Dilek Güngör
Wörterstau
Herkunft, Familie, Sprache, Identität – das sind die Themen der Journalistin und Autorin Dilek Güngör. In ihrem neuen Buch schreibt sie über die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Tochter. Doch Schweigen und Nähe müssen sich nicht ausschließen.
Von Holger Moos
„Wann haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen? Als ich zwölf wurde oder dreizehn? Oder erst später, als wir schon übers Ausgehen stritten?“ So beginnt eine
ZEIT-Kolumne von Dilek Güngör. Diese Fragen stehen auch am Anfang ihres aktuellen Romans Vater und ich. Damit wäre schon mal geklärt, ob der Roman autobiografisch gelesen werden kann. Zu diesem Schreiben „über das Naheliegende, das Vertraute und Alltägliche..., über Familie und Familienleben und über mich“ steht Güngör. Sie kann und will über nichts anderes schreiben, wie sie in einer anderen ZEIT-Kolumne manifestartig proklamiert: „Ich werde beim Vertrauten bleiben, schon weil mir das Ausdenken nicht liegt. Ich schreibe weiter über echte Menschen, mit echten Eigenschaften, mit Körpern, Gesichtern, Stimmen, die ich sehe und höre, wenn ich schreibe.“
Wie schon in Ich bin Özlem (2019) äußert sich Güngör auch in ihrem neuen Roman in einfachen, klaren Sätzen über Familie, dieses Mal aber fast nur über ein Vater-Tochter-Verhältnis. Die Handlung ist schnell erzählt: Eine Tochter besucht ihren Vater, während ihre Mutter einen einwöchigen Wellness-Urlaub mit Freundinnen macht.
Sprachliche und soziale Entfremdung
Die Ich-Erzählerin Ipek hadert mit der Sprachlosigkeit zwischen sich und ihrem Vater, die sie als Ursache und Ausdruck der verlorenen Nähe zueinander empfindet. Sie fragt sich und oft auch in einem stummen Dialog ihren Vater, wie das passiert ist, wer was wann gemacht oder unterlassen hat. Der Verlust dieser Nähe ist für Ipek wie eine Trennung: „Dass es mit uns vorbei war, begriff ich erst, als es schon vorbei war, den Moment selbst habe ich verpasst. Vieles begreife ich erst hinterher oder gar nicht, auch dann nicht, wenn man es mir erklärt.“Ihre Eltern stammen aus der Türkei, kamen in den 1970er-Jahren nach Deutschland. Ipek lernt Englisch, dann Französisch und Spanisch. Das Türkische kommt ihr abhanden, denn es ist eine „Muttersprache, die nichts zählte, weil alle, die Türkisch sprachen, nicht ordentlich Deutsch gelernt hatten und sich nicht richtig anpassten“. Zu der sprachlichen Entfremdung gesellt sich die soziale. Die Eltern leben in der schwäbischen Kleinstadt, die Tochter geht zum Studium in eine andere Stadt, dann nach England. Mittlerweile wohnt sie in Berlin. All dies hat der Tochter ganz neue Lebens- und Erfahrungswelten geöffnet.
Nah, anders als früher
Ipek erinnert sich an das kindliche Herumtollen mit dem Vater, an die gemeinsamen Streiche und Scherze. Im Kontrast dazu steht die Gegenwart mit ihrem „Wörterstau aus Vokabeln aus vielerlei Sprachen und zu nichts zu gebrauchen“. Die nonverbale, vielleicht viel tiefere Vertrautheit ist den stets von kritischen Gedanken begleiteten Sprechakten, Akten des wiederholten Scheiterns, längst gewichen. Die Sehnsucht nach wortlosem Verstehen bleibt: „Ob wir uns wieder nah sein können, anders als früher, aber so nah immerhin, dass ich dir eine Decke bringen könnte, wenn du beim Fernsehen einnickst?“Güngör ist ein einfühlsames, berührendes Buch gelungen, das ohne Pathos auskommt. Bei der Abreise bringt der Vater die Tochter zum Bahnhof. Wie immer geht er nicht mit aufs Gleis, sondern setzt sie einfach mit dem Auto vor dem Bahnhof ab. Doch in einer kleinen Geste zeigt sich die ganze Fürsorglichkeit des Vaters, eine Aufmerksamkeit, die ohne Worte auskommt.
Berlin: Verbrecher Verlag, 2021. 104 S.
ISBN: 978-3-95732-492-4
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