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Interview mit Dennis Vetter und Mathieu Li-Goyette
Über die Freuden des Streitens

Dennis Vetter ist Filmkritiker, Moderator und Programmkurator sowie Mitbegründer der "Woche der Kritik" in Berlin, der Berliner Kritikerwoche. Seit 2020 ist er der künstlerische Leiter und Teil des Kuratorenteams. Mathieu Li-Goyette ist ein in Montreal lebender Filmkritiker, Filmkurator und Chefredakteur des Online-Filmmagazins Panorama-cinéma.
Dennis Vetter ist Filmkritiker, Moderator und Programmkurator sowie Mitbegründer der Woche der Kritik in Berlin, der Berliner Kritikerwoche. Seit 2020 ist er der künstlerische Leiter und Teil des Kuratorenteams. Mathieu Li-Goyette ist ein in Montreal lebender Filmkritiker, Filmkurator und Chefredakteur des Online-Filmmagazins „Panorama-cinéma“. | © Tatiana Braun/Goethe-Institut Montreal

Dennis Vetter ist Filmkritiker, Moderator und Programmkurator sowie Mitbegründer der Woche der Kritik in Berlin, der Berliner Kritikerwoche. Seit 2020 ist er der künstlerische Leiter und Teil des kuratorsichen Kollektivs des Projekts. Mathieu Li-Goyette ist ein in Montreal lebender Filmkritiker, Filmkurator und Chefredakteur des Online-Filmmagazins „Panorama-cinéma“. 

Von Tatiana Braun

2024 feiert die Woche der Kritik in Berlin ihr 10-jähriges Jubiläum. Wie hat sich das Festival entwickelt?

Dennis Vetter (DV): Nun, strukturell war das Festival von Anfang an klar definiert und hat sich im Laufe der Jahre nicht so stark verändert. Wir hatten nie den Ehrgeiz, ein Festival zu schaffen, das auf Wachstum basiert. Für uns war die Konzentration der wichtigste Punkt. Unser Ziel war es, einen Raum zu schaffen, in dem sich Menschen treffen, austauschen und gemeinsam über Kino, über Festivalkultur und über die Berlinale und ihre Politik nachdenken. Schon im ersten Jahr der Woche der Kritik wurde das Festival und sein Konzept sehr gut angenommen, die Leute kamen und beteiligten sich an unseren Diskussionen.

Gibt es Dinge, die ihr im Laufe der Jahre verändert habt?

DV: Im Laufe der Jahre haben wir neue Formate erprobt, um über Film zu sprechen. Wir haben bewusst versucht, die Routinen des klassischen Q&A zu durchbrechen und in Frage zu stellen, das oft sehr standardisiert ist, mit einer sehr geringen Redezeit und ganz auf den oder die Regisseur*in konzentriert.

Im Anschluss an alle Filmprogramme bei der Woche der Kritik findet eine Diskussion mit den Filmemachern und/oder geladenen Gästen statt, die manchmal nichts mit den Filmen oder sogar dem Film im Allgemeinen zu tun hat. Wie hat sich eure Herangehensweise an diese Diskussionen im Laufe der Jahre verändert?

DV: Indem wir Leute einladen, die nichts mit den Filmen zu tun haben, wollen wir die Art und Weise hinterfragen, wie Regisseure in Filmgesprächen positioniert werden. Auf diese Weise können wir Vertrauen zu den Menschen aufbauen, die an unseren Diskussionen teilnehmen. Deshalb haben wir versucht, uns von dem Konzept zu lösen, einen Kampf zu provozieren, um die Positionen der anderen in Frage zu stellen. Jetzt basieren unsere Diskussionen auf Vertrauen und gegenseitigem Interesse an den Gedanken und Perspektiven des anderen zu den Filmen. Um das zu erreichen, versuchen wir, frühzeitig mit unseren Gästen zu arbeiten.

Welchen Einfluss haben diese Prinzipien auf die Kuratierung des Festivals?

DV: Wir kuratieren Filme auf der Grundlage des Konzepts der Initiierung, um eine Diskussion mit unseren Gästen und unserem Publikum anzustoßen. Indem wir Filme zusammenstellen, die aus unterschiedlichen filmischen Richtungen kommen oder unterschiedliche Ästhetiken in die Diskussion einbringen, wollen wir einen Dialog zwischen den Filmen selbst schaffen. Wir versuchen, Filme zu finden, die eine starke, interessante und fesselnde ästhetische Position haben, über die wir gemeinsam nachdenken wollen. Das kann auch bedeuten, dass wir sie ablehnen.

Du hattest erwähnt, dass ihr in den Anfangsjahren des Festivals die Debatten auf Streit ausgelegt hattet. Kannst Du das näher erläutern?

DV: Danke für die Frage, denn das ist uns auch sehr wichtig! Es ist ein Teil der Selbstdefinition der Kritikerwoche.  Zu akzeptieren, dass es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gästen auf der Bühne und dem Publikum gibt und dass es Vorbehalte oder Zweifel an den Filmen geben könnte, ist nichts, was größere Festivals oder von der Industrie gesteuerte Veranstaltungen normalerweise tun. Wir wollen jedoch bewusst Meinungsverschiedenheiten anerkennen und einen ehrlichen Austausch fördern. Der Begriff "Debatte" ist, zumindest in Deutschland, nicht unbedingt ein positiver Begriff und verunsichert einige unserer Gäste, wenn sie ihn hören. Gerade in der Film- und Festivalkultur werden ehrliche Reaktionen eher zurückgehalten, es ist kein Umfeld, in dem Künstlerinnen und Künstlern Raum zur Entfaltung gegeben wird. Bei der Woche der Kritik regen wir aktiv Diskussionen mit dem Publikum an, denn viele Zuschauer*innen fühlen sich unsicher, wenn es darum geht, über Filme zu sprechen.
 

Wir wollen bewusst Meinungsverschiedenheiten anerkennen und einen ehrlichen Austausch fördern.

Dennis Vetter



Wie steht es um die Diskussionskultur in Quebec?

Mathieu Li-Goyette (MLG): Wir haben in Quebec keine vergleichbare Debattenkultur. Wir mögen die angelsächsische Art, die Dinge ruhig zu halten, ohne zu hart zu sein. 

Da eure Filme schon auf die nachfolgenden Debatten und Diskussionen hin ausgewählt werden und sowohl verschiedene Positionen innerhalb der Filme, aber auch Filmschaffende und Kritiker*innen konfrontiert werden, frage ich mich, wie euer Auswahlverfahren aussieht. Wie laufen eure internen Auswahldebatten bei der Woche der Kritik ab? Und wie stellt ihr sicher, dass eure Auswahl divers und inklusiv ist?

DV: Ja, wir haben eine Menge Debatten über unsere Auswahl innerhalb unseres Teams! Die Filmauswahl bei der Woche der Kritik wird von einem Komitee aus internationalen Filmkritiker*innen getroffen. Mathieu war ein ehemaliges Mitglied dieser Kommission; so haben wir uns kennen gelernt. Wir versuchen, Kritiker einzubinden, die aus verschiedenen Filmkulturen kommen, um eine heterogene Auswahl zu schaffen, die unterschiedliche Ästhetiken oder Vorstellungen vom Filmemachen repräsentiert. Für mich hat eine heterogene Auswahl nicht nur etwas mit Politik zu tun, sondern ich betrachte sie aus einem intersektionellen Blickwinkel. Die Ausgewogenheit zwischen den Geschlechtern ist ein Aspekt, den wir bei der Zusammenstellung unseres Programms berücksichtigen, aber es gibt auch viele andere Aspekte, wie z. B. den kulturellen Hintergrund der Filmschaffenden oder unterschiedliche Produktionshintergründe. Die Realitäten, aus denen die Filme stammen. Ja, und die gleichen Grundsätze gelten natürlich auch für die Gäste, die wir einladen.

Wir wählen die Filme nicht nach thematischen Zusammenhängen aus. Wir bringen Filme zusammen, die in einen Dialog miteinander treten. Wir nehmen keine Einreichungen an, sondern recherchieren aktiv Filme. Wir gehen auf Menschen aus der Filmkultur und darüber hinaus zu und fragen sie, welche Filme ihrer Meinung nach gerade jetzt diskutiert werden sollten. Es ist ein System, das auf Empfehlung und Dialog basiert. Dann haben wir ein Berliner Team von Kulturschaffenden, Festivalorganisator*innen und Moderator*innen, die auf die Filmauswahl reagieren und Debatten über diese Filme anstoßen. Gemeinsam kreieren wir Titel für die Programme, die nicht aktuell sind, sondern - hoffentlich - für Gesprächsstoff sorgen.

Mathieu, du warst 2018 in der Auswahlkommission für die Woche der Kritik: Wie war das für dich und wie sind die Debatten für dich verlaufen?

MLG: Es war eine revolutionäre Erfahrung für mich! Im Jahr 2018 hatte ich bereits einige Programme kuratiert, hauptsächlich Retrospektiven für die Cinémathèque québécoise, aber nur auf lokaler Ebene. Es war das erste Mal, dass mir jemand eine Liste mit 150 Filmen in die Hand drückte, die ich mir ansehen musste, um kleine Meinungsschnipsel darüber zu schreiben, um anschließend dann mit den anderen Komiteemitgliedern über jeden Film zu debattieren, debattieren, debattieren. Ich denke, eines der Dinge, die mich bei der Woche der Kritik wirklich fasziniert haben, ist diese Verflechtung verschiedener Stile von Filmproduktionen, Genres und ästhetischer Vorschläge. Für mich ist dies - durch die Debatte - eine großartige Möglichkeit, die Hauptdiskurse und den ganzen Elitismus, der die großen Festivalwettbewerbe umgibt, abzuschütteln. Es ist eine Möglichkeit, das Kino als etwas inhärent Heterogenes zu sehen.

In Montreal gibt es eine Art Programmvakuum

Du hast erwähnt, dass du eine Filmliste für die Auswahl erhalten hattest, aber hattest du als Mitglied des Auswahlkomitees der Woche der Kritik auch selbst die Möglichkeit, Filme vorzuschlagen?

MLG: Ich habe einige Filme aus Quebec vorgeschlagen, weil das das einzige Avantgarde-Milieu des Filmemachens war, das ich gut genug kannte. Unter anderem habe ich einen Film des in Montreal lebenden Filmemachers Olivier Godin vorgeschlagen. Sein Film war ausgewählt worden, und es war eines der ersten Male, dass einer seiner Filme außerhalb von Quebec gezeigt wurde. Und ich glaube, das hat seine Karriere national und international nachhaltig positiv beeinflusst. Auch für mich als Filmkritikerin gab es ein Vorher und ein Nachher, nachdem ich an der Woche der Kritik teilgenommen hatte. Es war eine transformative Erfahrung und hat mir Selbstvertrauen gegeben.

Wie hat die Woche der Kritik deine Herangehensweise an Filmkritik und Filmprogrammierung in Montreal verändert?

MLG: Es war das erste Mal, dass ich als Filmkritiker außerhalb von Québec unterwegs war, und es gab mir das Gefühl, dass ich einen Platz in diesem Milieu haben und einen nachhaltigen Beitrag leisten kann. Diese Erfahrung hatte einen großen Einfluss auf meine Arbeit in Montreal und meine Herangehensweise an unser Filmmagazin Panorama-cinéma. Es hat uns geholfen, ehrgeizig zu werden und öffentliche Zuschüsse zu beantragen, von denen wir nun unsere Kritiker*innen bezahlen können, was lange Zeit nicht der Fall war. Das Konzept der Kritikerwoche war nicht nur für mich persönlich eine transformative Erfahrung, sondern es hat mir auch gezeigt, dass wir aus den Diskursen über Filme etwas schmieden können, dass wir aus dem intellektuellen und kulturellen Austausch etwas aufbauen können, was sehr inspirierend ist!

Was motiviert euch eine Kritikerwoche zu organisieren? Was war deine Motivation, Dennis, am Anfang der Woche der Kritik und wie hat sich diese im Laufe der Jahre verändert? Und was treibt einen an, eine völlig neue Woche der Kritik in Montreal zu initiieren?

MLG: Nach den Erfahrungen bei der Woche der Kritik 2018 waren wir auf der Berlinale und dem Internationalen Filmfestival Rotterdam (IFFR) und haben festgestellt, wie viele interessante Filme und Filmemacher wir nie kennengelernt haben, weil sie nie in Montreal oder in Quebec gezeigt wurden. Uns wurde bewusst, dass da draußen so viel passiert, was uns nie gezeigt wird. Also haben wir uns gefragt: Warum ist das so? Es gibt ein großes filmisches Ökosystem in Quebec und Montreal. Es ist gut finanziert, und die Quebecer Filmindustrie produziert um die 50 Langspielfilme pro Jahr, was im Vergleich zur Bevölkerung Quebecs [8,5 Millionen Menschen im Jahr 2021, Anm. d. Red.]

Wir haben eine sehr lebendige lokale Filmindustrie und mindestens vier oder fünf gut finanzierte Filmfestivals in Montreal. Allerdings scheint die Festivalindustrie immer risikoscheuer zu werden und vor allem daran interessiert zu sein, viele Eintrittskarten zu verkaufen. Gleichzeitig haben wir viele Programmkinos und unabhängige Verleiher hier in Montreal und Quebec verloren, während die lokalen Filmverleiher nicht mehr das Rückgrat haben, das sie früher hatten. Der Raum für die Vorführung von weniger mainstream-orientierten Filmen ist in Montreal und Québec in den letzten 10 Jahren immer enger geworden. Im Jahr 2019 sah ein Kollege von mir Mariano Llinás La Flor in Rotterdam. Der Film war großartig, und wir wollten ihn in Montreal zeigen, aber kein Festival hat ihn ausgewählt. Ich will damit sagen, dass es meiner Meinung nach die Aufgabe eines Festivals ist, diese Art von Film zu programmieren, auch wenn es ein 14-stündiger Film ist! Wir können nicht einfach erwarten, dass die Verleiher auf diese Art von Filmen setzen. Aber die lokalen Festivals haben es nicht getan. Panorama-cinéma kopräsentierte den Film schließlich in Zusammenarbeit mit sechs oder sieben verschiedenen Organisationen, die zusammenarbeiteten, um den Film hier zu zeigen und Mariano Llinás für eine Woche nach Montreal reisen zu lassen. Es war ein großer Aufwand, aber es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Die Veranstaltung war ausverkauft und die Leute waren glücklich. Letztendlich wurde mir dadurch klar, dass es in Montreal ein gewisses Programmvakuum gibt. Mit der Semaine de la Critique wollen wir das eher traditionelle Milieu der Cinephilie und des Filmschaffens in Montreal erweitern.

DV: Wir wollten als Filmkritiker nicht nur auf die bestehende Filmkultur reagieren, sondern aktiv alternative Räume schaffen, in denen andere Gespräche über Filme stattfinden können und in denen Filme auf eine andere Art und Weise gewürdigt werden können. Wir wollten, dass die Kritiker als öffentliche Sprecher sichtbar werden, die ihre Positionen auf der Bühne präsentieren.

Wenn ich auf die letzten 10 Jahre zurückblicke, sehe ich, dass es Zeit und Energie kostet, diese Räume zu erhalten. Aber die Reaktionen unserer Gäste haben uns gezeigt, wie sehr diese Art von Raum geschätzt wird. Allerdings mussten wir viel lernen, wenn es darum ging, Diskussionen auf unterschiedliche Art und Weise zu moderieren.

Könnet ihr das näher erläutern? Was sind eure wichtigsten Erkenntnisse, wenn es darum geht, eine andere Diskussionskultur zu fördern?

DV: Das Feedback und die Erfahrungen der letzten 10 Jahre ermutigen uns, dieses Projekt fortzuführen und zu unterstützen. Für die Zukunft hoffen wir, mit unseren Gästen weiter zu lernen, das Festival als Plattform weiterzuentwickeln und einen Raum zu schaffen, in dem Menschen einander vertrauen können, um offen zu sprechen. Wir möchten den Menschen zeigen, dass das Hinterfragen eines Films nicht bedeutet, den Filmemacher zu sabotieren, sondern seine Arbeit auf ehrliche Weise zu unterstützen und ihm zu ermöglichen, durch aufrichtige Gespräche zu wachsen. Es dauert lange, einen solchen Raum zu schaffen, denn der Aufbau von Vertrauen innerhalb der Branche erfordert viel Energie und das Führen dieser - manchmal schwierigen - Gespräche. Und ja, einige Gespräche haben nicht geklappt, und einige unserer Gäste waren frustriert oder verwirrt von dem Format. Aber wir brauchten diese Zeit, um zu lernen und uns weiterzuentwickeln und die Branche besser zu verstehen, um offen über Filme sprechen zu können, aber auf eine andere Art und Weise. Das Umfeld, in dem sich die Berliner Kritikerwoche bewegt, verändert sich ständig und damit auch unsere Motivationen und Perspektiven. In diesem Sinne ist allein schon die Tatsache, dass wir die Berliner Kritikerwoche veranstalten, von Bedeutung.

In Berlin gibt es die Berlinale und die prestigeträchtigsten Kritikerwochen, in Cannes und Venedig zum Beispiel sind sie mit einigen großen Festivals verbunden, mit denen sie in einer Art - mehr oder weniger kritischem - Dialog stehen. Mathieu, da Dein Festival im Januar 2025 in Montreal stattfinden wird -

MLG (lacht): Das ist der Plan!

- und welches ist für euch der lokale institutionelle Festival-Monolith, den ihr in Frage stellen oder zumindest ein wenig anstupsen wollt?

MLG: Es gibt kein bestimmtes Festival, das wir kritisieren oder ins Visier nehmen wollen. Ich denke, es ist ein bisschen von allem. [Wir sind entschlossen, Dokumentarfilme, Genrefilme, Independent-Filme, alles zu zeigen, was in ein kohärentes Programm passt und interessante Diskussionen auslösen kann. Wir wollen uns für die Filme und die Filmemacher einsetzen und nicht irgendwelche Rachepläne gegenüber den Festivals in Montreal durchsetzen. Wir möchten auf Stolpersteine reagieren, die systembedingt sind, weil wir der Meinung sind, dass Filmkritiker*innen in einer guten Position sind, dies zu tun.

Abgesehen von Schneestürmen und der Tatsache, dass die Montrealer Semaine de la critique nicht an ein Festival gebunden ist, was macht sie sonst noch besonders?

MLG: Ich denke, ein großer Unterschied ist die Tatsache, dass sie von einer Filmzeitschrift initiiert wird und nicht von einem Kritikerverband. Das wird sich natürlich im Programm bemerkbar machen. [ Mit Ausnahme der vom Verband der Filmkritiker in Chicago organisierten Kritiker*innenwoche, die nach einem anderen Modell arbeitet und stärker lokal verortet ist, wird die Woche der Kritik in Montreal, so ziemlich die einzige Kritikerwoche in Nordamerika sein. Anm. d. Red. ]

Netzwerke der Solidarität und Zusammenarbeit

Wie kam es zu der Idee, ein Filmfestival zu veranstalten?

MLG: Viele Jahre lang haben wir diese klassischen Listen mit den besten Filmen des Jahres erstellt, und jedes Jahr war das der meistgeklickte und diskutierte Artikel in unserer Zeitschrift. Es war keine Top-10-, sondern eine Top-30-Liste, und im Gegensatz zu anderen Filmzeitschriften in Quebec haben wir viele Filme aufgenommen, die hier nie gezeigt wurden. Nur um unseren Leser*innen zu sagen: Hier sind 15 großartige Filme, die ihr in den Kinos hier sehen könnt, aber es gibt auch diese anderen 15 Filme, die ihr euch vormerken und auf euren Radar setzen solltet. Wir machen diese Listen nun schon seit über 10 Jahren und haben sie immer im Januar veröffentlicht. Ich denke also, dass die Festlegung des Festivaltermins auf den Januar ziemlich genau unserem Rhythmus entspricht, wie wir unsere Arbeit strukturieren und wie wir als Redaktionsteam über die Filme nachdenken, indem wir jedes Mal nach dem besten Weg suchen, um unseren Überblick über das vergangene Jahr zu rahmen.
 
Dennis, bist Du oder Mitglieder der Woche der Kritik an dem Vorhaben beteiligt, eine neue Kritikerwoche in Montreal zu etablieren? Und wenn ja, in welcher Form?

DV: Nun, die Entscheidung liegt bei Mathieu und seinem Team! Im Moment tauschen wir noch Ideen aus, und ich persönlich kenne noch nicht alle Details ihrer Pläne. Wir hatten hier gerade ein Treffen internationaler Filmkritikerinitiativen, das erste Treffen internationaler Kritiker*innen, von dem ich bisher gehört habe. Ich glaube, dass diese Netzwerke der Solidarität, der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Leidenschaft sehr wichtig sind, wenn die Arbeit nicht so finanziert werden kann, wie sie sollte.

Mathieu, wie wählst Du die Filme für Deine erste Ausgabe im Januar aus? Macht ihr es wie die Kolleg*innen von der Woche der Kritik? Gibt es ein Kernteam und werdet ihr auch externe Kurator*innen einladen? 

MLG: Oh, eigentlich wussten wir gar nicht, was uns erwartet, aber als wir in einer Berliner Bar mit anderen Filmkritiker*innen über unsere Festivalpläne für Montreal sprachen, wurden die Dinge etwas realer. Im Moment ist geplant, ein Programmkomitee aus fünf oder sechs verschiedenen Personen zu bilden. Es wird zwei Personen im Kernteam geben, von denen ein Sitz an jemanden von unserer Zeitschrift geht und eine weitere Person, die jedes Jahr wechseln wird. Ich wollte schon immer Leute aus unserem Magazin oder aus anderen Magazinen einladen, um die Programmgestaltung zu übernehmen, weil es so wenig Möglichkeiten gibt, als Filmkritiker*in etwas über Programmgestaltung zu lernen. Und ich glaube, wenn man als Filmkritiker*in anfängt, Programmarbeit zu machen, verändert das die Art und Weise, wie man Filme sieht, völlig. Man versteht so viel mehr darüber, wie die Branche funktioniert und wie Filme in Umlauf kommen. Schließlich glaube ich, dass wir dadurch bessere Filmkritiker*innen werden. Ich würde auch gerne einen Sitz für unseren Verband der Filmkritik aus Québec behalten und dann zwei Leute aus einem internationalen Kontext, um sicherzustellen, dass wir eine heterogene und vielfältige Auswahl haben.

Habt ihr bereits bestimmte Personen oder Regionen im Sinn, die ihr einladen oder in den Fokus nehmen möchtet? 

MLG: Wir haben noch etwas Zeit, um uns vorzubereiten, aber schon jetzt können wir sagen, dass Ariel Esteban Cayer, der zuvor Programmgestalter beim Fantasia Festival war und das Blu-ray-Label Kani Releasing mit leitet, Programmdirektor sein wird. Und natürlich würde ich mich freuen, wenn Dennis irgendwie mitmachen würde...

Um auf das zurückzukommen, was Du zuvor über die Quebecer*innen gesagt hattest, die etwas zurückhaltend sind und nicht allzu kontrovers debattieren wollen: Was werdet ihr tun, um das zu ändern? Habt ihr schon Ideen, wie ihr euer Publikum ein bisschen aus der Reserve locken wollt?

MLG: Ich möchte, dass unsere Fragen und Antworten ein offener Raum sind, zu dem jeder eingeladen ist, auch Leute, die nicht unbedingt mit dem Kino vertraut sind. Ich möchte auf jeden Fall vermeiden, eine elitäre Veranstaltung zu haben, und ich denke, es gibt viele Möglichkeiten, eine Diskussion zu eröffnen.  Eine Idee, die wir hatten, war, eine Fragerunde zu veranstalten. Man gibt jedem, der den Vorführraum betritt, einen kleinen Zettel in die Hand und bittet ihn, eine Frage, seine Erwartungen oder Hoffnungen in Bezug auf den Film auf den Zettel zu schreiben, und dann nimmt man alle Zettel, steckt sie in eine Tüte und führt nach dem Film eine Diskussion nur auf der Grundlage dieser kleinen Zettel.

Dennis, habt ihr diese Methode mit den kleinen Zetteln bei der Woche der Kritik auch schon einmal gemacht?

DV: Nein, das ist neu für mich! Es ist eine tolle Idee, die Messlatte niedriger zu legen, zumal die Leute Filmkritik mit einer Art kultureller Elite assoziieren, die sehr eloquent, aber gleichzeitig schwierig und unzugänglich ist.

MLG: Ich kann mir vorstellen, dass dieses kleine Spiel mit den Zeitungen die Dinge ein wenig glätten könnte, es könnte die Angst nehmen, auch schwierige Fragen zu stellen, und die Gäste werden es nicht persönlich nehmen, weil das Setup diese Vorfragen irgendwie unschuldig erscheinen lässt. Es ist nur ein Beispiel, aber wir wollen Dinge ausprobieren, um einen sanften Einstieg in die Debattenkultur rund um den Film zu bieten, ohne es dabei uninteressant oder zu einfach zu machen.

Die Idee gefällt mir!

MLG: Auf diese Weise wird die Angst vor einer dummen Frage genommen, denn in diesem Szenario sind alle Fragen potenziell dumm, da noch niemand den Film gesehen hat. Ich denke auch, dass es eine lustige Sache ist und Spaß machen kann, sich mit Themen wie dem Hype um einen Film zu beschäftigen. Es wirkt der Tendenz entgegen, über Filme zu schreiben - sei es in einem professionellen Kontext oder auf Letterboxd [Letterboxd ist ein sozialer Online-Filmkatalogisierungsdienst - Anm. d. Verf.] - und sich dabei nur an unseren Erwartungen zu orientieren und den Hype um einen Film zu bedienen.  Ehrlich gesagt ist die Hype-Maschine um einen Film etwas, das ich fürchte und hasse, das ich aber auch sehr faszinierend finde, weil es an der Schnittstelle von Filmmarketing, Auteurismus, Aufmerksamkeitsökonomie und sozialen Medien existiert. Es ist wie eine große Wolke um den Film, und ich frage mich, wie wir sie dekonstruieren, um besser darüber sprechen zu können. 

Wie werdet ihr eure Gäste für eure Filmgespräche auswählen?

MLG: Das ist eine gute Frage! Ich weiß nicht, wie sie das bei der Berliner Woche der Kiritik machen, weil das Programm immer sehr faszinierend und ungewöhnlich ist, aber wir wollen auf jeden Fall interessante Gäste, um spannende Diskussionen anzuregen. Einer der Redner auf der Konferenz über Q&As vor ein paar Tagen, Jens Geiger, glaube ich, von Filmfest Hamburg, macht diese Sache...

DV: Cinephiles Quartett.

MLG: Ja, genau! Und die Idee hinter diesem Projekt ist, vier verschiedene Leute einzuladen, die gar nicht vom Kino kommen, sondern die Spezialist*innen oder Expert*innen in ihren jeweiligen Bereichen sind, seien es Musiker*innen, Dichter*innen...

DV: ...oder Fußballtrainer*innen! Ich glaube, er hat einen Fußballtrainer erwähnt.

MLG: Ja, es ist eine tolle Idee, den Sport zu mischen! Ich mag träumen, aber wie toll wäre es, würden wir ein Programm zum Thema Wettbewerbsfähigkeit machen und jemanden, der für das Eishockeyteam der Montréal Canadiens spielt, zur Diskussion einladen - es wäre ein volles Haus und es wäre eine ganz andere Gruppe von Leuten. Es wäre interessant, diese Erfahrungen, Ideen und Gedanken in einer Diskussion miteinander zu kreuzen!

Könntet ihr ein wenig über die Bedeutung des Kuratierens und den Akt des Öffnens von Räumen und der Ermöglichung von Diskussionen sprechen, die dem Publikum helfen, sich eine Meinung über Filme, visuelle Kultur und bewegte Bilder im Allgemeinen zu bilden? Besonders in diesen Zeiten, in denen wir ständig und überall von bewegten Bildern umgeben sind.

DV: Die Arbeit des Kuratierens wird oft an ihrem Ergebnis gemessen, aber ich denke, die Plattform, die wir bei der Woche der Kritik zu schaffen versuchen, ist eine, bei der wir über das kuratierte Programm hinausschauen und die Filmkultur als ein Ökosystem sehen, in dem es viel - unsichtbare - Arbeit gibt. Ich denke, es ist sehr wichtig, diese Arbeit sichtbar zu machen. Es ist jedoch kompliziert, zusammenzufassen, wie man sich heutzutage der visuellen Kultur nähert, denn ich denke, es ist eine Frage der verschiedenen Generationen von Zuschauern, Kuratoren und Filmemachern mit ihren unterschiedlichen Politiken, die hier aufeinandertreffen.

Und bei all dem wird es sehr schwierig, über unser Verhältnis zu Bildern zu sprechen. Ich glaube auch, dass die Einbeziehung verschiedener Generationen in Dialoge etwas ist, das derzeit unterrepräsentiert ist. Mathieu, Sie sprachen davon, einen Raum zu schaffen, der alle einbezieht und ein Publikum einlädt, das nicht unbedingt mit dem Kino vertraut ist. ein Publikum oder ein cinephiles Publikum. Ich glaube, dass der Kinoraum am besten für integrative Gespräche geeignet ist. Er hat eine ganz andere Logik als z. B. Kunsträume und Galerien, die oft sehr klassisch und exklusiv sind und sich für das Publikum unzugänglich anfühlen. Ein Kino ist ein Ort, an dem viele verschiedene Publikumsgruppen zusammenkommen und an dem auch eine breite Palette von politischen Themen auf der Leinwand präsentiert wird. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Kino ein Ort der Zusammenkunft in unserer Gesellschaft ist und obendrein ein sehr demokratischer Ort. 

MLG: Es ist schwer, dem etwas hinzuzufügen, aber ich werde es versuchen. Ich glaube, dass wir manchmal das Gefühl haben, dass es in einem Jahr nur ein einziges Filmgespräch gibt oder dass es nur um einen bestimmten Film geht. Einer der ersten Schritte zur Öffnung des Diskurses über Filme und zur Eröffnung von Debatten und Diskussionen besteht darin, diese Illusion zu durchbrechen, dass es nur ein einziges Gespräch oder einen einzigen Diskurs über einen Film gibt.

DV: Dem stimme ich voll und ganz zu.

MLG: Wir haben das im letzten Jahr zum Beispiel mit Filmen wie Barbie und Oppenheimer gesehen, die auf viele - interessante - Arten so polarisierend waren. Aber ich meine, ein Jahr lang haben wir nur über diese beiden Filme gesprochen, und man musste sich für eine Seite entscheiden. Auf Letterboxd sieht man sehr oft, wie die App an dieser Polarisierung beteiligt war. Letterboxd hat sich in den letzten Jahren immer weniger zu einem Ort des Austauschs, der filmischen Entdeckungen und der Erstellung von Listen entwickelt, sondern mehr und mehr zu einer Art bizarrem Twitter-Raum, in dem man nur noch diesen einen knappen Satz schießt, um den Film zu verreißen oder zu sagen, dass er ein Meisterwerk ist. Ich denke, diese Entwicklung folgt demselben Narrativ wie unsere Gesellschaft, in der es auch im politischen Diskurs mehr und mehr darum geht, zu polarisieren und eine Anhängerschaft zu schaffen. In unserem letzten Online-Dossier gibt es einen großartigen Text über Queerness und Tanz...

DV: Er ist von Heidi Salaverrìa!

[Heidi Salaverrìa: Le courage de s'adresser à l'inconnu ou ce que la Salsa queer peut apporter à la culture du débat - Anm. d. Red.]

MLG : Ja, es ist ein großartiger Artikel darüber, wie wichtig es ist, nicht in der Mitte zu bleiben, sondern zu lernen, wie man diskutiert und debattiert, während man den anderen anerkennt, Empathie für seine Meinung zeigt und dann eine Art unscharfe Linie zwischen den beiden Meinungen verfolgt, aber nicht den Tag gewinnen oder den anderen demütigen will. - Ich denke, der Online-Diskurs und insbesondere Letterboxd sind weniger ein Verbündeter oder ein Forum für den Austausch, als sie es früher hätten sein können oder waren. Ein Hauptgrund, sich auf Live-Gespräche mit echten Menschen in einem Raum zu konzentrieren und sich nicht hinter Benutzernamen zu verstecken, ist die Anerkennung der Notwendigkeit, zu versuchen, diese nuancierten Debatten am Laufen zu halten.

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Über die Woche der Kritik

Die Woche der Kritik ist ein Filmfestival mit Rahmenprogramm, das seit 2015 jährlich in Berlin stattfindet, zeitgleich mit den Internationalen Filmfestspielen Berlin - der Berlinale. An sieben aufeinanderfolgenden Tagen wird jeweils ein Hauptfilm gezeigt, der mit einem ästhetischen oder kulturpolitischen Thema verknüpft ist und die Möglichkeit zur anschließenden Diskussion bietet.
Gegründet wurde das Festival von Vertretern des Verbandes der Deutschen Filmkritik (VDFK).

Startseite: www.wochederkritik.de

Über „Panorama-cinéma“

Panorama-cinéma ist ein Online-Magazin, das die Filmkultur und die neuen Medien durch einen kritischen und essayistischen Ansatz fördern will. Die redaktionelle Linie des Magazins orientiert sich an einer Vielzahl von Themen und ist bestrebt, das Wesen von Filmerfahrungen und -ansichten durch einfühlsame und verständliche Texte zu erfassen. Die redaktionellen Aktivitäten konzentrieren sich auf Themen, die mit den sich verändernden Modalitäten der Filmsprache und den intermedialen Realitäten zusammenhängen, die die konventionellen Vorstellungen vom Kino umstürzen. Die Zeitschrift kümmert sich auch um die Herstellung und Veröffentlichung von Sammelbänden zum Thema Kino, die sie vertreibt und vermarktet. Panorama-cinéma steht an vorderster Front, wenn es um aktuelle Fragen des bewegten Bildes geht, und trägt aktiv zur Entwicklung des Kinos in Montreal bei, indem es mit lokalen Partnern wie der Cinémathèque québecoise oder dem Goethe-Institut unabhängige Filmvorführungen und Retrospektiven organisiert.
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