darstellt. Ich werde zum Workshop in Sofia eingeladen, weil ich an einem Kinderbuch über ein problematisches, historisches Thema schreibe. Außerdem stelle ich auch meine früheren Kinderbücher vor, in denen schwierige oder heikle Themen behandelt wurden.
Für das Buch Mennään jo naapuriin (Gehen wir endlich zu den Nachbarn) besuchte ich mit der Illustratorin Salla Savolainen und meiner damals 8-jährigen Tochter Familien mit Migrationshintergrund im Großraum Helsinki. In dem Buch werden 18 Familien und 25 Nationalitäten vorgestellt. Die Monologe der Kinder beruhen auf Interviews und auf dem, was wir bei diesen Besuchen erlebten. Zwischen den Zeilen kommen auch Krieg, Armut, Verluste zur Sprache.
In Bulgarien gibt es nicht so viele Asylbewerber oder Geflüchtete wie in Finnland. Die Asylsuchenden ziehen durch Bulgarien weiter ins innere Europas. „Sie wollen nach Deutschland – oder nach Finnland”, sagt man mir. Im Land leben jedoch große Minderheitsgruppen wie Balkan-Türken und Roma.
Ich erzähle auch von meinem Kinderbuch Sumusaaren merirosvo (Der Pirat von der Nebelinsel, illustriert von Christer Nuutinen), das sich mit dem Umweltschutz beschäftigt, und von dem Buch Meidän pihan perhesoppa (Der Familienmischmasch auf unserem Hof, illustriert von Christel Rönns). In diesem Buch werden verschiedene Familien vorgestellt, Kinder, die durch Keimzellenspenden entstanden sind, eine Familie mit zwei Müttern, Alleinerziehende usw. — "Gibt es in dem Buch auch eine normale Familie?" "Sind beide Kinder des Frauenpaares aus den Samenzellen desselben Mannes entstanden?", werde ich in der Kaffeepause gefragt.
Lest Den Kaufmann von Venedig!
In Kleingruppen werden große Fragen erörtert: Furcht vor Andersartigkeit, Rassismus, Klassenunterschiede.Eine Lektorin für Wirtschaftswissenschaften erzählt, ein Student habe eine antisemitische Bemerkung gemacht: „Die Verschwörung der Juden beherrscht die Finanzwelt, macht Seife aus ihnen.” Die Lektorin hatte die Studierenden Shakespeares Der Kaufmann von Venedig lesen lassen. „Wenn Lesen euch zu anstrengend ist, schaut euch den Film an!” Sie zwang die Studierenden, sich darüber zu informieren, warum Zinswucher dereinst Aufgabe der Juden wurde – für Christen galt er aus religiösen Gründen als unschicklich.
Die BulgarischlehrerInnen klagen über den strikten, veralteten Lehrplan, der keinen Raum für Gäste von außen oder für Kreativität lässt. Und warum ist unter den fünfzehn obligatorischen Schriftstellern im Lehrplan der gymnasialen Oberstufe nur eine Frau (die Dichterin Elizaveta Bagriana)?
Eine Literaturlehrerin aus der Stadt Montana in Nordwestbulgarien erzählt, dass viele ihrer SchülerInnen bei den Großeltern aufwuchsen. Die Eltern arbeiteten im Ausland (Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Österreich), meist in der Altenpflege. In Italien gibt es sogar eine eigene Bezeichnung für die ausländischen Arbeitskräfte in Pflegeberufen: badante.
In einer Schule in Sofia schlug ein Vater einen Lehrer, der seiner Tochter eine schlechte Note gegeben hatte. Der Lehrer zog seine Strafanzeige zurück, weil der betreffende Vater eine hohe Position bekleidete und die Polizei machtlos war. Eine andere Schülerin wurde in Obhut genommen, weil die Mutter das Kind mitnahm, wenn sie in der Straßenbahn bettelte.
Ich höre den Lehrkräften zu. Sie scheinen dankbar zu sein, dass sie endlich einmal die Möglichkeit haben, über die Probleme in ihrem Beruf zu sprechen; dafür, dass man ihnen zuhört. Auch Lösungsmodelle werden entwickelt, aber schon das Artikulieren der Schwierigkeiten scheint zu helfen.
Im Workshop wird viel über die Eltern gesprochen, über die Bedeutung des Kontakts zwischen Schule und Eltern. Ich wundere mich darüber, bis ich begreiffe, dass ich mir angewöhnt habe, die in Finnland übliche tägliche Kommunikation über das Internetsystem Wilma für selbstverständlich zu halten. Ich weiß fast in Realzeit, ob mein Kind zu spät zum Unterricht gekommen ist oder ob es das Religionsheft zu Hause vergessen hat.
Sofia-Frankfurt-Helsinki
Auf der Heimreise vertiefe ich mich in das Buch Traumas and Miracles. Portraits from Northwestern Bulgaria (2010) meiner neuen Bekannten Diana Ivanova und des aus dem Iran stammenden Fotografen Babak Salari. Das Buch berichtet in Wort und Bild von alten Menschen im ärmlichen Nordwestbulgarien, die sich an die vorkommunistische Zeit, an den Kommunismus sowie an seinen Zusammenbruch 1989 erinnern. Seit 2007 sind sie EU-Bürger. Die Strukturen ihrer Welt waren mehrmals zusammengebrochen und hatten sich verändert, doch der Boden liefert immer noch Nahrung und der Fernseher funktioniert.In ihrem Essay zitiert Diana Ivanova den französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs: "Jeder von uns trägt die Ereignisse, die seiner Geburt vorausgingen, mit sich." Für Ivanova bedeutet die Rückkehr in ihre Heimat, das ärmliche Nordwestbulgarien, zu erkennen und einzugestehen, wie erstaunlich es ist, dass sie, die aus dem ärmsten Gebiet Bulgariens und der ganzen EU stammt, sich zu einer anerkannten Dokumentaristin und Journalistin hochgearbeitet hat. Ivanova, die abwechselnd in Bonn und in Sofia lebt, hat in den 2010er Jahren in ihrer Heimat, wo es keine Internet-Verbindung gibt, das Ziegenmilch-Kunstfestival ins Leben gerufen. In meinen Ohren klingt das Ziegenmilch-Festival verwandt mit dem Stille-Festival (Hiljaisuus-festivaali), das im Dorf Kaukonen in Lappland stattfindet und bei dessen Abendveranstaltungen alles Mögliche geschehen kann.
„Danke für den Link zum Stille-Festival! Ich setze mich mit den Leuten in Verbindung”, schreibt Diana mir in ihrer Mail einen Tag nach meiner Heimkehr.