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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Werkstattbericht

Illustration: Mehrere Münder und Sprechblasen unterschiedlicher Farben und Formen
Nichts kann allen bequem sein. Schon gar nicht Kunst. | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Alles ist gekürzt um Längen besser – sagt der Dichter Arne Rautenberg. Und findet damit das Motto für sechs Autor*innen, die gemeinsam Regeln für Texte in leichter Sprache aufstellen wollten. Hauke Hückstädt berichtet, welche Werkzeuge in diesem literarischen Atelier zum Einsatz gekommen sind.

Von Hauke Hückstädt

Im Literaturhaus Frankfurt begegneten sich folgende sechs: Olga Grjasnowa, Nora Bossong, Alissa Walser, Kristof Magnusson, Henning Ahrens und Mirko Bonné. Der Main lümmelte an diesem Julitag in der Biegung des Flussbetts, alles schien gewöhnlich. Mein und das Zusammentreffen meiner Kolleg*innen mit diesen Autor*innen war es nicht. Denn in dieser Konstellation unter diesen Vorzeichen schien alles auf null. Draußen nagelte die Mittagssonne kurze Schatten um Häuser, Wesen und Dinge. Es ging um den Plan, Literatur in einfacher Sprache von namhaften, zeitgenössischen Autor*innen originär verfassen zu lassen. Als Kunstunternehmung. Als ästhetisches Programm mit ethischer Auswirkung. Die Frankfurter Journalistin Eva Keller, eine Kapazität in den Bereichen Inklusion, Integration sowie Bildungspolitik, ergänzte unsere Runde.

Recht auf Teilhabe

Gegenwind gab es zuvor schon. Die Neinsager, die Skeptikerinnen, die Behüter, die rechtschaffenen Gralshüter der Kunsthoheit, sie alle hatten sich gemeldet. Zum Glück war das Vorhaben bereits finanziert. Das Sozialdezernat der Stadt Frankfurt wollte es, das Land Hessen wollte es und zahlte es auch. Wir haben den Zauderern erwidert, das müssen wir probieren. Es gibt dieses Recht auf Teilhabe, die UN hatte es beschlossen. Das ist doch ein guter Beschluss. Wir glauben doch alle, dass die Poesie zuverlässiger ist als eine politische Doktrin oder irgendein Glaubenssystem. Also kann es nur gut sein, wenn alle daran teilhaben. Wir blasen das erst ab, wenn es keine Autor*innen gibt, die das mittragen. Das war dann aber nicht der Fall.

Befreiendes Regelwerk

An diesem Julitag haben die Autor*innen gemeinsam Regeln aufgestellt. Regeln nach denen sie jeweils einen Text schreiben würden wollen. Einen Text in einfacher Sprache. Es waren nicht einmal ein Dutzend Regeln. Einige davon wurden beharrlich erstritten. Eine*r der Autor*innen wollte unbedingt sämtliche Freiheiten in der Interpunktion, die nächste verteidigte den belebenden Wechsel der Tempi. Beides musste gar nicht ausgeschlossen werden. Die Regeln haben nichts gemein mit den Restriktionen für leichte Sprache und sie sind auch Meilen entfernt von den weitreichenden Empfehlungen für einfache Sprache. Für ein künstlerisches Projekt waren sie in Summe radikal: In den Texten können wir erfinden. Wir schreiben Texte von 20 Minuten Vorleselänge. Wir benutzen einfache Wörter. Wir schreiben einfache Sätze. Wenn wir Sprachbilder verwenden, erläutern wir diese …

Später, vor wie nach dem Applaus, während die ersten Texte vor Publikum Premiere hatten, haben die Autor*innen es fast übereinstimmend immer wieder handwerklich erklärt. Es sei gewesen, als käme man in den Werkraum, ins Atelier, doch kaum eins der bewährten heimlichen Helferlein war noch da. Der Werkzeugschrank leer. Nur Zange, Bleistift, Hammer, Papier. Der Tricks beraubt durch die eigens geschaffenen Regeln. So in etwa beschrieben die Autor*innen den Arbeitsprozess.

Sie beschrieben auch, wie befreiend das irgendwann war. Niemand sagte zwar: „Das ist es jetzt. Für mich gibt es kein Zurück mehr.“ Doch darum ging es ja auch nicht. Es ging um einen neuen Weg, einen zusätzlichen Pfad, eine Bresche. Es ging um den Versuch einer ästhetischen Antwort auf ein ethisches Dilemma: Kann es Kunst für alle geben? – Nein, natürlich nicht. Es gibt kein Buch für alle. Es gibt auch kein Bild für alle. Keinen Film und keinen Song. Nichts kann allen bequem sein. Schon gar nicht Kunst. Die Möglichkeit jedoch, eine Literatur zu verfassen, die erst einmal möglichst wenige rausschmeißt, ist eröffnet.

Gar nicht so kleine Zielgruppe

Und für wen soll das bitteschön interessant sein? Na, für alle, die gerade unsere Sprache lernen. Oder für die ambitionierte Deutschklasse, die sich in Kürze einen Überblick verschaffen will über deutsche Gegenwartsliteratur, dreizehn Autor*innen auf einen Schlag kennenlernt und im nächsten Schritt Nora Bossongs Text in einfacher Sprache vergleicht mit einem ihrer Romane. Es ist interessant für Menschen mit Konzentrationsschwächen. Für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, die es ihnen schwer machen lang, lange Texte zu lesen. Für Leute, die Sprache als poetisches Zukunftslabor verstehen. Oder für diejenigen, die grundsätzlich alles lesen von Henning Ahrens, zum Beispiel. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, für alte Menschen, für Menschen mit Schwellenängsten. Für Menschen, die gerade den Mut fassen, mit dem Lesenlernen zu beginnen, die aber mit Biene Maja nichts mehr am Hut haben. Leute, jeder siebte Erwachsene in Deutschland ist funktionaler Analphabet.
 

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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