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Inklusion
Gehörlose sehen und ihre Forderungen hören

Generalgouverneurin Mary Simon klatscht in Gebärdensprache für Veronique Leduc aus Montreal, nachdem sie die Meritorious Service Medal (Civil Division) bei der Verleihung der kanadischen Ehrungen in der Rideau Hall in Ottawa am 17. September 2021 erhalten hat.
Generalgouverneurin Mary Simon klatscht in Gebärdensprache für Veronique Leduc aus Montreal, nachdem sie die Meritorious Service Medal (Civil Division) bei der Verleihung der kanadischen Ehrungen in der Rideau Hall in Ottawa am 17. September 2021 erhalten hat. | Foto (Detail): Justin Tang © picture alliance / ZUMAPRESS.com

Weder Musterschüler noch hoffnungsloser Fall: Kanada macht langsam, aber sicher Fortschritte auf dem Weg hin zur Barrierefreiheit für Hörgeschädigte und Gehörlose.

Von André Lavoie

Jedes Unglück hat auch sein Gutes, und manchmal kommt das Gute unverhofft.

Erst die folgenschwere Ausbreitung von COVID-19 hat auf den Bildschirmen Gebärdensprachdolmetscher erscheinen lassen – bis dato eine Seltenheit. Im Rahmen der berühmten täglichen Pressekonferenzen des Québecer Premierministers François Legault in den ersten Monaten der Gesundheitskrise 2020 informierten sie Gehörlose und wurden zugleich ein Mittel der Sensibilisierung für alle anderen. Die Konferenzen wurden über mehrere Fernsehnetzwerke ausgestrahlt und erreichten bis zu 2.735.000 Zuschauer*innen. Dennoch hat Kanada im Vergleich zu Ländern wie Israel, Australien und Neuseeland, in denen die Anwesenheit solcher Dolmetscher*innen bei den Fernsehnachrichten selbstverständlich ist, noch einiges aufzuholen.

Dabei findet man Gehörlose sozusagen im ganzen Land. Laut des kanadischen Gehörlosenverbands Société canadienne de l’ouїe gab es 2018 3,15 Millionen Schwerhörige, 340.000 Gehörlose und 11.000 sowohl gehörlose als auch blinde Menschen. Werden sie von der Politik und der Zivilgesellschaft wahrgenommen? 1990 wurde Gary Malkowski als erster Gehörloser in Kanada, genauer in Ontario, ins Parlament gewählt, aber sein Beispiel konnte keine große Veränderung anstoßen, auch wenn sich die Politiker auf allen Regierungsebenen zunehmend um Inklusion bemühen.

Kanada hat zwei Amtssprachen: Französisch und Englisch. Ihr Gebrauch und ihre Förderung sind durch ein Gesetz von 1969 geregelt, aber es hat nicht zur Zweisprachigkeit aller Kanadier beigetragen – dem Wunschtraum des damaligen Premierministers Pierre Elliot Trudeau, Vater des aktuellen Premierministers Justin Trudeau. Die Gehörlosen hoffen dennoch, dass ihre Sprache, beziehungsweise ihre vier Sprachen, vom Staat anerkannt werden: die Québecer Gebärdensprache (Langue des signes québécoises, LSQ), die im englischsprachigen Kanada verwendete amerikanische Gebärdensprache (American Sign Language, ALS), die Gebärdensprache der Indigenen und die im Territorium Nunavut gebräuchliche Inuit-Gebärdensprache.

Mangels dieser offiziellen Anerkennung setzen sich zahlreiche Initiativen für die Integration Gehörloser in den öffentlichen Raum ein, unterstützen ihre Schulbildung von der Grundschule bis zur Universität, ermöglichen die Ausbildung kompetenter Dolmetscher und nicht zuletzt eine – zwar noch bescheidene – Darstellung der Realität Gehörloser in verschiedenen kulturellen Produktionen.

Doch laut Alice Dulude, der Vorsitzenden des Québecer Verbands der Gebärdendolmetscher (Association québécoise des interprètes en langue des signes, AQILS), reicht das noch lange nicht aus. „Das kanadische Gesetz zur Barrierefreiheit, das 2019 in Kraft trat, hat für Menschen mit Behinderungen und Gehörlose viel bewegt, aber laut den Vereinten Nationen ist Kanada noch immer im Rückstand und könnte bald [vom Hochkommissariat für Menschenrechte] gerügt werden, weil es das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet hat. Die Gehörlosen werden zweifellos Druck machen, damit sich die Dinge ändern“, betont die zweifache Mutter.

Und dabei könnte eine offizielle Anerkennung der Gebärdensprache mit Sicherheit ein Anfang sein, wie so unterschiedliche Länder wie Finnland und Kenia, Venezuela und Papua-Neuguinea, aber auch Thailand, Island und Portugal bereits gezeigt haben.

Der Faktor COVID-19

Zwar herrscht Einigkeit darüber, dass die Pandemie viele Fortschritte gebracht hat, aber sie wurden nicht immer schnell umgesetzt – als wären medizinische Maßnahmen für Gehörlose nicht ebenso dringlich wie für alle anderen. Die Regel, im öffentlichen Raum eine Maske zu tragen, wurde bald stark politisiert und bereitete Schwerhörigen große Schwierigkeiten. „Es hat neun Monate gedauert, bis die Regierung transparente Masken akzeptiert hat“, berichtet Florence Lacombe, Zweite Vorsitzende von AQILS. „Nicht alle Gehörlosen praktizieren das Lippenlesen, die ‚Grammatik des Mundes‘, aber viele Informationen werden über das Gesicht und somit auch den Mund ausgedrückt. Dieses Beispiel zeigt wieder einmal, dass wir unablässig kämpfen und unsere Bedürfnisse rechtfertigen müssen.“

Andere fürchten, dass der Effekt schnell vorübergehen wird. Chantal Laforest, Geschäftsführerin von Alpha Sourds, einem Verein, der sich für die Alphabetisierung Gehörloser in der Provinzhauptstadt Québec einsetzt, stellt täglich die Auswirkungen begrenzter Ressourcen für diejenigen fest, die in jungen Jahren kein Französisch gelernt haben. Der Grund dafür sind oft Vorurteile oder die Tatsache, dass gehörlose Einwanderer und Flüchtlinge, die neu in Kanada ankommen, eine andere Muttersprache haben. Und sie haben erst recht keine Gebärdensprache erlernt. „Diese Analphabeten haben es wirklich schwer“, beklagt Chantal Laforest, „sodass wir manchmal ungewohnte Wege gehen müssen, um den zahlreichen Anfragen gerecht zu werden. In Montréal gibt es viel mehr Organisationen als in Québec, aber wir tun unser Bestes, um das Selbstwertgefühl Gehörloser allgemein zu fördern, denn viele von ihnen leben sehr isoliert.“

Gehört und gesehen werden

Zu den vielen Herausforderungen, denen sich Gehörlose stellen müssen, zählen sowohl der Zugang zu Gebärdensprachkursen, je früher man anfängt, desto leichter lernt man, als auch Vorurteile - es handelt sich nicht um eine Behinderung, sondern um eine Kultur mit ihren eigenen Regeln und regionalen Sprachen, die so zahlreich sind wie gesprochene Sprachen - und die Verfügbarkeit von Dolmetschern ebenso wie die Qualität ihrer Ausbildung.

Michaël Lelièvre kann ein Lied davon singen, denn er arbeitet schon lange mit Gebärdensprachlern - Menschen, die sich in Gebärdensprache ausdrücken - und angehenden Dolmetschern zusammen. Er unterrichtet nicht nur an einer weiterführenden Schule für Gehörlose, sondern auch seit 30 Jahren im Dolmetscherstudiengang Französisch-LSQ an der Université du Québec à Montréal.

Als Jüngster einer Familie mit gehörlosen Eltern, vier gehörlosen Schwestern und einem gehörlosen Bruder weiß er längst, wie schwierig es ist, eine Schule für Hörende zu besuchen, und welche Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt herrscht. Michaël Lelièvre, kann nicht fassen, dass man Gehörlosen nicht mehr Chancen gibt, obwohl gerade in ganz Kanada Arbeitskräfte fehlen. „Wir beweisen schon lange, dass wir kreativ sind und uns durchschlagen können“, betont der Lehrer, der selbst ein Abitur mit sprachlichem Schwerpunkt und einen Master in Sprachdidaktik absolviert hat.

Ihm zufolge könnten sich die während der Pandemie erzielten Fortschritte dauerhaft positiv auswirken, wenn Gehörlose und ihre Dolmetscher sichtbarer werden. Hoffnung gibt ihm zum Beispiel die Neugier des Québecer Regisseurs Philippe Falardeau (Monsieur Lazhar, The Good Lie, My Salinger Year), dessen erste fiktionale Fernsehserie Le temps des framboises (wörtlich: Die Zeit der Himbeeren) im Frühling 2022 startet: Eine der Hauptpersonen ist gehörlos. Diese Idee kam dem Filmemacher, als er während der Pandemie die Dolmetscher bei François Legaults Pressekonferenzen sah. „Da er Informationen über Gehörlose brauchte, um sie richtig zu verstehen, engagierte er mich – auch um den Schauspieler Xavier Chalifoux zu begleiten, den ich bereits unterrichtet hatte!“

Auch wenn die regionalen Unterschiede hinsichtlich der Ressourcen in Kanada, einem dünn besiedelten Land (38 Millionen Einwohner*innen) auf einer immensen Fläche (9,985 Millionen Quadratkilometer), noch lange spürbar sein werden, sind die Gehörlosen entschlossener denn je, gesehen und gehört zu werden.

Alle Interviews für diesen Artikel konnten dank der wertvollen Arbeit der Dolmetscherinnen Nathalie Gilbert und Karine Bénard geführt werden.
 

Dieser Artikel ist dem globalen Online-Kulturmagazin Zeitgeister des Goethe-Instituts entnommen. Es greift globale Fragestellungen und Perspektiven auf und lädt weltweit Autor*innen, Expert*innen, Aktivist*innen und uns alle zum gemeinsamen Austausch über Kultur und Gesellschaft ein. Das Magazin bietet so internationalen Perspektiven aus Kultur, Kunst, Wissenschaft und Zivilgesellschaft eine Plattform zum vielfältigen Austausch auf Augenhöhe zu den genannten Debatten und Themen von herausragender kultureller und gesellschaftlicher Relevanz.  

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