Die Ausstellung beschäftigt sich mit den verschiedenen „Rollen“, in die wir aufgrund von Vorurteilen und Erwartungen anderer schlüpfen, die auf Stereotypen in Bezug auf Geschlecht, Migrationshintergrund, sozialem Status oder Sexualität beruhen. Veneta Androva und Peter Odinzov betrachten das Leben als eine Varieté-Szene, in der wir alle in eine Rolle schlüpfen, die von jemand anderem definiert wird – unbequem, unpassend, unauthentisch. Besondere Aufmerksamkeit widmen sie jedoch dem Außenseiter: dem Bild, dem man am Schwersten entkommen kann.
Für beide Künstler*innen ist die Arbeit an dem Projekt eine Gelegenheit, sich mit sich selbst, mit den Kategorien und Etiketten, die ihnen zugeschrieben werden, auseinanderzusetzen.
Peter Odinzov geht von seiner persönlichen Familiengeschichte und einem Gemälde aus. Das einzige Gemälde, das er besaß, befand sich im Haus seiner Familie, in dem er das erste Mal Interesse an der Kunst zeigte. Dieses Gemälde, ein kitschiges Frauenporträt, von dem er später feststellte, dass es sich um einen billigen Druck auf Leinwand handelte, taucht immer wieder in seinen Erinnerungen an seine Kindheit auf, aber auch in der Beziehung zu seiner Mutter und in seinem Prozess, seine queere Identität zu erkennen. Odinzovs persönliche Erzählung ist verwoben mit seiner späteren Erkenntnis, wie sehr sein sozialer Status als Immigrant in Deutschland sein eigenes Bewusstsein und seine Verwirklichung als Künstler und queere Person beeinflusst hat, sowie mit seiner theoretischen Beschäftigung mit der Theorie der Machtverhältnisse und des Klassismus. All diese Erinnerungen und Reflexionen stehen im Mittelpunkt der vielschichtigen Installation „Lady with a Hat“, die eine malerische, zeitgenössische Interpretation des Kinderporträts und „Augmented Reality“ (zugänglich über die Artivive-App) umfasst.
Eine Art Fortsetzung der Installation ist die digitale Wandzeichnung „Behind the Scenes“, in der marginalisierte Figuren aus der schwulen und queeren Kultur hinter die Kulissen „eindringen“. Mit eigenartigem Humor (und einem Verweis auf die Cartoon-Ästhetik des Magazins New Yorker) kommentiert Odinzov die Akzeptanz der queeren Kultur in der Gesellschaft – auf der Bühne scheint alles in Ordnung zu sein, aber inwieweit ist Offenheit tatsächlich nicht nur Dekoration?
Eine Zusammenfassung von Odinzovs Erkundungen ist die Installation „Rat in the Spotlight“. Die Szene ist so liebenswert, ja sogar rührend: Der kleine Held (verkörpert durch das gewöhnlichste und am meisten verfolgte Stadttier, die Maus), der seinen Platz im Rampenlicht bekommt. Aber so künstlich und theatralisch die Bühne auch ist, so schmerzhaft falsch klingt die Botschaft, dass es für jeden einen Platz unter der Sonne gibt...
Auch Veneta Androva kritisiert die falsche Liberalität der westlichen Gesellschaften, allerdings aus dem Blickwinkel der alltäglichen Diskriminierung, der sie als Frau und Künstlerin aus Osteuropa ausgesetzt ist, sei es in der Kunst, auf dem Arbeitsmarkt oder an der Universität.
Bequem auf dem Boden ausgestreckt, erzählt eine gestalt- und namenlose Figur genau solche Erlebnisse von Androva. "Halb Frau, halb Ausländer", "Hey, Ostblock, gib mir ein Stück Papier", "Hey, was machst du da? Kommst du aus Bulgarien?". Die Zeilen sind manchmal komisch, „just a joke“, wie einer ihrer Autoren sagen würde, aber mit zunehmender Häufigkeit weicht das Komische dem bitteren Gefühl, dass unsere Etiketten vor uns hergehen.
Der Titel der Installation, „Stretch and Relax“ ist eine ironische Anspielung auf die Yoga-Praxis und die Selbstbelehrung im Internet. Wir schlüpfen ständig in Rollen, die wir nicht wollen. Meditation mag helfen, damit umzugehen und vorübergehend inneren Frieden zu erlangen, aber sie ist auf keinen Fall ein Mittel, um der alltäglichen Diskriminierung entgegenzuwirken.
Veneta Androva (*1985 in Sofia) studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Humboldt-Universität und absolvierte ein Studium der Bildhauerei an der Akademie Weißensee in Berlin. Mit einem Hintergrund in experimenteller Dokumentation und Fotografie kombiniert sie in ihrer aktuellen künstlerischen Praxis verschiedene Medien und Quellen wie Archiv- und Dokumentationsmaterial mit Malerei, alles verbunden durch 3D-Animation und computersimulierte Umgebungen. Sie hat an zahlreichen Ausstellungen in Deutschland und Bulgarien sowie in Österreich, Argentinien, Brasilien, Spanien, Polen, der Tschechischen Republik und in Israel teilgenommen, wo sie 2016-2017 einen Teil ihres Studiums an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem absolvierte. Androva wurde außerdem mit mehreren Stipendien ausgezeichnet, darunter das Elsa-Neumann-Stipendium, das Künstlerstipendium Cusanuswerk, Mart Stam und 2020 war sie mit ihrem Werk "From My Desert" für den Deutschen Kurzfilmpreis nominiert. Ihr jüngster Film "AIVA" gewann den Prix Ars Electronica 2021 in der Kategorie Computeranimation sowie den Goldenen Reiter und den LUCA Gender Diversity Award im internationalen Wettbewerb des Filmfest Dresden. Ihre Filme wurden ausgewählt und auf zahlreichen internationalen Filmfestivals präsentiert, darunter: Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, Deutschland, Go Short International Short Film Festival Nijmegen, Niederlande, FILE Electronic Language International Festival, Brasilien, European Media Art Festival (EMAF), Deutschland.
Peter Odinzov (*1987 in Fergana/Usbekistan) schloss Mitte 2018 sein Studium der Bildhauerei an der Akademie Weißensee in Berlin ab. Er lebt und arbeitet in Berlin. Seine Arbeiten wurden in verschiedenen regionalen und internationalen, meist unabhängigen Ausstellungen gezeigt. Seine erste Einzelausstellung fand 2017 im Projektraum „MeinBlau“ in Berlin zusammen mit dem Künstler Jefferson D'Andrade statt, gefolgt von einer zweiten in 2019 im „Shoe Frog“ in Wien. Er arbeitet häufig mit verschiedenen Künstler*innen und Kollektiven zusammen und ist Teil von Projektgruppen in Institutionen wie dem ZKM Karlsruhe, dem Schwulen Museum* Berlin und der Casa Franca Brazil in Rio de Janeiro.