Stadtkonturen Hamburg
Groovy, unangepasst, herzlich: Typisch Hamburg!
Die Hanseat*innen zwischen Alster und Elbe hören Seemannslieder, essen Labskaus und sind grundsätzlich maulfaul? Joah, könnte man so sagen. Aber die Hamburger*innen sind auch musikalisch polyglott, leben lieber ungewöhnlich und haben einen unverstellten Blick auf die eigene Geschichte. Begleitet unseren Autor Ingo Scheel durch das Tor zur Welt.
Von Ingo Scheel
Erst gehasst, jetzt geliebt: die Elbphilharmonie
Was hat man sich über sie aufgeregt: die Elbphilharmonie. Nun, da sie fertig ist, möchte sie aber doch kaum ein Hamburger mehr hergeben. | Foto (Detail): © picture alliance/Westend61/Kerstin Bittner Jahrelang war sie Stein des Anstoßes: die Elbphilharmonie. Das Gebäude zu gewaltig, der Bau zu teuer, das Projekt zu groß gedacht, hieß es. Doch dann stand das Konzerthaus eines Tages und begann, seine eigene Geschichte zu schreiben. Kaum fertiggestellt, können sich nun doch viele für das opulente Musikhaus erwärmen. Neben großen Klassik-Highlights kommen hier auch immer wieder Künstler*innen aus Rock, Pop und Indie auf die Bühne: Anna Ternheim mit ihrem Singer-Songwriter-Folk, James Blunt mit seinem einsamen Corona-Konzert, oder Burt Bacharach mit seiner Lebenswerk-Gala. Eine ganz besondere Pointe nach Elphi-Art: just als die einst noch um einiges destruktiver ausgerichtete Band Einstürzende Neubauten im großen Saal aufspielte, gab die krumm gebogene und angeblich längste Rolltreppe Westeuropas ihren Geist auf.
Wenn es Nacht wird im Wunderland
Liebe zum Detail: Auch Venedig kann im Wunderland als Miniaturstadt besichtigt werden. | Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Georg Wendt Das Miniatur Wunderland hatte schon Fans, da existierte es noch nicht einmal: Die Idee, in der Hamburger Speicherstadt die größte Modelleisenbahn der Welt zu bauen, hatte Gründer Frederik Braun bereits im Jahr 2000, als der damalige Diskothek- und Musiklabelbesitzer ein Zürcher Modelleisenbahn-Geschäft besuchte. Zunächst startete er eine Umfrage: Über 3.000 Personen beurteilten daraufhin über das Internet, welche von 45 teils fiktiven Sehenswürdigkeiten sie in Hamburg gerne besuchen würden. Das fiktive Miniatur Wunderland schaffte es bei den männlichen Befragten auf Platz drei – für Frederik und seinen Bruder Gerrit das entscheidende Argument, ihre Idee in die Tat umzusetzen. Zwei Dekaden später kommen alljährlich knapp 1,5 Millionen große und kleine Besucher*innen in das Wunderland, um eine Viertelmillion Figuren, Bauten, Züge und Flugzeuge entlang der knapp 16 Kilometer langen Modelleisenbahnstrecke zu bestaunen. Neben der Stadt Knuffingen, die nur in der Modellwelt existiert, sowie zahlreichen Metropolen und Kontinenten im Kleinformat gibt es noch eine weitere Attraktion: Alle 15 Minuten setzt die Dämmerung ein, wird der Tag zur Nacht – fast wie in der wirklichen Welt.
Alle Latten am Zaun
Auch Lily Allen spielte bereits im Knust am Lattenplatz. | Foto (Detail): © picture alliance/Jazzarchiv/Rainer Merkel Wer das Ausgehflair Hamburgs genießen möchte, kommt am Lattenplatz nicht vorbei: nirgendwo trinkt sich das Astra Bier besser als hier, mitten im weit über Hamburg hinaus bekannten Innenstadtbezirk Sankt Pauli und gleich neben der Flohschanze, dem samstäglichen, bei jedem Wind und Wetter stattfindenden Flohmarkt. Am Lattenplatz treffen das Szeneviertel Sternschanze, das Millerntorstadion und das Karoviertel mit seinen vielen Cafés und kleinen Boutiquen aufeinander. Zudem befindet sich hier eines der Epizentren des Hamburg-Sounds: im Live-Club Knust spielen Lokalheld*innen wie Bernd Begemann und Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, zudem internationale Größen wie Laura Cox und Billy Bragg. Demgegenüber bieten die Plattenläden-Nachbarn Smallville Records und die Hanseplatte alles von Julius Steinhoff und Alice Merton bis Rocko Schamoni und Boy. Und wer dann immer noch Platz im Vinylbeutel hat, der spaziert ein Stück weiter ins Groove City, ins Ruff Trade oder ins Zardoz-Imperium, um sich die freshesten Sounds, den neuesten Insidertipp oder die exotischste Platte überhaupt empfehlen zu lassen.
Der erdbeerfressende Drache
In den Hamburger Deichtorhallen ist neben zeitgenössischer Kunst und Fotografie auch Platz für kulinarische Feinheiten. | Foto (Detail): © Adobe Kulinarisch ist die Hafenstadt vor allem für eines bekannt: Fisch in Perfektion – vom Fischbrötchen to go bis zum Kaviar beim Candle-Light-Dinner. Doch Hamburg hat noch deutlich mehr zu bieten. Internationale Restaurants bringen westafrikanisches Fufu, tibetische Momos oder „echte Pekingente“ auf den Tisch. Eine ganze Reihe von Gourmet-Restaurants, darunter knapp ein Dutzend mit einem Michelin-Stern, bieten zudem edle Delikatessen in feinstem Ambiente. Der erdbeerfressende Drache zum Beispiel ist ein Edelrestaurant, das sich 2019 in den Hamburger Deichtorhallen angesiedelt hat. Kunstvolles Essen in kunstvollem Ambiente, so könnte sein Motto lauten: In den historischen Hallen des Ausstellungshauses für zeitgenössische Kunst werden ausgefallene Gaumenfreuden aus ungewöhnlichen Zusammenstellungen kreiert – etwa „Pilze & Melone“ oder „Sardine & Heu“. Diese werden in kleinen Portionen am Tresen serviert, so dass jeder*r Gast gleich mehrere Gerichte probieren kann. Tapas für Haute-Cuisine sozusagen, zubereitet vom in Hamburg bereits bekannten Spitzenkoch Thorsten Gillert, der vor seinem früheren Engagement auf dem Kreuzfahrtschiff MS Europa ein Restaurant im Schanzenviertel besaß.
Nippon so nah
Asiatisches Flair im Japanischen Garten. | Foto (Detail): © picture alliance/Westend61/Kerstin Bittner „Planten un Blomen“, das klingt ein wenig nach norddeutscher Schrebergarten-Gemütlichkeit. Tatsächlich aber handelt es sich bei dem fast 50 Hektar großen Gelände um eine weitläufige Parkanlage mit kleinen Wasserläufen, weiten Wiesen und bunten Blumenbeeten. Im Winter gibt es hier eine Eisbahn mit Nostalgieflair zu entdecken, nicht weit davon entfernt kann man im Sommer Minigolf spielen. Wer es noch ein Stück entspannter braucht, für den ist der Japanische Garten der ideale Ort. Landschaftsarchitekt Yoshikuni Araki hat das Konzept Ende der 1980er-Jahre im Einklang mit ostasiatischer Ästhetik und Philosophie ersonnen, seitdem finden hier Teezeremonien und zahlreiche kulturelle Veranstaltungen statt. Sobald man den Garten betritt – mit all seiner formalen Strenge, den Pflanzen und Felsen, dem Pavillon mit seiner klaren Kontur –, stellt sich Ruhe ein, sagen die Besucher*innen.
Komm in die Gänge
The Schierspassage in the Gängeviertel. | Foto (Zuschnitt): © picture alliance/dpa/Christophe Gateau Hamburgs Häuserkampf hat eine lange, oftmals schmerzhafte Tradition. Neben der berühmt-berüchtigten Hafenstraße – wo der Kampf zwischen Polizei und Hausbesetzer*innen über Jahre hinweg brodelte und 1987 eskalierte – ist auch das Gängeviertel ein Ort, an dem alternative Lebensentwürfe bis heute gelebt werden. Bis ins 18. Jahrhundert reicht die Geschichte des eng gebauten Arbeiter*innenviertels zurück, das sich einst vom Hafen bis zur Innenstadt erstreckte. Abgerissen, wiederaufgebaut, zerbombt, sollte es in den Nullerjahren auch den noch erhaltenen Häusern zwischen Bäckerbreitergang, Caffamacherreihe, Valentinskamp und Speckstraße an den Kragen gehen. Die Altbauten sollten an einen Investor verkauft und, so hieß es, von diesem zu großen Teilen abgerissen werden. Der Initiative Komm in die Gänge und der Genossenschaft Gängeviertel eG ist es zu verdanken, dass dies nicht passierte. Heute finden hier soziale Projekte statt, Konzerte, Kunst-Workshops und Diskussionsabende. Im Sommer 2019 feierte das neue alte Gängeviertel bereits seinen 10. Geburtstag.
Literature to go
Bücherschränke gibt es auch anderorts, aber selten sind sie so phantasievoll wie in Hamburg | Foto (Detail): © Wikipedia/Vitavia CC BY-SA 4.0 und Wikipedia/Finte CC BY 3.0 Die Idee ist so simpel wie genial: Man stelle einen Schrank an eine beliebige Straßenecke, fülle ihn mit Büchern und stelle diese zur allgemeinen Verfügung. Klar, Bücherschränke gibt es auch anderorts. Aber in Hamburg sind sie oft besonders phantasievoll: Vor etwa zehn Jahren fing es mit einer Handvoll Schränke an, heute sind es in der Hansestadt um die 160, Tendenz steigend. Und längst sind es nicht mehr nur Schränke, es sind auch ehemalige Vogelhäuschen darunter oder ausgemusterte Telefonzellen, sogar einige englische Klassiker in Rot, mit teils stimmungsvoller Beleuchtung und schmucken Regalen. Die Befüllung geschieht individuell. Unter den buchgebenden Institutionen sind Greenpeace, kleinere Handwerksbetriebe und Stadtteil-Initiativen ebenso wie Büchereien und Projektgruppen. Auch die mobile Variante hat sich mittlerweile etabliert: in vielen Bussen des städtischen Nahverkehrs befindet sich direkt hinter dem Fahrerplatz ein stets gut gefülltes Buchregal.
Das Auge von St. Pauli
Günter Zint in seinem St. Pauli Museum | Foto (Detail): © picture alliance /Angelika Warmuth/dpa Kaum ein*e Zeitzeug*in hat die Geschichte Hamburgs so dokumentiert wie der Fotograf Günter Zint, dessen gesammelte Bilder, Artefakte und Preziosen in seinem St. Pauli Museum zu bestaunen sind. 1941 in Fulda geboren, zog es ihn nach Militärdienst und Ausbildung bei der Nachrichtenagentur dpa in den 1960er-Jahren nach Hamburg. Zint fotografiert, wo er geht und steht. Er machte Bilder von den Bands des Star-Clubs und dokumentierte die Kneipenszene und Lichtgestalten des Kiez. Bei ihm kamen Prominente wie die Beatles, Jimmy Hendricks oder auch die Hamburger Prostituierte und Kiez-Ikone Domenica vor die Kamera. Später wurde er zum Chronisten der bewegten Jahre um die Anti-Atomkraft-Bewegung, ging in den USA mit Robert Kennedy auf Wahlkampf-Tour und geriet in Londonderry in Straßenkämpfe. Zurück in Hamburg arbeitete er als Filmfotograf, Cover-Künstler und Autor. Das St. Pauli Museum war jüngst wieder einmal in Finanznöten, doch mittlerweile ist es gerettet und befindet sich heute am unteren Ende der Reeperbahn, am Nobistor.
Hells Bells oder wem die Stunde dann doch mal schlägt
Der FC St Pauli ist wohl der kultigste Club der Bundesliga und hat Fans weit über Hamburg hinaus. | Foto (Detail): © picture alliance/Christian Charisius/dpa Hamburg kann sich rühmen, mit gleich zwei Fußballbundesligavereinen aufzuwarten, die Sportgeschichte schrieben. Zum einen hätten wir hier den Hamburger SV, der seit Gründung der Bundesliga unglaubliche 55 Jahre in der ersten Liga verweilte. Darauf war man so stolz, dass im Stadium eine Uhr die Rekord-Minuten zählte – bis dem seit Jahren schwächelnde Verein 2018 dann doch die Stunde schlug und sich der HSV in der 2. Liga wiederfand. Dort befindet sich seit rund 10 Jahren auch der zweite große Hamburger Bundesligaverein und der wohl mit Abstand coolste und kultigste Club aller Ligen – das müssen selbst Dortmund- und Köln-Fans zugeben: An den FC St. Pauli kommt in Sachen Lässigkeit einfach keiner ran. Aufmarschiert wird mit Hells Bells von AC/DC und fällt ein Tor, dröhnt das „Wohoooooo“ aus Blurs Song 2 durchs Stadium. Die Hamburger können sich – zumindest zurzeit – also wieder über Revierderbys freuen.
Eine Lady namens Hedi
In der Woche ist die normale Touristenbarkasse nichts Besonderes, erst am Wochenende verwandelt sich das Schiff in „Frau Hedi’s Tanzkaffee“ und fährt als Diskoclub durch den Hafen und die beleuchtete Speicherstadt.
| Foto (Detail): © picture-alliance/Isabel Schiffler/Jazzarchiv
Typisch Hamburg, und eben doch nicht typisch Hamburg: Eine Hafenrundfahrt auf der Elbe gehört zum touristischen Standardprogramm in der Hansestadt. Auf der Barkasse Hedi jedoch, einem schwimmenden Clubschiff mit DJs und Livebands, wird das Ganze zum musikalischen Highlight. Die Musik an Bord reicht je nach Veranstaltung von Hamburg-Ikone Andreas Dorau, Rock’n’Roll-Institution Devil’s Day Off über DJ-Ausfahrten mit den besten Plattenleger*innen der Stadt bis zu internationalen Künstler*innen wie Frank Turner. Das alles bekommen die Besucher*innen auf dem Wasser geboten – auf großer Fahrt durch den Hamburger Hafen. Seefest muss man nicht unbedingt sein, aber gutes Stehvermögen ist durchaus angeraten.
Stadtkonturen
Schrebergärten in Berlin oder Nacktbaden in München: Wir erkunden mit Euch deutsche Städte – auch gegen den Strich. Wir skizzieren klassische Orte, Gruppen und Events, die nicht aus dem Stadtbild wegzudenken sind – und ziehen neue Konturen, indem wir das ein oder andere Klischee ins Wanken bringen.
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