Verlagswesen
Ist das Wort Solidarität das wichtigste Wort?
„Dies ist die schönste Zeit. Dies ist die schlimmste Zeit. Machen Sie das Beste draus!“, schreibt die berühmte kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood in ihrem kurzen Essay, erschienen am 16. April in Time, in dem sie bespricht, wie das Coronavirus unser Leben verändert. Während wir in der Luft schweben und hoffen, dass das Leben zum scheinbaren Normalzustand zurückkehren wird, sollten wir uns diejenigen richtig wichtigen Dinge vergegenwärtigen, die unser Leben lebenswert machen (abgesehen von Familie und Freund*innen), so Atwood. Und in ihrer kurzen Liste nennt sie neben den bürgerlichen Freiheiten, der Kunst und dem Umweltschutz an erster Stelle die Bücher – den Buchladen vor Ort, die Lieblingsautor*innen und -verlage, die Lieblingsbibliothek. „Lassen Sie nicht zu, dass das Virus uns den Mund verbietet“, lauten Atwoods beeindruckende Worte.
Von Antoinette Koleva
Internationalen Allianzen der unabhängigen Verlage
Warum zitiere ich nämlich sie unter den zahlreichen Stimmen von Schriftsteller*innen, Dichter*innen, Philosoph*innen, Psycholog*innen, Sozialtheoretiker*innen und weltweit anerkannten Intellektuellen, die über dieses beispiellose und uns alle betreffende Ereignis immer noch nachdenken? Ich habe erfreulicherweise festgestellt, dass gerade diese Worte von Atwood drei Wochen später zum Motto einer Erklärung der Internationalen Allianzen der unabhängigen Verlage* gewählt wurden: ein Text, der klaren Prinzipien folgt, aber mit riesiger Begeisterung und Hoffnung für eine andere Zukunft geschrieben ist – sicherlich das beste Dokument des Zeitgeistes, was die Bücher anbelangt. Die Überschrift der Erklärung selbst sagt genügend: „Ein unabhängiger Verleger zu sein, bedeutet, die Welt, in der wir leben, zu verändern, zu hinterfragen, und zu helfen, dass diese Welt sinnvoller wird, heute und morgen“.
Bereits in den ersten Wochen der Isolation und sozialer Distanzierung, als klar wurde, dass sämtliche Tätigkeiten innerhalb der Buchbranche hart getroffen werden (eine Branche, die am fragilen und riskanten Rande zwischen Kultur und Wirtschaft steht), haben wir eine Reihe von Erklärungen, Aufrufen und Forderungen gehört, meistens von nationalen oder internationalen Verlagsorganisationen verfasst. Als erster appellierte der Europäische Verlegerverband an die EU-Institutionen: „Bücher brauchen Europas Hilfe!“. Er fordert kurz- und mittelfristige Sofortmaßnahmen für eine relevante Unterstützung der gesamten Verlagswelt – nicht nur für die Verlage, sondern auch für ihre Partner*innen, Autor*innen und Übersetzer*innen, Buchhändler*innen und Bibliothekar*innen. Mittlerweile zeigt der Dachverband der europäischen Verlage Beihilfemaßnahmen aktiv weiter auf (die für sämtliche Teile des Buchhandels in gewissem Sinne buchstäblich lebensrettend sind).
Finanzverluste der Verlage in Deutschland und Bulgarien
Richten wir nun unseren Blick in Richtung des unabhängigen Verlagswesens in Deutschland: hier hat die Kurt-Wolff-Stiftung (eine Einrichtung, die vor 20 Jahren zur Förderung vielfältiger Verlags- und Literaturszene gegründet wurde und die sich als Interessenvertretung unabhängiger deutscher Verlage versteht) alle künstlerisch Arbeitenden im Bereich des Buchhandels öffentlich unterstützt, die wegen der Pandemie in schwieriger Lage sind. Abgesehen von den psychologischen Dimensionen der Coronavirus-Krise, von der Traumatisierung der menschlichen Beziehungen und des Kulturverbrauchs wegen der sozialen Isolation und ihren unermesslichen Auswirkungen, verzeichnet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Finanzverluste von über 500 Millionen Euro innerhalb vier Wochen. Die Gesamtschäden wird man erst noch bewerten.Was Bulgarien betrifft, gibt es keine repräsentative Studie oder sogar Schätzungen über die Einbuße der Branche. Ausgehend von meinen Gesprächen mit Kolleg*innen aus unabhängigen Fachverlagen und eigenen Einschätzungen des „KX – Critique and Humanism“ Verlags, geht es um Umsatzverluste in Höhe von mindestens 40 Prozent. Und hier sind die Verluste auf Grund von Verschiebungen oder Annullierungen von Neuerscheinungen noch nicht mitgerechnet – und dabei geht es in nicht wenigen Fällen um Existenzfragen. Der Bulgarische Verlegerverband hat sich an der Welle von Aufforderungen zur Förderung des Buchhandels beteiligt: die Dachorganisation hat einen offenen Brief anlässlich der Branchenkrise an dem Kulturminister und Finanzminister gesendet und hat die Online-Kampagne „Kaufen Sie ein Buch“ in Gang gesetzt – eine Initiative, die die verschiedenen Internetseiten zur Unterstützung der bulgarischen Buchbranche auf einer Plattform zusammenführt. Im Mai haben die dazu zuständigen Behörden zwei indirekte Schritte für Krisenbewältigung im Buchhandel unternommen: der kleinere Schritt war die vorzeitig verteilte Jahressubvention für die Bibliotheksbestände; der größere Schritt war der parlamentarische Vorschlag der Senkung des Mehrwertsteuersatzes für Bücher von bisherigen 20 Prozent auf 9 Prozent – eine Maßnahme, für die die bulgarischen Verleger*innen sich seit etwa zwei Jahrzehnten einsetzen.
Die Krise aus der Sicht der Verleger
Wie sieht aber diese Erfahrung nicht durch die „Brille“ der Institutionen, sondern aus der persönlichen, besorgten Sicht des Verlegers aus, der sich anstrengt, die Krise zu bewältigen? Ich habe dazu einige deutsche Verleger*innen befragt, vor allem Kolleg*innen, deren Ausgaben und Öffentlichkeitspräsenz ich in den vergangenen Jahren verfolge, und die auf unterschiedliche Weisen wichtig und bezeichnend für die Kulturszene Deutschlands sind:Andreas Rötzer, der Gründer des Verlags Matthes & Seitz Berlin (2020 wurde der Verlag mit dem Deutschen Verlagspreis für seine hervorragenden Leistungen ausgezeichnet), räumt ein, dass alle seine Mitarbeiter*innen im Homeoffice arbeiten mussten, und zwar auf Stundenbasis, bzw. gegen weniger Bezahlung, damit der Verlag die Corona-Krise überstehen kann, obwohl im deutschen Kontext dies keinen großen Schlag bedeutet wegen der vorgesehenen Zusatzversorgung. Ähnlich wie die meisten unabhängigen Verleger*innen, muss leider Matthes & Seitz Berlin sein Programm mit geplanten Neuerscheinungen gravierend – mit fast ein Drittel! – kürzen. Andreas berichtet auch, dass der Verlag im Rahmen des Krisenmanagements seine Marketingausgaben erheblich reduziert und zugleich deutlich häufiger in den sozialen Medien und im Internet insgesamt auftritt: von Online-Lesungen bis Newsletter-Versand per E-Mail an die treuesten Kunden.
Britta Jürgs, die Gründerin des AvivA Verlags (und Vorstandsvorsitzende der Kurt-Wolff- Stiftung), teilt mit Selbstironie, dir mir wohl bekannt ist, dass wir, die unabhängigen Verleger*innen, die keine Kompromisse mit der Qualität unserer Bücher machen, an Krisen und gravierenden Schwierigkeiten ohnehin gewöhnt sind. Im Augenblick sei die Situation aber wirklich schwierig, da man keinen direkten Zugang zu den Leser*innen habe – Buchmessen sind abgesagt, Vorführungen und Lesungen ausgefallen, die unkonventionellen Ideen, die Bücher ins Gespräch zu bringen, sind nicht realisierbar – gerade darin sind aber die kleinen unabhängigen Verlage stark und kreativ, dadurch können sie auf ihre Titel und Autoren aufmerksam machen, die sonst selten im Fokus der Medien und Werbung stehen. Britta sagte etwas, was für mich persönlich in der Krisensituation ebenso von großer Bedeutung ist: für ihren Verlag ist es wichtig, die gute Kooperation mit den Buchhändlern zu behalten, auch wenn ihre „Orte“, die Buchhandlungen, geschlossen bleiben. Wichtig sind zudem noch der Kontakt mit den anderen Verleger*innen, die gemeinsamen Maßnahmen und die gegenseitige Unterstützung. Die Direktorin von AvivA erzählt, dass ihr Verlag sowohl neue Wege zu den Lesern sucht, als auch bereits erprobte Kommunikationskanäle in Gang setzt: mehr Newsletters per Email, aktivere Online-Präsenz in den sozialen Netzwerken, einschließlich „Wiederbelebung“ von ausgewählten Neuauflagen, Online-Lesungen oder Video-Interviews. Es stimmt, so Britta, dass dies die finanziellen Einbußen unzureichend abfedern kann (im Sinne von Umsätzen), man sollte aber Neues ausprobieren und bekannte Wege weiterentwickeln.
die Pandemie als Erfindungslabor für unkonventionelle Praktiken
Ich höre ihr zu und denke gleichzeitig immer wieder über etwas nach, was mich vom Anfang der sozialen Isolierung an bewegt: ob die Pandemie ein Erfindungslabor für neue, unkonventionelle Praktiken ins Leben rufen wird, die an einem der wichtigsten Knotenpunkte der Buchproduktion gerichtet sind: die Beziehung zum Leser? Ich stimme völlig Brittas Meinung zu, dass es sinnvoll wäre, in Post-Corona-Zeiten die Strategien der Verleger*innen für Präsenz im Internet und in den sozialen Medien umzuwerten. Wenn ich an einer Finanzierungsinstitution tätig gewesen wäre, egal ob staatlich oder privat, deren Aufgabe die Unterstützung der Buchwelt ist, würde ich mehr Förderungsprogramme der Online-Präsenz von unabhängigen Verleger*innen einrichten lassen. Vielleicht könnte man allen Widrigkeiten zum Trotz etwas Positives daraus ziehen?Ich selbst habe diese Meinung im März in einem Interview für die bulgarische Literarische Zeitung über die Notlösungen und das Zukunftsgefühl der bulgarischen Verleger geteilt. Meine Kolleg*innen und ich sind uns vor allem darüber bewusst, dass wir eine Gemeinschaft darstellen – eine kleine unter der größeren Gemeinschaft von (unseren) Lesern, und eine zweite, unter der weit größeren Gemeinschaft der gesamten Gesellschaft. Es gibt keinen geschickteren Weg für die Krisenbewältigung als das kollektive Handeln und die professionelle Solidarität.
Als jeder Mensch frage ich mich heutzutage auch, was mit der Branche passiert, in der man arbeitet und kreativ ist. Zum Guten oder zum Schlechten werden überall, von der Coronavirus-Pandemie beschleunigt, Veränderungen eingesetzt. Ich bin aber davon überzeugt, dass es von unserer Bereitschaft für kollektive Rettungen und Solidarität abhängt, ihre Auswirkungen zu bewältigen. Sicherlich ist der Ausnahmezustand, in dem wir auf eine oder auf andere Weise weiterleben, ein guter Anlass, zu überdenken, was wir unter einer richtigen, wertvollen Beziehung zwischen den Menschen verstehen. Wegen dieser Beziehung sind die Bücher letztendlich da, nicht wahr? Daher ist das Wort „Solidarität“ das wichtigste Wort für mich.
* In der Allianz sind mehr als 750 Verlage aus 55 Ländern weltweit organisiert. Dieses Netzwerk wurde vor 18 Jahren gegründet, um die Bibliodiversität zu fördern, d.h. die Vielfalt der Buchwelt, in der jede und jeder eine Stimme hat, zu garantieren und sich gegen die Konzentrations- und Kommerzialisierungstendenzen im Buchhandel einzusetzen. Über 70 deutsche Verlage (von Kurt-Wolff-Stiftung vereinigt) gehören zur Allianz und leider nur ein bulgarischer Verlag, „KX – Critique and Humanism“.