Underground Kino
Das Quebecer Kino zur Zeit des Undergrounds
Im Film À soir on fait peur au monde (Heute Abend erschrecken wir alle Welt) von François Brault und Jean Dansereau wird die seit seiner ersten Frankreich-Tournee unsterbliche Ikone der Gegenkultur, Robert Charlebois, von einem Journalisten befragt. Auf die Frage „Was ist der Underground?“ – ein Wort, das er den Interviewer wiederholen lässt und dabei seinen Akzent nachahmt – antwortet er, dass man darüber nicht zu viel sprechen sollte, damit der Underground bleibt, was er ist. An dieser Idee ist etwas Wahres dran: wenn zu viel über den Underground gesprochen wird, verliert er an Reiz.
Im günstigsten Fall wirkt die Anerkennung seiner Künstler wie ein Schaufenster des Undergrounds, so wie einige Werke Warhols, der unbekannte Künstler aufnahm, die daraufhin oft in seiner Factory verkehrten. Doch manche Künstler sind trotz ihrer Berühmtheit in diesem Schaufenster nicht zu entdecken. Zu diesen Künstlern gehört Jonas Mekas, eine Persönlichkeit des amerikanischen Experimentalfilms, dessen Filme durch ihre Machart und ihren Anspruch zum Underground zählen: Walden, sein berühmtes Meisterwerk, eine Mischung aus Tagebuch und Bericht über die mondäne Gesellschaft, wurde nicht besonders häufig gesehen.
Es handelt sich um eine Frage der Herangehensweise, des Stils. Eine distanzierte Auslegung dieser Gegenströmung gelingt in Quebec mühelos durch die amerikanischen Einflüsse, die hier zusätzlich zu der Verbindung zu Frankreich wirken. Während sich der Quebecer Underground in der Mitte der 60er-Jahre nur schlecht mit eindeutigen Begriffen beschreiben lässt (die staatliche Filmbehörde Kanadas stellt dabei ein Labor für die Entstehung innovativer, abgefahrener Filme dar), so entsteht in Frankreich zur selben Zeit mit einem Quebecer Filmemacher, der seit seiner Jugend in Paris lebte, auch eine Undergroundszene. Seine ästhetische Herangehensweise, ähnlich deren Mekas, unterliegt nordamerikanischen Praktiken, genauer gesagt der Factory.
Étienne O’Leary kehrte nach der Fertigstellung seiner Filme nach Quebec zurück, woraufhin die Filme in Montreal aufbewahrt wurden. Die Wiederentdeckung seiner Werke zeigt die Geopolitik eines Undergroundkinos zwischen zwei Welten auf, Frankreich und den Vereinigten Staaten. Seine Filme zeugen von einer Aneignung von Material (Film) und Geräten (Kamera), bei deren Gebrauch Intimität und formelle Experimente, ähnlich dem Noise, vermischt werden. Laut dem Memoirenschreiber des französischen Undergrounds, Jean-Pierre Bouyxou, wird O’Leary dazu beitragen, eine Gemeinschaft von Pariser Filmemachern und Plastikern zu erfinden, die in der Gegenkultur, dem Underground, bewandert sind und dadurch Happenings herbeizuführen, während welcher Un chant d’amour (Ein Liebeslied) von Genet oder Maya Derens Werke die totemistischen Filme bilden und die Wiederverwertung der Popkultur deutlich wird.
Die Pop-Art, welche den Gebrauch einer der breiten Masse geläufigen Apparatur und Technik legitimiert, sollte den Experimentalfilm, ebenso wie die Amateurproduktionen, im Rahmen einer Popularisierung der Filmpraktiken, wie im Fall des Familienfilms, vor öffentlicher Aufmerksamkeit bewahren. Wir befinden uns nämlich in einer Epoche, in welcher das Quebecer Kino bestrebt ist, Bestätigung zu erhalten und dies geschieht durch die Erschaffung einer neuen Industrie. Das Streben nach Legitimierung ruft bei den Filmemachern, die ein bestimmtes Handwerk begonnen haben, einen Drang nach beruflicher Anerkennung hervor. Mit dem Durchbruch des Videos sollte sich ab den 70er-Jahren auch die Experimentalszene Schritt für Schritt um Gruppen und Kunstzentren herum organisieren (Main Film, Prim, Vidéo Femmes, Vidéographe… um nur einige zu nennen).
© Diane Dupuis
Die Praxis des Undergrounds
Über die Geopolitik und die Einführung in den Underground hinaus, bringen Nachforschungen Filme ans Licht, die in ihrer Entstehungszeit niemals gezeigt wurden. Die Popularisierung der Praktiken mit kleinen Kameras begünstigt heutzutage die Wertschätzung von Künstlern, deren vertrauliche Werke nie gesehen wurden.Der Underground kann als allen vorangestellte Praxis angesehen werden (daher rührt die Anbindung an die Veranstaltung, das Happening), die sich nicht um Fortbestand sorgt. Die Anerkennung der Künstler selbst ist nicht nötig, um vom Geist der Zeit zu zeugen und auf diesen zu reagieren und in dieser Eigenschaft gilt die Entdeckung der Filme der Jungfilmerin Diane Dupuis als emblematisch. Nichts ist wertvoller als ein vertraulich gedrehter Undergroundfilm, um den Geist einer längst vergangen Zeit zu begreifen.
Die Filmemacherin Diane Dupuis hat Mitte der 60er-Jahre fünf Filme gedreht, die keiner gesehen hatte, bis der Kulturhistoriker Eric Fillion von ihnen erfuhr. Er musste Diane Dupuis treffen, um ihre Aussage über das Abenteuer des freien Jazzquartetts von Quebec, das sie aus der Nähe verfolgte (und welches, nebenbei bemerkt, Robert Charlebois begleitete) aufzuzeichnen. In ihrer Jugend drehte Dupuis Filme, die man weniger als dem Underground zugehörig, sondern mehr als erste Versuche bezeichnen könnte, würden sie nicht den Zeitgeist und eine Machtergreifung der Quebecer Jugend zur Kenntnis nehmen, die teilweise eingebildet und dadurch an die künstlerischen, visionären Glanzleistungen genau dieser Jugend gebunden ist.
Von den drei Filmen von Dupuis, welche die Zeit bis zur Überwindung ihrer unterirdischen Existenz überlebt haben, veranschaulichen zwei besonders gut, was ich beschreibe: Veulent (Wollen) und Les amazones (Die Amazonen), die Dupuis 1966 im Alter von nicht einmal 17 Jahren drehte. Veulent bleibt unvollendet, doch es ist der Aspekt des Entwurfs, der interessiert: auf einer kleinen Insel nahe Montreal zeigt der Film das verliebte Aufeinandertreffen zweier Mädchen und eines Jungen (im selben Alter wie die Regisseurin) in einer perspektivischen Darstellung von Gefühlen, in welcher die Situationen durch die Bewegungen der Personen, durch Mimik und Gestik (Schreie, freudiges Lachen, Verwirrung, Flucht, Versöhnung) zum Ausdruck gebracht werden. Die Insel verwandelt sich in eine Bühne, auf welcher die Verwirrung der Gefühle mit einem durch die Fotogenität der Gesamtheit geleiteten Energieaufwand geäußert wird. Wie auch ein Großteil der Experimentalfilme, die mit den Mitteln von Hobbyfilmemachern produziert werden, benutzt Diane Dupuis eine Super 8-Filmkamera.
©Diane Dupuis Der zweite Film ist am ehesten dazu geeignet, von seiner Zeit zu zeugen. Les amazones ähnelt einem Amateur-Ferienfilm, der von einer klugen Frau mit Rhythmusgefühl und guten Fähigkeiten im Filmschnitt entworfen wurde. Bereits bei der ersten Kameraeinstellung erkennt man aus einer Entfernung Mädchen, die im Urlaub sind und in einem Fluss baden: neoklassizistische Musik begleitet die Aufnahmen und die Kamera weist aus einer entfernten Perspektive auf diesen naturverbundenen Moment hin. Der erste Teil zeigt diese Gemeinschaft, bevor sich ein Happening ereignet. Im Ferienhaus, in dem sich die Gruppe aufhält, malen manche naive Sittenbilder an die Wände, während andere sich dem Bodypainting hingeben. Einige Jungs mischen sich als Neuankömmlinge unter die Gruppe und nehmen an mehreren Tänzen teil.
Könnte dies der erste psychedelische Film aus Quebec sein? Vielleicht. Der Begriff ging zum Erscheinungszeitpunkt des Films in die Allgemeinbildung ein, doch es ist, als ob eine junge, anonyme Frau ihn bereits zuvor erträumte. Die Recherche in den Filmarchiven ermöglicht manchmal, geheime Träume wieder einzufangen, die nichts anderes wollten, als sich in Luft aufzulösen. Guillaume Lafleur ist Programmplaner und Verwalter der Cinémathèque québécoise. 2015 veröffentlichte er Pratiques minoritaires, fragments d’une histoire méconnue du cinéma québécois 1937-1973 (Praktiken der Minderheit, Auszüge einer verkannten Geschichte des Quebecer Kinos 1937-1973) bei Varia.