Noch tun sich manche Schulen in Deutschland schwer damit, Flüchtlinge zu integrieren. Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani erläutert im Interview, woran das liegt – und was verbessert werden kann.
Herr El-Mafaalani, welche Schulnote würden Sie dem deutschen Schulsystem derzeit für die Integration von Migranten geben?
Bei Migranten, die rechtlich gute Rahmenbedingungen haben, würde ich dem Schulsystem eine 3+ geben.
Und welche Note für die Integration von Flüchtlingen?
Da muss man unterscheiden. Bei den Gruppen mit guter Bleibeperspektive würde ich auch eine 3 geben, bei denen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern eine Note zwischen 4 und 5.
Warum so schlecht?
Oft wird bei diesen Kindern und Jugendlichen nicht kontrolliert, ob sie wirklich zur Schule gehen. Und wenn sie wissen, dass sie Deutschland wieder verlassen müssen, kann das Interesse an der Schule sinken. Bei der Kriminalität ist das ähnlich: Menschen mit geringer Bleibeperspektive werden überdurchschnittlich oft straffällig, weil sie wissen, dass sie nicht wirklich etwas zu verlieren haben. Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive werden dagegen unterdurchschnittlich oft kriminell.
Und wie steht es um die Integration Minderjähriger mit guter Bleibeperspektive?
Dazu gibt es in Deutschland inzwischen viele Ideen und Konzepte. Sobald junge Flüchtlinge an eine Kommune übergeben werden, sind sie ab einem Alter von sechs Jahren schulpflichtig. Muss das Kind zuerst in eine Förderklasse oder darf es gleich in die Regelklasse? Braucht es psychologische Betreuung? Wie steht es um die Sprachkenntnisse? Das sind nur einige der Fragen, die gestellt werden. Das war noch vor einigen Jahren keineswegs der Fall. Und das Ergebnis ist deutlich: Viele junge Flüchtlinge, die erst seit zwei Jahren hier sind, sprechen inzwischen besser Deutsch als manche Migranten, die schon seit Jahrzehnten hier leben.
Sind die Schulen und das Lehrpersonal gut vorbereitet?
Das hängt auch davon ab, wo sich die Schule befindet. Es gibt kein umfassendes Rahmenkonzept für jede Schule. Schulen in Ballungsräumen und Großstädten haben meist – aber auch nicht immer – mehr Erfahrungen mit nichtdeutschen Schülerinnen und Schülern. Auf dem Land wird dagegen manchmal etwas hilflos herumexperimentiert. Die Lehrer haben dort zum Teil wenig Erfahrung mit Kindern, die kein Deutsch sprechen. Darum muss die Politik Kommunen mit weniger Erfahrung besonders fördern. Auf dem Land gibt es einfach weniger Strukturen. Oft mangelt es zum Beispiel an Beratungen, Volkshochschulen, Vereinen.
Fänden Sie es also sinnvoll, Flüchtlinge nur in Großstädten und Ballungsräumen unterzubringen?
Na ja, es läuft auch in manchen Großstädten schlecht und in manchen ländlichen Gemeinden gut. Das hängt wirklich vor allem von den konkreten Erfahrungen mit Migration ab. Darum wäre es gut, Kooperationen zwischen unterschiedlichen Kommunen zu schaffen, die sich dann austauschen und unterstützten können.
Wie werden Lehrer und Schulpersonal geschult?
Es gibt inzwischen unheimlich viele Lehrerfortbildungen von den Gewerkschaften der pädagogischen Berufe. Teilweise mangelt es an Fortbildern. Und natürlich dauert das alles, weil Deutschland mit der Integration von Flüchtlingen in das Schulsystem recht unkoordiniert startete. Man muss aber bedenken: Als zum Beispiel in den 1980er-Jahren viele Libanesen nach Deutschland kamen, gab es für sie keine Schulpflicht und nur selten eine Sprachförderung. Früher wurden Kinder, die kein Deutsch sprachen, häufig direkt an eine Sonderschule überwiesen. Die Integration verlief entsprechend schlecht. Dass es heute anders ist, trägt Früchte. Die Lehrer berichten, dass Flüchtlingskinder sehr motiviert sind. Wenn das Lehrpersonal überfordert ist, dann nicht speziell mit diesen Schülerinnen und Schülern, sondern vielmehr wegen der vielen Neuerungen, die durch immer neue Reformen der Lehrpläne und Bildungskonzepte sowie auch durch Inklusion behinderter Schülerinnen und Schüler zustande kommen.
In einigen Herkunftsländern ist die Lage schon so lange prekär, dass manche Geflüchtete kaum noch Schulbildung oder eine höhere Bildung erhalten haben. Ist das deutsche Schulsystem flexibel genug, um auch diese Menschen aufzunehmen?
Es gibt momentan noch kein gezieltes Konzept dafür. Aber in den Ganztagsschulen, die es inzwischen flächendeckend in allen Bundesländern gibt, können Sozialarbeiter, Schulpsychologen und Sonderpädagogen den Schülerinnen und Schülern umfassender helfen als früher. Mich hat die Geschichte eines 13-Jährigen sehr beeindruckt, der mehrere Jahre keine Schule besucht hat. Mit seinem Schulwissen hätte man ihn eigentlich in die zweite oder dritte Klasse stecken müssen. Das Kind wurde schließlich in die siebte Klasse eingeschult, lernt weiter Deutsch und bekommt zur Erleichterung seine Muttersprache Arabisch als zweite Fremdsprache anerkannt. Die Pädagogen versuchen heute, jedes Kind individuell zu betrachten und überlegen sich gut, ob eine Förderschule wirklich nötig ist. Flüchtlingskinder sollen so schnell wie möglich in die Schule gehen, und auch möglichst rasch in eine Regelklasse.
Hat Integration nicht auch damit zu tun, ob Eltern junger Flüchtlinge mit deutschen Eltern privat in Kontakt stehen und wie der Umgang aller Schüler untereinander ist?
Bereiche außerhalb des Unterrichts spielen natürlich eine Rolle. Mittlerweile kommt fast jeder Flüchtling irgendwann in Kontakt mit ehrenamtlichen Helfern – und der Kontakt ist eng und gut. Darum ist meiner Meinung nach der Kontakt zwischen den Eltern gar nicht so wichtig.
Ein besonderer Fall sind traumatisierte und verängstigte Kinder. Wie wird mit ihnen umgegangen?
Wenn ein junger Flüchtling traumatisiert ist, wird das in der Regel schon vor dem ersten Schultag erkannt. In der Schule gibt es den schulpsychologischen Dienst, aber es gibt nur selten Therapiebedarf. Meist reicht schon ein funktionierender Alltag: ein strukturierter Tagesablauf, zwischenmenschliche Kontakte und die Möglichkeit, Anerkennung zu erfahren. Die Lehrer führen oft alle möglichen problematischen Verhaltensweisen bei Kindern auf eine Traumatisierung zurück – vielleicht auch, weil sie überfordert sind. Traumatisierung ist oft ein Vorurteil. Die größere Belastung für Flüchtlinge ist in vielen Fällen das lange Warten auf ein halbwegs normales Leben.
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani lehrt und forscht an der Fachhochschule Münster zu den Themen Migration, Integration, Bildung und Jugend. Er ist unter anderem Mitglied des Rats für Migration, ein bundesweiter Zusammenschluss von mehr als 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Der Rat sieht seine zentrale Aufgabe darin, die Politik in Fragen von Migration und Integration kritisch zu begleiten.