Open Memory Box
Eine Kiste voller Erinnerungen
Vom alltäglichen Leben im sozialistischen Osten des vor 1989 geteilten Deutschlands war lange Jahre erstaunlich wenig bekannt. Die Turbulenzen der Wiedervereinigung überschatteten die menschliche Seite dieses historischen Ereignisses. So sind bis vor wenigen Jahren nur äußerst wenig private multimediale Dokumente aus der Zeit hinter dem „Eisernen Vorhang“ bekannt geworden. In Erzählungen wurde mal von großer Solidarität, mal von wirtschaftlicher Knappheit berichtet.
Ein Projekt mit dem Namen Open Memory Box versucht jetzt, diese Lücken zu füllen. Dieser „offene Erinnerungskasten“ enthält eine Sammlung von Heimvideos aus dem östlichen Teil Deutschlands von den 1940er bis zu den 1990er Jahren. Über 400 Stunden Film, die auf der frei zugänglichen Website des Projektes nach Schlagworten, Einreichenden, Zeitperiode und weiteren inhaltlichen Kriterien geordnet wurden, bilden die bis dato umfangreichste Sammlung privater Filmdokumente aus der DDR. Anlässlich der Fensterprojektionen am Goethe-Institut sprachen wir mit Open Memory Box-Mitgründer Laurence McFalls, Professor am Canadian Centre for German and European Studies und am Department of Political Science an der Université de Montréal.
Schwarzmalerei oder Schönfärberei
Laurence McFalls, wie kam es zur Open Memory Box?Laurence McFalls: Die Idee zur Open Memory Box stammt aus dem Jahre 2012, als ich über einen privaten Kontakt den argentinisch-schwedischen Filmemacher Alberto Herskovits kennengelernt habe. Wir kamen ins Gespräch über das Problem der Verflachung der ostdeutschen Erinnerungskultur und das Verschweigen der ostdeutschen Identität, vor allem in Berlin. Wir stellten fest, dass wir beide, unabhängig voneinander, bereits seit der 1990er Jahre in den neuen Bundesländern Menschen nach ihrem Leben in der DDR und dem Erleben der Wende befragt hatten. Im Westen kannte man eigentlich nur das, was in der Zeitung stand, und das war meist entweder Schwarzmalerei oder Schönfärberei, Good-Bye Lenin oder Das Leben der Anderen, und diese mediale Kolonisierung scheinte auch in der ostdeutschen Erinnerungskultur stark zu wirken. Die Grauzonen, innerhalb derer das Interessante stattfindet, waren nicht Bestandteil dieser Berichterstattung. Es ging uns um die Frage, wie man diese Erinnerungskultur wieder zum Leben erwecken kann. Private Aufnahmen ohne große Produktion eignen sich dazu sehr gut. Ähnlich wie bei Annie Ernaux‘ Film Les Années Super 8 vermittelt gerade dieses Material auch ein Zeitgefühl, dass die Banalität des Lebens zu einem eindrucksvollen Zeitdokument macht.
Und wie seid ihr zu den Filmen gelangt?
Wir haben dann am 8. Juli 2014 eine von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur organisierte Pressekonferenz durchgeführt, in der wir zur Einsendung von privatem Filmmaterial, so banal es auch sein möge, aufgerufen haben. Mit großem Erfolg: innerhalb von ein paar Stunden hatten wir schon Unmengen von Material angeboten bekommen, die ersten Pakete trafen bereits nach 24 Stunden bei uns im Prenzlauer Berg ein. Innerhalb von einigen Tagen hatten wir solche Unmengen, dass wir den Medien sagten, sie sollten berichten,es sei jetzt genug. Und dazu haben wir uns bewusst entschieden – Archive, wenn sie nach Vollständigkeit streben, sind problematisch, weil sie alles haben, alles kontrollieren wollen und dadurch totalitär werden. Sie tun so, als könnten sie alles durchorganisieren. Aber in der Realität sind Archive eigentlich nur ein Sammelsurium, das man versucht darzustellen, als wäre es geordnet.
Wisst ihr, woher dieses riesige Interesse kam, mitzumachen und so schnell so viele Filme einzureichen?
Es muss wohl ein ‚Slow News Day‘ gewesen sein in Deutschland – unser Aufruf wurde auf allen Kanälen gesendet. Es wussten also eine Menge Menschen davon, und wir hatten angeboten, das Material zu digitalisieren und als DVD zurückzuschicken. Von den letztendlich 150 einreichenden Familien, war die Hälfte wohl eher an der Digitalisierung interessiert. Das kann man ja auch gut verstehen. Die andere Hälfte war eher am Projekt und seinem Beitrag zur Geschichte interessiert.
Ein Archiv ist totalitär
Wie ging es dann weiter mit dem Archiv?Nach der Digitalisierung, die zwei Jahre in Anspruch genommen hat, zählten wir insgesamt 2.280 sogenannte Rollen in der Sammlung. Organisiert ist die Sammlung zunächst in Boxen, das ist die Gesamtheit des von der Familie eingereichten Materials. In den Boxen befinden sich die Rollen, also die physischen Bänder, die dann wiederum Stories, Geschichten enthalten, die wir anhand von Interviews mit den Einreichern als Kurzfilme montieren. Alle Rollen haben wir dann mit Schlagwörtern versehen und so auf der Website dargestellt. Bevor wir das digitale Material, auf 100 Festplatten ins Bundesarchiv gebracht haben, hatten wir noch Einzelbilder von allem hergestellt, etwa 20 Millionen sind es geworden. Damit können wir sicherstellen, dass das Material nicht verlorengeht, wie es bei digitalen Formaten ja leider üblich ist.
Neben dem Archiv gibt es ein Anti-Archiv. Was ist das?
Das Antiarchiv speist sich aus demselben Material, aber es sind jeweils genau 50 Frames lange, 2-sekündige Ausschnitte zu einem bestimmten Thema, wie zum Beispiel Alexanderplatz, das einzige relativ konkrete Thema, oder eine Bewegung wie Drehen oder auch ein Gefühl wie Angst. Das haben alles Alberto und ich in mühsamer Kleinarbeit gemacht. Wie ich vorhin sagte, ist ein Archiv totalitär, alles ist sozusagen vorgekaut. Die Kategorien werden einfach übergestülpt. Wenn man nicht weiß, was man will oder was man sucht, macht es keinen Spaß. So haben wir versucht, eher spielerische Kategorien zu erfinden. Jaques Derrida hat in Mal d’archive von einem ‚Anarchive‘ gesprochen. Das war uns aber zu intellektuell, da haben wir es einfach Anti-Archiv genannt, obwohl es eigentlich dieselbe Idee ist.
„Schießen“, „Sicherheit“ oder „Marschieren“
Wie seid ihr auf die Begriffe für das Anti-Archiv gekommen?Neben den naheliegenden Begriffen wie Farben oder Orte, haben wir uns auch Themen gesucht, die im historischen Kontext Bedeutung haben, und die dann auch ironisch umgesetzt. Ein Beispiel ist „Freiheit“. Dieser Beitrag ist nicht nur im DDR-Kontext reizvoll, sondern er enthält alle möglichen Interpretationen des Freiheitsbegriffs. „Schießen“, „Sicherheit“ oder „Marschieren“ sind weitere Beispiele. Jetzt kann man aus dem Anti-Archiv aber auch direkt in die entsprechende Rolle springen, um mehr über diese spezielle Familie oder Person zu erfahren. Wir geben aber keine Gebrauchsanweisung, die Seite ist als Entdeckungsreise gedacht.
Ein besonders spannender Teil der Memory Box sind die Geschichten.
Wir haben, als wir die digitalisierten Filme an die Einsender*innen zurückgeschickt hatten, ein Formular mit der Bitte um ein paar Erläuterungen zum Kontext der Filme beigelegt. Mit Fragen zu den Details in den Videos – was da genau gezeigt wird, wie die Personen zusammenhängen, wo das ist. Etwa die Hälfte der Menschen hat das Formular ausgefüllt, und daher wussten wir schon, wer uns vielleicht noch mehr zu den Filmen sagen kann. Daraus entstand dann die Idee der Geschichten – aus dem Material entstandene Beiträge, die von den Menschen kommentiert sind. Im Vorfeld haben wir das Material zum Teil stark reduziert, sind zu den Einreichenden hingefahren und haben es uns dann mit ihnen gemeinsam angeschaut und die Kommentare aufgenommen. Manchmal erzählen sie andere Sachen als man sehen kann. Das Interessante ist ja, dass die Bilder fast nur fröhliche Situationen zeigen, weil die Leute ja keine Katastrophen und traurige Situationen filmen. Aber in den Kommentaren hört man oft auch tiefergehende Dinge heraus.
Die Entbehrungen, das haben wir nicht so empfunden
(aus Box 16 „Klingt jüdisch“, Familie Rosenbaum)
Mir fällt gerade einer der letzten veröffentlichten Filme ein, Klingt Jüdisch, in der die Frau erzählt, die man ganz am Anfang mit ihrer Schwester tanzen sieht. Sie ist mittlerweile um die 85 Jahre alt und erzählt sehr eindrucksvoll von der Zeit aus dem Krieg. Ein weiteres Beispiel für die Banalität des Lebens, aus der ein wertvolles und spannendes Zeitdokument geworden ist.
Wenn du von 150 Familien sprichst, ist das eine relative kleine Stichprobe. Was waren das für Menschen? Gab es bestimmte demografische Überschneidungen?
Fotografie ist eine bürgerliche Kunst, genau wie das Filmen. Es sind schon viele Menschen aus der Mittelschicht, darunter relativ viele Ärzte. Aber es ist nicht so, dass es ausschließlich gebildete Schichten oder parteitreue Leute waren, die teilgenommen haben. Die Produktion war damals sehr teuer, vielleicht 8 Mark, bei einem Monatsgehalt von 200 bis 300 Mark, aber mit einer Miete von 20 Mark blieb also doch etwas übrig, die Leute hatten Geld und sie hatten auch Freizeit. Wer also wollte, konnte sich so ein Hobby leisten. Eine der schönsten Geschichten ist von einem Mann, der eigentlich nur als Kraftfahrer ausgebildet war, aber ein großes Talent zum Filmen hatte und äußerst faszinierende Bilder geliefert hatte. Der konnte halt richtig drehen und besaß ein gutes Auge dafür.
Die
Open Memory Box
in Zahlen:
- Beginn der Sammlung: 2014
- Zeitspanne der Videos: 1942-1991
- 415 Stunden Gesamtlänge
- 149 Familien, 102 Orte (DDR & „sozialistisches Ausland“)
Laurence McFalls
Laurence McFalls (Ph.D.) ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Canadian Centre for German and European Studies (CCGES) an der Université de Montréal. Seine Forschungsinteressen umfassen Politische und soziale Theorien, Max Weber, militärisch-humanitäre Interventionen, politische Kultur, Epistomologie und Methodologie in den Sozialwissenschaften sowie West- und Mittelosteuropa. Er ist Sprecher des internationalen Graduiertenkollegs „IRTG Diversity“.Mehr : https://irtg-diversity.com/media/pdf/cv_laurence_mc_falls.pdf
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