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Neue Jugendromane
Seelenkunde

Fünf neue Jugendromane erzählen von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens – nach dem Abitur oder ohne Vater, abgetaucht in digitale Welten, abgehängt in der Provinz, direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Geschichten, die manchmal traurig sind und manchmal hoffnungsfroh. 

Von Holger Moos

Jäger: Die Nacht so groß wie wir © Rowohlt Für ihr Debüt Nach vorn, nach Süden (2020) erhielt Sarah Jäger 2021 das Kranichsteiner Kinder- und Jugendliteratur-Stipendium. Mit ihrem neuen Roman Die Nacht so groß wie wir beweist sie erneut, wie gut sie in die Seelen junger Menschen schauen kann. Es geht um die letzte gemeinsame Nacht von fünf Freund*innen, die alles übereinander zu wissen glauben. Maja, Suse, Pavlow, Bo und Tolga sind eine Clique, ihre Abifeier ist gerade vorbei, doch der Abend noch lange nicht zu Ende. Die Nacht soll unvergesslich werden, läuft jedoch völlig aus dem Ruder. Größere und kleinere Geheimnisse, die zu lange verschwiegen wurden, kommen ans Licht. Vor dem Beginn des Erwachsenenlebens müssen sie erst einmal in ihre und die Abgründe der anderen blicken. Die Nacht so groß wie wir wurde in der Kategorie Jugendbuch für den diesjährigen Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Die Jury begründet diese Nominierung so: „Sarah Jäger nimmt die Lesenden durch wechselnde Erzählperspektiven direkt mit hinein in ihr fragiles Figurenensemble. … Von Beginn an mitreißend, entfaltet Jäger einen großen Spannungsbogen mit unvorhersehbaren Entwicklungen. Mittels temporeicher Dialoge, Situationskomik und Wortwitz, bisweilen auch in melancholischer Sprache, lässt sie uns teilhaben an diesem entscheidenden Moment des Übergangs“.

Rabinowich: Dazwischen: Wir © Hanser Gut fünf Jahre nachdem Julya Rabinowich in ihrem ersten Jugendbuch Dazwischen: Ich (2016) die 15-jährige Madina über das schwierige Ankommen in einem neuen Land berichten ließ, gibt es nun eine Fortsetzung: Dazwischen: Wir. Madina hat den Krieg und seine Schrecken sowie die gefährliche Flucht hinter sich gelassen. Seit mehr als zwei Jahren lebt sie jetzt mit ihrer Familie in einer namenlosen Kleinstadt. Die Wohnung befindet sich im Haus ihrer besten Freundin. Nur der Vater hat sich zu einer Rückkehr in die alte Heimat entschlossen, die immer noch Kriegsgebiet ist. Eine Lücke in Madinas Leben, die bleibt. Denn es besteht kein Kontakt mehr zum Vater. Die Mutter ist erschöpft, depressiv, der kleine Bruder macht Probleme in der Schule. Vieles bleibt an Madina hängen. Sie ist die Problemlöserin, erfährt aber von verschiedenen Seiten Unterstützung. Dennoch ist Madina im neuen Leben angekommen, hat sich ohne ihren strengen Vater sogar einige Freiheiten erkämpfen können. Aber dann tauchen rassistische Schmierereien auf, und jeden Donnerstag skandiert eine Gruppe auf dem Hauptplatz: „Ausländer raus!“. Erst sind es wenige, dann immer mehr. Eine Zerreißprobe, nicht nur für Madina, sondern für alle, die in dem Ort leben. Doch Madina beschließt, nicht wegzuschauen – und sie findet Verbündete in einer bedrohlicher werdenden Situation. Die in Tagebucheinträgen erzählte Geschichte überzeugt durch einfache, klare Sprache sowie eindrückliche Bilder. Sylvia Schwab lobt Roman und Autorin auf Deutschlandfunk Kultur: „Zwischen den inzwischen zahlreichen Jugendbüchern über Immigration, Fremdheit und Ausländerfeindlichkeit nehmen Julya Rabinowichs Bücher mit ihren präzisen, einfühlsamen und zugleich trotzigen Beschreibungen des „Dazwischen“-Lebens einen besonderen Platz ein.“

mit einem Spiel die Welt retten?

Korn: Globalopoly © Jacoby & Stuart In Anlehnung an das bekannte Spiel Monopoly entwickeln vier Jugendliche unterschiedlicher Nationalität das Computerspiel Globalopoly, um kurz nach der weltweiten Pandemie vor den gefährlichen Auswirkungen des globalen Kapitalismus und des Klimawandels zu warnen. Als sie merken, dass sie mit ihrem Spiel nichts bewegen können, versuchen sie vom Untergrund aus zu handeln. Bald merken sie, dass sie beobachtet und überwacht werden. Es wird gefährlich und abenteuerlich. Wolfgang Korn erzählt diese Geschichte in Globalopoly. Keiner wird gewinnen so spannend und intelligent, dass die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Korns ersten Jugendroman als Klima-Buchtipp des Monats Februar 2022 empfiehlt: „Gekonnt verbindet der Autor Fakten mit einer spannenden Handlung und glaubwürdigen Figuren. Ein Buch, das zum Nachdenken zwingt!“

Bronsky: Schallplattensommer  © dtv Alina Bronsky erzählt in ihrem neuen Jugendroman Schallplattensommer eine Dreiecksgeschichte von Liebe und Vernachlässigung. Die siebzehnjährige Maserati – ihren ungewöhnlichen Namen verdankt sie ihrer als Sängerin und Begleiterin reicher Männer auftretenden Mutter – lebt in einem einsamen Kaff in Ostdeutschland. Zusammen mit ihrer Großmutter, die erste Anzeichen von Demenz zeigt, betreibt sie eine kleine Gartenwirtschaft. Im Dorf ist sie eine Außenseiterin, „das einzige weibliche Wesen unter 55 im Umkreis von 13 Kilometern“, mit einer starken Abneigung gegen die städtischen Ausflügler*innen. Sie hat weder Internet noch Smartphone, geht nicht mehr zur Schule und lässt außer ihrer Oma niemanden an sich heran. Als eine wohlhabende Familie mit zwei jugendlichen Söhnen in ein altes Herrenhaus zieht, wird Maseratis unabhängiges, aber auch zurückgezogenes Leben gestört. Beide Jungen zeigen Interesse an ihr. Und einer von ihnen kommt ihrem wohlgehüteten Geheimnis bedrohlich nah.

Genaue  Beobachtungsgabe und eine knappe Sprache sind Kennzeichen von Bronskys Romanen: „Unsentimental und kitschfrei beschreibt sie die schwierigen Lebensumstände von Maserati, die Suche nach ihrem Platz im Leben und ihren Wunsch, sich vor der Welt zu verstecken. Bronskys Sprache ist auf eine nüchterne Art emotional“, urteilt Katja Eßbach auf NDR Kultur.

viel Leid und ein Funken Hoffnung

Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch © Oetinger Drei Jugendliche am Kriegsende 1945 in Hamburg: Jakob, dessen jüdische Mutter in einem der letzten Transporte nach Theresienstadt deportiert wurde und der – in einem zerbombten Haus versteckt – immer noch nicht weiß, dass der Krieg zu Ende ist. Traute, die Bäckerstochter, deren Freundinnen durch Bomben umkamen oder durch die Wirren des Krieges verschwanden und die einfach nur mit den Jungen auf der Straße Fußball spielen will. Unter ihnen Hermann, der weiter die Uniform der Hitler-Jugend trägt und sich um seinen beinamputierten Vater kümmern muss. Dieser macht ihm und seiner Mutter das Leben schwer. Noch vor kurzem hätten die drei Jugendlichen nichts miteinander zu tun gehabt. Doch dann kreuzen sich ihre Wege für einen kurzen Moment. Und Jakob erkennt, dass auch für Hermann der Krieg weitergeht: „In Hermanns Kopf ist der Krieg noch nicht wirklich vorbei, nicht der Krieg und nicht die Jahre davor, wie sollte diese Welt denn auch so schnell daraus verschwinden! Was so lange Wahrheit war, wird nicht auf einen Schlag Lüge.“

Kirsten Boie erzählt in Heul doch nicht, du lebst ja noch plastisch aus dem Alltag dieser Jugendlichen mit ihren sehr unterschiedlichen Kriegserfahrungen und Traumata. Und sie ergreift nicht Partei. Ihrer Empathie gilt nicht nur dem verfolgten Jakob, sondern allen Figuren: „Auch die Deutschen, die nicht verfolgt worden sind, haben am Ende des Krieges furchtbar gelitten“, äußert sich Boie gegenüber dem NDR. Und trotz allem Leid gibt es am Ende einen Funken Hoffnung.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch
Hamburg: Oetinger 2022. 192 S.
ISBN: 978-3-7512-0163-6
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Alina Bronsky: Schallplattensommer 
München: dtv, 2022. 192 S.
ISBN: 978-3-423-76370-7
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Diesen Titel können Sie auch in unserer Bibliothek ausleihen

Sarah Jäger: Die Nacht so groß wie wir
Hamburg: Rowohlt, 2021. 192 S.
ISBN: 978-3-499-00574-9

Wolfgang Korn: Globalopoly. Keiner wird gewinnen
Berlin: Jacoby & Stuart 2021. 382 S.
ISBN: 978-3-96428-116-6

Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir
München: Hanser 2022. 256 S.
ISBN: 978-3-446-27236-1
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