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Briefe
Die vielen Freundschaften der Hannah Arendt

Hannah Arendt and Mary McCarthy in Sicily. 1971.
Hannah Arendt und Mary McCarthy in Sizilien. 1971. | Courtesy of the Hannah Arendt Bluecher Literary Trust / Art Resource, NY

In den Tausenden Briefen, die sie schrieb und erhielt, offenbart sich die Freundschaft als eine der großen und spürbaren Freuden im Leben von Hannah Arendt. Freundinnen und Freunde waren Zuflucht, Glück und Neubelebung.

Von Madeleine Thien

Warum ich nicht früher schrieb? Also, die Wahrheit ist, dass ich nicht sagen konnte, »mir geht’s gut«.

— Hannah Arendt an Mary McCarthy, 16. September 1963

Briefe, Postkarten und Telegramme mit ausführlichen Reisevorbereitungen eilen um die Welt, während sie mehrtägige Besuche bei Freundinnen und Freunden in einen erschöpfenden Terminplan von Lehrveranstaltungen und Auftritten einbaut (obwohl sie selbst selten erschöpft wirkt). Telefonanrufe und umfangreiche Briefe erhellen und festigen die Verbindung, aber das persönliche Beisammensein – gesehen und gehört zu werden – ist nach wie vor von größter Bedeutung.

In ihren Werken reflektiert Arendt darüber, was es bedeutet, die „Welt genug [zu] lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen.“ Denken und Handeln tauchen in ihren Schriften immer wieder auf, ebenso wie Entwurzelung, Einsamkeit, Vergebung, Aufbrüche und die Liebe zur Welt. Für Arendt ist das Denken ein Dialog mit uns selbst, außerhalb der Öffentlichkeit. Es ist privat, nicht, weil es nicht in Worte fassbar und bekenntnishaft ist, sondern weil es von mangelnder Stringenz, vom Möglichen und Ansatzhaften geprägt ist; diese Art von lebenslangem Denken wird nicht von dem angetrieben, was wir erreichen oder werden wollen. Es hat kein Ende.

Für mich ist das Alleinsein wie die Oberfläche eines Wassertropfens. Die Luft darüber, die Oberfläche darunter, das Licht sind entscheidend, so wie die Welt und das Erleben die Substanz unserer Gedanken sind; wir sind immer in ihr, und sie ist in uns. Aber ohne diese Oberfläche, dieses notwendige Alleinsein, hat die Bewegung des Denkens kein Zuhause.

Bei der Lektüre von Arendts Briefen spürt man auch, dass Alleinsein ohne tiefe Freundschaften nicht möglich wäre: die Entscheidung, im Leben zu begleiten und begleitet zu werden.

Ich habe richtig Heimweh nach Dir.

Die Zeiten sind lausig, und wir sollten näher beieinander sein.

Mary McCarthy an Hannah Arendt, November 1966 und Februar 1968

Kürzlich konnte ich eine riesige, wandgroße Leuchtturm-Karte von China aus dem Jahr 1894 betrachten, auf der zehntausend Meilen Küstenlinie sowie die ausgedehnten Flussläufe des Gelben Flusses und des Jangtse abgebildet sind. So eine Karte hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie wirkte völlig leer, abgesehen von den Lichtmarkierungen.

Der große Dichter der Tang-Dynastie, Du Fu, bereiste diese Flüsse. Während eines schrecklichen Bürgerkrieges im achten Jahrhundert gehörte er mit seiner Familie zu einer Welle von Binnenflüchtlingen. Seine eintausendvierhundert Gedichte handeln von Besuchen bei Freunden – vom Trinken, Feiern, Trauern, davon, sich gegenseitig Unterschlupf zu gewähren und mit Essen und dem Nötigsten zu versorgen. Es liegt auf der Hand, dass ohne diese Lichtpunkte kein Leben, geschweige denn Kunst, möglich gewesen wäre.

Als ich Arendts Korrespondenz las und an das dachte, was sie ihre „unfreiwilligen Weltreisen“ nannte – sie musste 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen und irrte staatenlos und ohne Papiere durch ein halbes Dutzend Länder und unzählige vorübergehende Bleiben, bevor sie 1942 New York erreichte –, kam mir diese Karte Chinas in den Sinn. Land und Meer sind fast nicht zu unterscheiden. Es gibt nur unterschiedliche Lichtstärken, Cluster von Lichtmarkierungen und ein paar vereinzelte Ausreißer.

Arendts rastloses, unablässiges Umherziehen durch das Nachkriegseuropa ist bemerkenswert. Stationen auf ihrem Weg sind keine Orte, sondern befreundete Menschen. Wo immer sie sind, da ist der Ort, an den Arendt immer wieder zurückkehrt.

Mir ist das Herz sehr schwer. Werden wir uns wiedersehen?

Wir meinen beide, noch viel uns sagen zu können.

Hannah Arendt an Karl Jaspers und seine Antwort, 1956

Für den Schmerz und die Empörung, die mit der Veröffentlichung von Eichmann in Jerusalem im Jahr 1963 einhergingen, wurde Arendts Charakter ebenso zur Zielscheibe wie das Buch an sich. Die Kritik verurteilte sie als anmaßend, verächtlich, bösartig, ignorant und von einer „verblendeten Feindseligkeit“. Die drastischsten Vorwürfe waren von solch verheerender Tragweite – sie würde die Nationalsozialisten rehabilitieren und die Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden diffamieren –, dass man sie nicht erheben konnte, ohne die Tiefen ihres Charakters zu beurteilen.

In den umfangreichen Briefen, die der Leserschaft zur Verfügung stehen, wirkt Arendt sehr lebhaft. Die Stimme, die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Viva activa oder vom tätigen Leben, Menschen in finsteren Zeiten und Eichmann in Jerusalem vereint, liegt hier vor uns in all ihrer Komplexität, Leidenschaft, Ungeduld, Geduld, Respektlosigkeit, unbestreitbarer Brillanz, Belesenheit, Sanftheit und einem spöttischen Tonfall, der oft dazu dient, ihre Trauer zu verbergen.

Vielleicht weil ich Schriftstellerin bin, hat mich die Dimension der Person hinter den Büchern – das, was sie ungesagt lässt – schon immer interessiert. Manchmal ist der Mensch dahinter erstaunlich fade, als ob alle Gedanken und Taten letztlich nach außen gerichtet sind, zur Selbstverherrlichung. Das ist bei Arendt nicht der Fall. Ich kehre immer wieder zu ihren Büchern und Briefen zurück, nicht, um ihr beizupflichten oder ihre Gedanken zu übernehmen, sondern weil ihre Präsenz mich dazu anregt, die Bedeutung meines eigenen Denkens zu hinterfragen – innezuhalten und zu reflektieren. In einem Brief vom 27. Juni 1946 kritisiert Jaspers einen von Arendts Aufsätzen scharf (Es könnte sich um die deutsche Fassung von The Seeds of a Fascist International handeln; der Nachlass Jaspers enthielt jedoch keinen entsprechenden Text.):

Es finden sich viele glänzende, überzeugende Formulierungen und Beobachtungen in Ihrem Aufsatz – ganz abgesehen von der Leidenschaft, die unersetzlich ist. Ich kann Ihnen keine Vorschläge machen. Ob es möglich ist, die Zusammenhänge vorsichtiger und damit wirksamer auszusprechen, – d. h. auch historisch richtiger und weniger visionär?

In diesem und in den gesamten vierhundertdreiunddreißig Briefen der Korrespondenz zwischen Jaspers und Arendt üben sie ständig Kritik aneinander, setzen sich mit der Tiefe des Denkens ihres Gegenübers auseinander und stellen sich ihm. Als Reaktion auf Jaspers’ Kritik beginnt Arendts Brief tatsächlich mit einer Beurteilung von Jaspers’ Die Schuldfrage:

Mir ist Ihre Definierung der Nazi-Politik als Verbrechen (»kriminelle Schuld«) fraglich. Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat.

Im weiteren Verlauf des Briefes geht sie auf ihren eigenen Aufsatz ein und schreibt: „Sie haben vollkommen recht: so wie es da steht, können und dürfen Sie es nicht drucken.“

Der Brief schließt mit einer überraschenden, beschwingten Dankesbezeugung, wie sie typisch für Arendt ist: „Wenn Sie nun, gleichsam von außen, mir entgegentreten, so ist es, als bekäme man wieder ganz festen Boden unter die Füße, als käme man wieder in die Welt.“

Wenn ich fortfahren würde, würde ich über Arendts Beschäftigung mit den Toten schreiben wollen – mit Dichterinnen und Dichtern, mit Rahel Varnhagen und Immanuel Kant – und wie sie sagt, Jaspers spreche in seinem Monumentalwerk Die großen Philosophen mit Sokrates, Konfuzius, Kant, Buddha, Nagarjuna, Spinoza und vielen anderen: „… er nimmt die Ideen aus der chronologischen Reihenfolge heraus, und es ist, als ob Du einen riesigen Palast betrittst, in dem Du sie alle irgendwo, in der einen oder der anderen Ecke, finden wirst. Sie sind alle Zeitgenossen, und er spricht mit ihnen und gegen sie, manchmal sogar ziemlich ungerecht, als wären sie da.“

Freundschaft ist für sie und für Jaspers ein Raum, in dem wir uns treffen und einander wirklich zuhören, auch über Zeit und Ort, Sprachen und Kulturen hinweg. Heute Morgen verbrachte ich, bedrückt von meinem eigenen Kummer, eine Weile in Arendts Gesellschaft. Als sie kurz nach einem Besuch bei Jaspers und seiner Frau Gertrud die Nachricht erhält, dass Jaspers im Sterben liegt, schreibt Arendt ihnen aus der Ferne:

… und ich weiß also Bescheid. Nun sitze ich und denke an Euch beide und den Abschied, von dem man ja doch nie weiß, wann er bevorsteht. … wie mir zumute ist, entzieht sich der Sprache – schon weil mich die Dankbarkeit für alles, was Ihr mir gegeben habt, überwältigt.

Ganz in Liebe
Eure Hannah

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