Kapitel 4
Das gilt ab sofort
„Ich habe bis zum Schluss nicht daran geglaubt, dass die Mauer sich öffnen wird“, erinnert sich Katharina Steinhäuser. „Einmal haben uns Freunde aus Bonn besucht. Als wir dann am Bahnhof standen, sagte meine kleine Tochter „Beim nächsten Mal fahren wir dann aber auch mal hin und besuchen die“, ich habe geantwortet „Das wird niemals sein.“
Von Regine Hader und Dr. Andreas Ludwig
Dass der Mauerfall dann kam – und auch relativ schnell kam – hätte ich nie für möglich gehalten.“ Sie erzählt, wie zentral der Wunsch nach Freiheit, nach der Möglichkeit zu reisen und frei zu sprechen war – und dass die meisten nicht das Ende, sondern eine Reform der DDR herbeisehnten.
„Ab wann gilt das?“ Es fühlt sich an, wie eine Abfrage an der Tafel in der Schule: Die Nachfragen der Journalist*innen treffen Günther Schabowski scheinbar überraschend, er antwortet unbeholfen, hofft vielleicht sogar, dass ihm jemand etwas zuflüstert, nachdem er die neue Reiseregelung verkündet hat. „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich“. Aus Versehen erklärt der Berliner SED-Chef damit den sofortigen Mauerfall, einige Minuten später verbreitet die Tagesschau, dass die Grenze offen ist!
Die extreme Anspannung der vergangenen Tage entlädt sich. Tausende Ostberliner*innen laufen los oder steigen in ihre Autos, um zur Mauer zu fahren. Hier herrscht Ungewissheit: Einerseits ist die Grenze für offen erklärt, andererseits wissen die Grenzbeamten nicht Bescheid. Erstmal bleiben die Schlagbäume unten und die Grenze geschlossen. Kurz nach 21 Uhr dürfen die ersten DDR-Bürger*innen ausreisen, die Beamt*innen stempeln ihre Pässe ungültig, bürgern sie damit aus. „Ich werde oft gefragt, warum ich als Tochter eines Pfarrers nicht einfach einen Ausreiseantrag gestellt habe. Aber ich hätte ja meine Familie zurücklassen müssen. Wir hatten ja gar nicht im Sinn, dass der Staat sich auflöst, sondern wollten einfach mal rüberfahren, eine Reise machen und wieder zurückkommen dürfen.“ Die Stempel auf den Pässen verwirklichen diese kollektive Angst vor Ausbürgerung, die Katharina Steinhäuser noch lange begleitet „Die Sorge, nicht wieder reinzukommt, habe ich noch lange gehabt. Für mich ist es immer noch etwas Besonderes, wenn ich nach Thüringen fahre und die Grenzstelle sehe oder jemand eine*n Politiker*in kritisiert. In diesen Momenten senke immer noch die Stimme und weiß nicht, ob ich dem so trauen darf, dass es jetzt möglich ist.“
„Wir fluten jetzt“, berichtet der zuständige Kommandant der Grenzkontrolle an der Bornholmer Straße um 23:30 Uhr und öffnet als erster vollständig den Übergang – die Stempel ruhen, die Leute strömen über die Grenze. „Das war nur Befreiungsgefühl – dieser Jubel – das kann man fast nicht vergessen haben. Ich habe immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke und die Bilder von damals im Fernsehen sehe“, erinnert sich die Zeitzeugin.
Auf die Mauer: Brandenburger Tor, Berlin 10. November 1989
| Foto: Monika Waack © wir-waren-so-frei.de
Auf den nächtlichen Straßen Berlins mischen sich Erleichterung und Euphorie mit Neugier und dem Gefühl, etwas Unmögliches sei geschehen. Um Mitternacht sind alle Grenzübergänge im Stadtgebiet offen. Die Stimmung ist entfesselt und ausgelassen, Kneipen schenken Freibier aus, Menschen aus Ost und West liegen sich euphorisiert in den Armen, applaudieren, helfen sich gegenseitig auf das Mauerwerk, das sie Jahrzehnte trennte, und tanzen. Es sind die ausgelassensten Bilder dieser Zeit. Trotz aller Probleme, die später kommen werden, prägen sie bis heute die Erzählung der Einheit.
Auf der Mauer am Brandenburger Tor: Berlin, 10. November 1989
| Foto: Hartmut Kieselbach © wir-waren-so-frei.de
Ein Zeitzeuge, der die gelösten Menschen vor der Mauer fotografiert, erinnert sich: „Und als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich auch die Vopos [Volkspolizisten] in ihren dunkelgrünen Uniformen. Wie Wachsfiguren standen sie bewegungslos im Abstand von zwei Armeslängen entlang der Mauer und schienen uns zu beobachten. Welch ein Kontrast.“
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